Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers – Stefan Zweig

AutorStefan Zweig
VerlagFISCHER Taschenbuch
Datum1. April 1085
AusgabeTaschenbuch
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3596211524

„Nie habe ich unsere alte Erde mehr geliebt, als in diesen letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, nie mehr auf Europas Einigung gehofft, nie mehr an seine Zukunft geglaubt als in dieser Zeit, da wir meinten, eine neue Morgenröte zu erblicken. Aber es war in Wahrheit schon der Feuerschein des nahenden Weltbrands.“ (Zitat Seite 223)

Inhalt

Dieses Buch entstand in den Jahren 1939 bis 1941, als Stefan Zweig bereits im Exil lebte, und es erschien erst nach seinem Tod, 1942 im Bermann-Fischer Verlag in Stockholm. Stefan Zweig erinnert sich an seine Kindheit, Jugend, die Zeit als Student in der Sicherheit eines bürgerlichen Elternhauses in der pulsierenden Weltstadt Wien, damals ein kulturelles Zentrum Europas. Sein weiteres Leben ist geprägt von den Umbrüchen durch den ersten Weltkrieg und die Zeit danach. Schon früh erkennt er die drohende Gefahr durch die Nationalsozialisten für ganz Europa, während die deutschen Intellektuellen Adolf Hitler noch als Bierstubenagitator belächeln.

Thema und Genre

Stefan Zweigs Erinnerungen an die Welt von gestern sind eine ausdrucksvolle, literarische Zeitreise des österreichischen Schriftstellers, der gleichzeitig ein überzeugter Europäer und Weltbürger ist. Dieses Buch ist mehr als ein autobiografisches Werk, es ist ein beeindruckendes, bis heute lebendiges Zeitbild einer Generation.

Erzählform und Sprache

Im Mittelpunkt dieser Erinnerungen stehen nicht die persönlichen Ereignisse im Leben von Stefan Zweig, diese bilden nur den Rahmen, oder auch den roten Faden. Genau genommen ist dieses Buch die Biografie Österreichs, Wiens, Europas vom Ende des 19. Jahrhunderts an bis zum Jahr 1939. Erzählt in der bekannt treffenden, klaren Sprache des Schriftstellers, entfaltet sich vor uns Lesern keine weitere historische Abhandlung, kein Sachbuch oder Geschichtswerk, sondern hier beschreibt jemand, der diese Zeit mit allen Sinnen selbst erlebt hat, mit allen begeisternden Höhen und die tiefsten Tiefen. Seine aufmerksamen Beobachtungen, seine Eindrücke, die lebhafte Schilderung des kulturellen, des gesellschaftlichen Lebens, aber auch der politischen Strömungen und des Alltagslebens der unterschiedlichen Bevölkerungsschichten, verbindet Stefan Zweig mit seinen eigenen Gedankenströmen, Überlegungen und Gefühlen, mit Freude, Hoffnung und tiefer Verzweiflung. „Nein, am Tage, da ich meinen Paß verlor, entdeckte ich mit achtundfünzig Jahren, daß man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.“ (Zitat Seite 466)

Fazit

Dieses Buch des österreichischen Schriftstellers, der in seiner Zeit einer der bekanntesten, meistgelesenen deutschsprachigen Schriftsteller war, holt diese für Europa prägende Zeit, die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in die heutige Zeit. Es hilft uns Lesern, die Zusammenhänge besser zu verstehen und ist zeitlos aktuell und ebenso zeitlos lesenswert.

Über nichts schreiben, als was meine Augen sehen – Aurelia Wyleżyńska

AutorAurelia Wyleżyńska
Verlag Ch. Links Verlag
HerausgeberBernhard Hartmann
Erscheinungsdatum 15. Oktober 2024
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
ÜbersetzerBernhard Hartmann
SpracheDeutsch
ISBN-13 978-3962892258

„Erst schien es mir meine Aufgabe zu sein, Material zu sammeln, um ein Zeugnis der Zeit, der traurigen Wahrheit zu schaffen, dann suchte ich im Schreiben Halt, inzwischen ist es mir zur Gewohnheit geworden.“ (Zitat Pos. 1160)

Thema und Inhalt

Die polnische Schriftstellerin und Journalistin fühlt sich verpflichtet, diese Tagebuch-Aufzeichnungen als Chronistin des Besetzungsalltags in Warschau zu führen.

Als die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939  Polen überfällt, macht Aurelia Wyleżyńska gerade Urlaub in der malerischen Landschaft am Fluss Dnister, nahe der rumänischen Grenze, weit weg von der Hauptstadt. Doch während die Menschen aus dem besetzten Warschau fliehen, entscheidet sie sich für das Gegenteil. Sie kehrt am 3. September 1939 bewusst in ihre Warschauer Wohnung zurück und beginnt, Tagebuch über ihre täglichen Eindrücke in der besetzten Stadt zu führen. Wiederholt besucht sie nun auch wieder das Landgut der Familie in Wielgolas, genießt die Ruhe, um zu schreiben, sich zu erholen. Die Aufzeichnungen in der vorliegenden deutschsprachigen Ausgabe beginnen am 10. August 1939 und enden mit einem letzten Eintrag am 29. Juni 1944. Aurelia Wyleżyńska erlebt die Vorbereitungen zum Warschauer Aufstand noch mit und stirbt am 3. August 1944 an einer Schussverletzung.

Umsetzung

Aurelia Wyleżyńska berichtet von ihren täglichen Spaziergängen und Streifzügen durch Warschau, erlebt die Entstehung des Warschauer Ghettos mit, die Verfolgung und Deportationen. Sie hilft, furchtlos, unermüdlich und wo sie kann, bleibt Anlaufstelle für alle, die Hilfe benötigen, stellt aber die wachsende Angst im Bekanntenkreis fest, wenn es darum geht, zu helfen und Menschen zu verstecken. Sie schreibt über ihre Erfahrungen und Eindrücke, beobachtet auch, wie sich die nicht-jüdische polnische Bevölkerung mit den Monaten verändert, den polnischen Antisemitismus, Denunziantentum und die gegenseitige Hetze. Immer wieder fragt sie sich, wie dieses Polen aussehen wird, wenn der Krieg zu Ende ist. Für Ereignisse, von denen sie gehört oder gelesen, die sie jedoch nicht selbst erlebt hat, verwendet sie bewusst so viele unterschiedliche Quellen wie möglich und spricht mit verschiedenen Personen.

Aurelia Wyleżyńska führt ihre Notizen und Aufzeichnungen handschriftlich und zunächst ungeordnet, um sie für mögliche spätere Artikel festzuhalten. Auch wenn ein Teil der Texte bereits mit der Schreibmaschine abgetippt wurde, hat sie eine Fülle von handschriftlichen Notizen und Artikeln hinterlassen, teilweise unleserlich. Die Aufzeichnungen mussten zunächst in mühevoller Kleinarbeit gesichtet, geordnet und, soweit möglich, in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden. Die vorliegende, gekürzte Ausgabe ist eine Übersetzung auf Basis der 2022 erschienenen zweibändigen polnischen Ausgabe.

Fazit

Ein auf Grund der Authentizität der Berichte und Erfahrungen, der Einfühlsamkeit, der genauen Beobachtungsgabe und auch der sprachlichen Ausdruckskraft der Schriftstellerin und Reporterin Aurelia Wyleżyńska ein beeindruckendes, packendes Zeitdokument.

Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre – Monika Zeiner

AutorMonika Zeiner
Verlagdtv Verlagsgesellschaft
Datum12. September 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten672
SpracheDeutsch
ISBN-13ISBN-13: 978-3423284240

„Ich war lange Zeit nicht mehr in der Villa Sternbald gewesen, aber ich hatte sie mir oft vergegenwärtigt, als müsste mir die Erinnerung etwas zeigen, das bisher verborgen gewesen ist.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt

Seit Generationen stellt das Familienunternehmen Finck Schulmöbel her. Gegründet von Ferdinand „Ferry“ Heinrich Finck, ging es auf seinen Sohn Johann „Jean“ Finck über, obwohl dieser viel lieber Insektenforscher geworden wäre. Jeans Sohn Heinrich „Henry“ jedoch ist der geborene Unternehmer. Die Beziehungen der jeweiligen Söhne zu ihren Vätern ist in dieser Familie immer problematisch, es sind die Großväter, die sich um die Enkel kümmern. Daher entscheidet sich der schon als Junge phantasievolle Drehbuchautor Nikolas Finck, der vor vielen Jahren den Familiensitz, die Villa Sternbald, verlassen und seither nicht mehr betreten hat, nun doch an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren, zum 103. Geburtstag seines Großvaters Henry. Obwohl es das Verhalten und die Entscheidungen seines Großvaters waren, die dazu geführt hatten, dass es zum Bruch kam, als Nikolas ein Jugendlicher war, der viele Fragen stellte, Fragen, die nicht oder ausweichend beantwortet wurden. Konkret ging es um die Übernahme des Unternehmens der Familie Stein, das ebenfalls Schulmöbel herstellte, im Jahr 1935. Aus den geplanten Tagen werden Wochen und Monate, in denen Nikolas in die Vergangenheit der Familie, in die Familiengeheimnisse und in seine eigenen Erinnerungen eintaucht. „Ist es, dachte ich, das Gedächtnis, das die Sanduhr umdreht und die Zeit immer wieder verrieseln lässt?“ (Zitat Seite 53)

Thema und Genre

In diesem deutschen Generationen- und Familienroman, geht es um Familiengefüge, Familiengeheimnisse, Halbwahrheiten, Erinnerungen, Kindheit, Erziehung, Gesellschaftsnormen, Philosophie, Religion, Konflikte und Gefühle – und Insekten in vielen Varianten. Ein wichtiges Kernthema ist das Verhalten der Familie während der Jahre des Nationalsozialismus.

Erzählform und Sprache

Monika Zeiner passt die gewählte Erzählform dieses Romans, der aus aneinandergereihten Episoden besteht, den Personen an, Nikolas Finck, die Hauptfigur, ist der Ich-Erzähler in der aktuellen Zeit. Die Geschichte seines Großvaters, Urgroßvaters, Ururgroßvaters wird in der personalen Form geschildert, mit jeweils einer der Figuren im Mittelpunkt. Die Rahmenhandlung, der Besuch von Nikolas in seinem Elternhaus, verläuft chronologisch, wird jedoch von eigenen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, und von den zahlreichen Episoden aus dem Leben seiner Vorfahren unterbrochen. Die Erzählform ordnet die Handlung den Figuren und Anliegen unter, schildert nicht so sehr die Ereignisse, sondern vielmehr die Hintergründe, Konflikte und Befindlichkeiten der einzelnen Figuren, wodurch sich neben Dialogen, die nicht unbedingt mit einem realen Gegenüber geführt werden, es kann auch Gisberta, eine tote Feuerwanze sein, viele innere Monologe und Gedankenströme ergeben. Die Kernthemen der Autorin, Familiengefüge, Väter und Söhne, fehlende Mütter, Literaturverweise, Philosophische Abhandlungen, Religion, Kindheit und Erziehung im Wandel der Zeit, die Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus, ergänzt durch umfassendes Wissen über Insekten, füllen die Seiten. Sprachlich hat mich dieser Roman sehr angesprochen, die gekonnten Sätze, Formulierungen und die brillanten Vergleiche machen Freude beim Lesen.

Fazit

„Von fließender Zeit kann in der Villa Sternbald keine Rede sein. Sie hat es nicht eilig, sie hat sich hier eingerichtet wie die Schnecke in ihrem Haus.“ (Zitat Seite 345)

Diese Aussage beschreibt meiner Meinung nach auch perfekt den vorliegenden Roman, eine Geschichte, die sich breit und behäbig fließend statt packend über sechshundertfünfzig Seiten ergießt. Für mich nicht das richtige Buch, andere Leser begeistert es, wie die positiven Fachbewertungen zeigen.

Transit – Anna Seghers

AutorAnna Seghers
VerlagAufbau Taschenbuch
Datum25. April 2018
AusgabeTaschenbuch
Seiten309
SpracheDeutsch
NachwortSonja Hilzinger
ISBN-13978-3746635019

„Irgendetwas war mir verlorengegangen, so verloren, dass ich nicht einmal mehr genau wusste, was es gewesen war, dass ich es nach und nach nicht einmal mehr richtig vermisste, so gründlich war es verlorengegangen in all dem Durcheinander.“ (Zitat Seite 43)

Inhalt

In diesem Sommer 1940 begegnen sich in Marseille Menschen auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, und da sich ihre Wege gleichen, von Konsulaten zu französischen Behörden und umgekehrt, treffen sie einander immer wieder. Gerüchte über Schiffe, die noch auslaufen, führen zu neuen Hoffnungen, und alle, die davon hören, begeben sich sofort auf den Wettlauf um die benötigten Papiere, um einen der begehrten Plätze zu erhalten. In dieser Menschenmenge trifft der deutsche Ich-Erzähler Seidler immer wieder auf eine junge Frau, die verzweifelt nach jemandem zu suchen scheint. Spontan verliebt er sich in diese Frau, folgt ihren Spuren, bis er durch einen Zufall erfährt, dass sie Marie heißt und ihren Ehemann sucht, den Schriftsteller Weidel, für den auf dem mexikanischen Konsulat bereits ein Visum bereitliegt. Was sie nicht ahnt ist, wie nahe sie durch den deutschen Ich-Erzähler ihrem Mann gekommen ist. Seidler schweigt, verfolgt seine eigenen Pläne, hilft Freunden und Bekannten, während er darüber nachdenkt, was er wirklich will.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Fluchtwege aus der lebensbedrohlichen Umklammerung durch die Nationalsozialisten in Europa, und die beinahe schon geschlossenen Routen nach Übersee. Transit wörtlich als Durchgang, Übergang, Durchreise und metaphorisch für die Entscheidung zwischen Gehen und Bleiben. „Um das zu sehen worauf es ankommt, muss man bleiben wollen. Unmerklich verhüllen sich alle Städte für die, die sie nur zum Durchziehen brauchen.“ (Zitat Seite 289)

Erzählform und Sprache

„Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende.“ (Zitat Seite 6) Der Ich-Erzähler lädt einen Unbekannten zu einem Glas Wein ein und beginnt zu erzählen. Seine Geschichte beginnt mit der Flucht aus einem Arbeitslager in Rouen. Ein unfertiges Manuskript des Schriftstellers Weidel und die damit verbundenen Ereignisse verändern den Ich-Erzähler langsam. Je mehr er in das Leben des Schriftstellers eintaucht, desto mehr lernt er, zuzuhören und Verantwortung zu übernehmen. Daher umfasst eine Geschichte auch die Schicksale der Menschen, die immer wieder seinen Weg kreuzen. So ergibt sich quasi ein Augenzeugenroman dieser Zeit, denn Anna Seghers ist eine genaue Beobachterin und der Stoff für diesen Roman entstand aus ihren eigenen Erlebnisse und Erfahrungen.

Fazit

Ein zeitlos lesenswerter und ebenso zeitlos aktueller Roman, ein einfühlsames Zeitdokument, in dessen Mittelpunkt Menschen auf der Flucht stehen. Angst, Hoffnung, Mut, Verzweiflung, Freundschaft, Liebe, persönliche Entscheidungen, dies alles ist in dem einen Wort Transit vereint.

Über Palästina – Hannah Arendt

AutorHannah Arendt
Verlag Piper Verlag
Herausgeber, NachwortThomas Meyer
Erscheinungsdatum 27. Juni 2024
FormatGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMike Hiegemann
ISBN-13978-3492073196

„Im Schatten dieses Konflikts wurde die Betrachtung des Flüchtlingsproblems von einer Reihe irrelevanter Streitpunkte und gewissermaßen ablenkender langfristiger Ziele überlagert, deren Diskussion sich in endlosen Komplikationen und gegenseitigen Schuldzuweisungen verlor.“ (Zitat Pos. 582)

Thema und Inhalt

Die beiden Texte aus den Jahren 1944 und 1958 stehen in einem direkten Zusammenhang mit der Situation in Israel und Palästina in den jeweiligen Jahren. Der erste Text ist ein Essay von Hannah Arendt, „Amerikanische Außenpolitik und Palästina“. Dieser Essay wurde von Thomas Meyer erst jetzt in einem Archiv entdeckt.

Der zweite Text ist ein Bericht mit dem Titel  „Das palästinensische Flüchtlingsproblem“. Dieser umfassende Bericht schildert die Situation der aus Israel vertriebenen und geflüchteten Palästinenser und schlägt Lösungsansätze für deren Rückkehr nach Israel vor. Verfasst wurde dieser zweite Text von einem eigens dafür eingerichteten Gremium zum palästinensischen Flüchtlingsproblem, dem Institute für Mediterranean Affairs. Diesem Gremium aus unterschiedlichen Fachleuten gehörte auch Hannah Arendt an, was Thomas Meyer ebenfalls erst jetzt, während seiner Recherchen, herausgefunden hat.

In beiden Texten geht es um die Situation im Nahen Osten, um Israel, Palästina und die Suche nach einer Lösung. Interessant ist vor allem die Herangehensweise des Expertengremiums, denn der Bericht listet nach einer Einleitung sechs nicht relevante Aspekte auf, die nicht geeignet sind, in dieser emotional extrem kritischen Konfliktsituation diskutiert zu werden. Dies sind vor allem die Fragen nach der Schuld, historischen Ansprüchen und die Frage, wer recht hat. Erst dann folgen die Daten, Statistiken, Fakten, eine kritische Beleuchtung der Problematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln und die Lösungsvorschläge.

Gestaltung

Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Thomas Meyer. Es folgt der Essay von Hannah Arendt. Daran schließen Texte und Kurzfassungen einzelner Gremiumsmitglieder an, dann der gesamte Text „Das Palästinensische Flüchtlingsproblem. Ein neuer Ansatz und ein Plan für eine Lösung“, der auch eine Chronologie der Ereignisse zwischen November 1947 und August 1958 enthält. Beide Texte werden durch Fußnoten mit erklärenden Details, vertiefenden Hinweisen und Anmerkungen des Übersetzers ergänzt. Mit von Thomas Meyer verfassten Kurzbiografien der Gremiumsmitglieder und einem ausführlichen Nachwort, ebenfalls von Thomas Meyer, mit ergänzenden Informationen zu Hannah Arendt und zu den beiden Texten, ebenfalls mit Fußnoten und Anmerkungen, endet das Buch.

Fazit

Diese beiden hochinteressanten Texte haben bis heute nichts von ihrer Brisanz und Aktualität verloren. Sie haben die Situation bereits 1944 und 1958 auf den Punkt gebracht und auch die Lösungsvorschläge sind zeitlos. „Doch auch wenn die Publikation vor über 65 Jahren erfolgte, lohnen die Lektüre und die Reflexion über die Ausführungen unbedingt. Es war noch nie klug, das Wissen und die Hoffnungen früherer Generationen zu ignorieren.“ (Zitat Pos. 4048) So formuliert es Thomas Meyer in seinem Nachwort, und besser kann man es nicht formulieren und begründen, warum dieses Buch gelesen werden sollte.

„Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur“ – Uwe Wittstock

AutorUwe Wittstock
Verlag C. H. Beck
Erscheinungsdatum 28. Februar 2024
FormatGebundene Ausgabe
Seiten351
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3406814907

„Nun sind sie zwar privilegierte Besitzer amerikanischer Einreisevisa, doch im Grunde ändert das wenig an ihrer prekären Lage, denn die Franzosen erteilen keine Ausreisevisa.“ (Zitat Seite 248)

Thema und Inhalt

Viele Menschen, die seit 1933 aus Deutschland und vor Hitler geflohen sind, fühlen sich in Frankreich sicher. Dies ändert sich dramatisch, als die Deutschen im Juni 1940 Paris erreichen und am 22. Juni 1940 mit Frankreich einen Waffenstillstand schließen, denn nun sind sie wieder im Visier der Gestapo, auf deren Fahndungslisten ihre Namen weit oben zu finden sind: Schriftsteller, Künstler und linke Intellektuelle. Am 25. Juni 1940 wird in New York das Emergency Rescue Commitee gegründet, um die bedrohten Künstler zu retten, die sich teilweise bereits in Internierungslagern befinden. Eine geeignete Person soll in Marseille heimlich ein Büro des ERC aufbauen. Doch dies alles dauert dem Journalisten Varian Fry, einem der Gründer des ERC, zu lang und er übernimmt die Aufgabe in Marseille persönlich, für drei Wochen, denkt er, doch es werden schließlich fünfzehn Monate. Von ihm und seinen Mitstreitern, von abenteuerlichen Fluchtwegen, Künstlerschicksalen zwischen Hoffnung und Resignation, Erfolg und Scheitern, erzählt dieses Buch.

Umsetzung

Kurze Vorgeschichten im Juli 1935 leiten das Hauptthema, die Zeit zwischen Mai 1940 und Oktober 1941, ein. Ein Kapitel, welches die anschließenden und späteren Ereignisse im Leben der Hauptpersonen schildert, ein kurzes Nachwort, eine ausführliche Literaturangabe und ein Personenregister finden sich am Ende des Buches.

Uwe Wittstock erzählt die Ereignisse chronologisch und parallel, die jeweiligen Kapitel tragen Orts- und Datumsangabe, da sie oft gleichzeitig stattfinden. So beleuchtet er auch das politische Geschehen und fügt so erklärende Details und Wissen in die Handlung ein. Diese Handlung, das Kernstück dieses Buches, folgt Heinrich und Golo Mann, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Walter Benjamin, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Hannah Arendt, den Malern Marc Chagall und Max Ernst. Die eindringlich und lebhaft geschilderten Einzelepisoden ergeben ein facettenreiches, anschauliches Bild dieser Zeit, der Menschen, ihrer Entscheidungen und Schicksale. Dieses Buch ist aus umfangreichen Recherchen entstanden und schildert Ereignisse, die tatsächlich in dieser Form stattgefunden haben.

Fazit

Dieses Sachbuch, eine Dokumentation und eine sehr spannende Geschichte dieses besonderen Jahres 1940 für Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle, hat mich tief beeindruckt. Geschichte, mit bisher kaum bekannten Details und Informationen zeitlos erlebbar gemacht, eine Leseempfehlung aus Überzeugung.

Der Wendepunkt: Ein Lebensbericht – Klaus Mann

AutorKlaus Mann
Verlag Rowohlt Taschenbuch
Erscheinungsdatum Neuausgabe 16. April 2019
FormatTaschenbuch
Seiten896
NachwortFredric Kroll
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3499276491

„Jeder Augenblick, den wir durchleben, verdankt dem vorangegangenen seinen Sinn. Gegenwart und Zukunft würden wesenlos, wenn die Spur des Vergangenen aus unserem Bewußtsein gelöscht wäre.“ (Zitat Seite 25)

Thema, Genre und Inhalt

Ein Lebensbericht, das Tagebuch eines intensiv gelebten Künstlerlebens ist in seiner Gesamtheit noch wesentlich mehr. Diese Autobiografie ist ein eindrückliches, differenzierendes und in seiner Vielseitigkeit umfassendes Bild der Zeit.

Ein kurzer Prolog schildert kurz die Familie Mann und ihr Umfeld bis zu jenem 18. November 1906, an dem Klaus Heinrich Thomas Mann geboren wurde. Ab hier schreibt Klaus Mann chronologisch, beginnend mit der Kindheit, daran anschließend die Zeit des ersten Weltkrieges und die Jahre danach. Wir erleben den Wunsch des jungen Klaus Mann, Schriftsteller zu werden, seine Liebe zur Literatur und zum Theater, seinen ersten Aufenthalt in Paris und die Atmosphäre dieser Stadt, die ihn sofort und für immer anzieht. Klaus Mann ist ein Suchender, der schon früh die gesellschaftspolitischen Entwicklungen, besonders in Deutschland, sehr kritisch und besorgt beobachtet. Diese Sichtweise teilt er mit seiner Schwester Erika und so ist klar, dass sein Lebensweg ins Exil führt. Die nachfolgenden Kapitel sind intensive Zeitdokumente der Situation der Emigranten, besonders der Künstler, die einander in den jeweiligen Städten weiterhin in Künstlerkreisen treffen. Klaus Mann führt der Weg während dieser ersten Jahre der Verbannung aus Deutschland nach Amsterdam, Paris, Nizza, Zürich, dazu kurze Reisen nach Wien und Moskau. Wie auch seine Schwester Erika hält er Vorträge gegen Krieg und Faschismus, zunächst in Europa, dann in Amerika. Das zwölfte und letzte Kapitel „Der Wendepunkt“ umfasst die Jahre 1943 bis 1945 und schildert die Ereignisse dieser Jahre ausschließlich in Briefen von und an Klaus Mann, der die letzten Kriegsjahre als Mitglied der amerikanischen Armee in Italien erlebt.

Neben den Ereignissen und persönlichen Erlebnissen schildert Klaus Mann seine eigenen Gedanken und Eindrücke, seine Hoffnungen, seine Zweifel. „Die Veränderungen, die nach dem Wendepunkt kommen, mögen zunächst nicht  sehr drastisch sein, werden es aber im Lauf der Zeit, immer drastischer, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr: im Guten oder im Bösen. Ich prophezeie, daß wir um 1965 eine Welt haben werden, die sehr viel schlechter sein wird als die heutige – oder entschieden besser.“ (Zitat Seite 695)

Fazit

Diese beeindruckende Autobiografie, auch sprachlich großartig, ist ein intensiver, zeitlos aktueller Blick auf die Geschichte und Menschen dieser Zeit und gleichzeitig ein interessantes Bild der Kunst- und Kulturszene.

Kantika – Elizabeth Graver

AutorElizabeth Graver
Verlagmareverlag
Datum20. Februar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten386
SpracheDeutsch
ÜbersetzungJuliane Zaubitzer
ISBN-13978-3866487109

„Es ist die schöne Zeit, die Zeit der ausgebreiteten Flügel, der Freudensprünge und offenen Türen, das Leben ein haltloser Fluss von hier nach dort. Es ist die vorgedankliche Zeit, die Welt noch nicht als Listen wahrgenommen, nicht als Rückblick oder Futur, sondern als inbrünstige Musik – kantas, singen.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Rebecca wächst in Istanbul behütet und finanziell privilegiert auf, ohne dies wirklich zu bemerken. Bis sich am 14. November 1914 alles ändert. Die Familie wird gezwungen, nach Spanien auszuwandern, wo sie in Barcelona einen Neubeginn versuchen. Bisher Inhaber eines Textilunternehmens ist Alberto, Rebeccas Vater und das Familienoberhaupt nun Hausmeister der kleinen Synagoge. Rebecca ist bereits vierundzwanzig Jahre alt, als sie endlich den größten Wunsch ihrer Eltern erfüllt, sie heiratet. Bald darauf ist sie eine junge Witwe mit zwei Kindern. Auch die zweite Ehe wird von der Familie arrangiert und führt sie nach New York. Die Zeiten sind für Juden gefährlich geworden und diese Heirat ist die Hoffnung für die Familie auf eine Einreise in die sicheren Vereinigten Staaten.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um Kulturen, Religionen, Heimat und den Verlust der Heimat, Vertreibung, Familiengefüge, Frauenleben.

Erzählform und Sprache

Da dieser Roman fiktiv-biografisch ist und die Familiengeschichte der Autorin betrifft, gibt er wesentliche, interessante Einblicke in das Leben der jüdischen Familien in dieser Zeit. Im personalen Mittelpunkt der Geschichte steht Rebecca, der Großmutter der Autorin. Geschildert wird ihr wechselvolles Leben mit schicksalhaften Wendungen und großen Veränderungen. Sie ist beeindruckend, einerseits ist sie eine selbstbewusste Frau, die eigenständig für sich und ihre Kinder sorgt, andererseits wird sie durch den Vater als Oberhaupt der Familie zwei Mal in reine Zweckehen getrieben. Interessant werden die späteren Kapitel, wo der personale Mittelpunkt wechselt und Luna, die Tochter von Sam, Rebeccas zweitem Ehemann, Rebecca aus ihrer Sicht schildert. Es sind die Menschen, die im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen. Interessant sind die Schilderungen, die Geschichten und dieses leichte Wechseln zwischen den Religionen Judentum und Christentum am Beispiel von Rebecca in Konstantinopel. Leider rückt mit Barcelona die Situation der Familie immer mehr in den Vordergrund und wir erfahren  wenig über die allgemeine, gesellschaftspolitische Situation in Barcelona und noch weniger über das Leben in der lebhaften, interessanten Stadt New York der 1930er Jahre. Die Sprache ist angenehm zu lesen und passt zu diesem epischen Generationenroman

Fazit

In Generationenroman über Heimat und Verlust der Heimat, über Hoffnung und Neubeginn in fremden Ländern, anderen Kulturräumen und neuen Sprachen. Obwohl in den Traditionen im Familiengefüge die Männer, Väter und Ehemänner, die Entscheidungen treffen und bestimmen, was geschieht, sind es in dieser Geschichte die Frauen, jede auf ihre Art stark und mutig, die sich den immer wieder neuen Herausforderungen des Lebens stellen.

Kazimira – Svenja Leiber

AutorSvenja Leiber
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 16. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518430064

„Kazimira hat das Gefühl, als verknote sie sich selbst zunehmend. Ein Knäuel, in dem irgendwo ein viel zu wildes verfangenes Herz rast.“ (Zitat Seite 72)

Inhalt

Auch an diesem Samstag im Herbst 2012 geht Nadja Semjonowa auf dem Weg oberhalb des Tagebaus zur Arbeit, an der Hand ihre kleine Tochter Ika. Dort steht noch der Seilbagger, an dem Nadja vor Jahren gearbeitet hat, sie wäre gerne bei dieser Arbeit geblieben, doch das Bernsteinkombinat von Jantarny ist insolvent und Nadja muss nun im Geschäft Schmuck verkaufen. Manchmal, wenn sie an der Annagrube vorbeigeht, hört sie eine Art Raunen, ein Raunen aus der Vergangenheit, über das sie nie etwas wissen wollte.

Auch Kazimira „Kaz“ Morautene wollte lieber wie die Männer in der Grube arbeiten, statt mit ihrem Sohn Ake zu Hause zu bleiben und den Haushalt zu führen. Doch Ende des 19. Jahrhunderts war daran nicht zu denken. Dennoch, es sind der Bernstein und die Annagrube, die das Schicksal der Menschen dort an der Nehrung und in Königsberg bestimmen.

Thema und Genre

Den historischen Hintergrund dieses Generationenromans bildet die wechselvolle Geschichte dieses Landstriches an der Ostseeküste im ehemaligen Ostpreußen, zwischen Memel und Königsberg, heute Klaipėda, Litauen und Kaliningrad, Russland. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen der Bernsteinabbau und die politischen Umbrüche zweier Weltkriege, deren Gewalt und Grausamkeit die auch vor den Menschen in diesen entlegenen Orten nicht Halt machen und besonders die Mädchen und Frauen treffen.

Charaktere

Kazimira, eigenständig, unangepasst und auf Grund ihrer Neigungen eine Außenseiterin, ist die erste von insgesamt fünf Generationen von Frauen und Mädchen, alle auf der Suche nach ihrem eigenen Weg. Jede ist auf ihre Art unbeugsam und besonders, passt nicht in die engen Normen ihrer Zeit, oder will sich diesen Normen nicht widerspruchslos unterordnen.

Handlung und Schreibstil

Der Zeitrahmen der Handlung ist in zwei Hauptteile gegliedert, der erste Teil endet mit dem Ende des ersten Weltkrieges, der zweite Teil beginnt 1930 und berichtet über die Jahre bis bis zum Ende des zweiten Weltkrieges. Ein zweiter Handlungsstrang spielt in der aktuellen Zeit im Jahr 2012 und daraus bildet sich ein Bogen, der aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart führt. Die Erzählstränge wechseln einander ab, wobei die einzelnen Kapitel sehr übersichtlich als Überschrift jeweils den betreffenden Ort und die Jahreszahl tragen. Es ist auch die wunderbare Erzählsprache der Autorin, die leise, aber tief, in das Leben und in die Gefühlswelt ihrer Figuren eindringt, die mich schon in den ersten Seiten in den Bann dieser Geschichte gezogen hat.

Fazit

Es ist ein eindrücklicher, atmosphärisch dichter Roman, erzählt in einer einprägsamen Sprache, die sich mit ihren Bildern und einfühlsamen Schilderungen beim Lesen sofort in die Gedanken gräbt und unsere Gedanken noch lange beschäftigt.

Windland: Vom Aufstieg und Niedergang einer Familie auf Rügen – Uta Ruge

AutorUta Ruge
Verlag Kindler Verlag
Erscheinungsdatum 10. September 2003
FormatGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3463404455

„Windland: Vom Aufstieg und Niedergang einer Familie auf Rügen“ von Uta Ruge, Kindler Verlag, 10. September 2003, Gebundene Ausgabe: 224 Seiten, Sprache: Deutsch, ISBN-13: 978-3463404455

Inhalt

Die Journalistin und Autorin Uta Ruge ist in Wiek auf der Insel Rügen geboren, doch sie ist erst einen Monat alt, als ihre Eltern, auf dem Arm Utas zwei Jahre alte Schwester, im März des Jahres 1953 die Insel verlassen, heimlich und als Flüchtlinge in den Westen. Sie wächst in Niedersachsen auf, in einem kleinen Dorf nahe der Mündung der Elbe. Die Geschichte ihrer Familie kennt sie nur aus Erzählungen, Geschichten über einzelne Ereignisse, oft und gern geschilderten Anekdoten. Nach dem Fall der Mauer bereist die Journalistin Osteuropa und begibt sich auf Wittow, der auch Windland genannten Halbinsel im Norden der Insel Rügen auf Spurensuche.

Thema und Genre

Dieses Buch ist eine erzählte Biografie. Einerseits geht es um die Geschichte der weit verzweigten Familie der Vorfahren der Autoren, andererseits sucht sie nach Hinweisen auf das kaum bekannte Schicksal von jüdischen Familien auf Rügen.

Umsetzung

Die Autorin trifft sich mit ihrem Vater und dessen Schwester, ihrer Tante, und sie reisen gemeinsam auf die Insel Rügen. Die beiden erzählen, sie will zuhören, denn sie will mehr wissen, will die Zusammenhänge verstehen, über die bisher geschwiegen wurde. Es ist die Geschichte einer Bauernfamilie, die sich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts freigekauft hatte und einen Hof in Breege, „Ausbau“ genannt, bewirtschaftet. Bis sie 1945 enteignet werden, denn beide Großväter, Otto Staker und Waldemar Ruge waren, wie viele andere auch, schon früh der NSDAP beigetreten, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Auch nach der Wende wurde der Anspruch ihres Vaters auf den elterlichen Hof, den „Ausbau“ bei Breege, nicht anerkannt.

Fazit

Uta Ruge recherchiert, durchforscht Archive, fragt und hört zu und verbindet die Erzählungen über ihre Familie mit den Geschichten von jüdischen Familien auf Rügen. Dieses Buch wird nicht mehr aufgelegt, doch das Lesen lohnt sich, wenn man es in einer Bibliothek entdeckt. Es ist ein Blick in eine geschichtlich noch präsente Zeit, das entbehrungsreiche Bauernleben, das Aufwachsen der Kinder zwischen den vielen Arbeiten auf dem Hof und den Feldern und der Schule, Armut, Krieg, Heimat, Vertreibung, Flucht,  und gleichzeitig eine Wanderung durch das heutige Windland auf Rügen.

Die Enkelin – Bernhard Schlink

AutorBernhard Schlink
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 27. Oktober 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257071818

„Ich will keines dieser nicht gelebten Leben. Aber ich kann sie nicht von mir abtun. Meine nicht gelebten Leben sind mein wie mein gelebtes.“ (Zitat Seite 58)

Inhalt

Am 17. Mai 1964 lernen sie einander in Ostberlin kennen, Birgit aus dem Osten und Kaspar aus dem Westen, der für dieses Sommersemester nach Berlin gezogen ist. Sie verlieben sich, Kaspar ist bereit, nach Ostberlin zu ziehen, doch Birgit will in den Westen. Am 16. Januar 1965 landet sie in Tempelhof. Nun, nach fünfzig Jahren Ehe, ist Birgit tot und in ihren Entwürfen für einen Roman über ihr Leben entdeckt Kaspar eine völlig andere Frau, als er gekannt hat. Bei ihrer Flucht hat sie ihre kleine Tochter zurückgelassen, wollte sie suchen, hat es immer wieder hinausgeschoben. Kaspar begibt sich auf diese Reise in die Vergangenheit und findet die vierzehnjährige Sigrun, Birgits Enkelin. Können eine Vierzehnjährige, die in einem Dorf nach der Ideologie einer völkischen Gemeinschaft aufgewachsen ist und der ruhige, introvertierte Buchhändler eine gemeinsame Basis finden, einander kennenzulernen?

Thema und Genre

In diesem Generationenroman, Coming-of-Age-Roman, Beziehungsroman, geht es um drei Frauen aus drei Generationen, prägende Entscheidungen, die das Leben eines Menschen beeinflussen, zeitgeschichtliche und politische Themen wie Ostdeutschland-Westdeutschland, nationalistische, völkische Lebensformen in Deutschland heute. Auch die unterschiedlichen Ideen, beinahe verlassene ländliche Gebiete und Dörfer wieder mit Leben und Zukunftsperspektiven zu füllen, ist ein Thema.

Charaktere

Im Mittelpunkt dieses Romans stehen die Menschen. Birgit, die eine Entscheidung getroffen hat, ihr Leben mit immer präsenten Schuldgefühlen, ihr Schweigen darüber. Kaspar, der ruhige, intellektuelle Buchhändler, dessen ganzes Leben nach dem Tod seiner Frau Birgit durch ihre Aufzeichnungen plötzlich zu einem „Vielleicht“ wird. Auf der anderen Seite Birgits Tochter Svenja und deren Tochter Sigrun, die Kinder und Enkel der ehemaligen DDR-Bürger, ihre Träume, ihre Werte, manchmal ihr Scheitern.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in drei Teilen erzählt. Im ersten Teil wird die Beziehung zwischen Kaspar und Birgit kurz personal mit Kaspar als Mittelpunkt geschildert, daran anschließend wird Birgits Leben ausführlich erzählt, in Ich-Form, da es sich um ihre persönlichen Aufzeichnungen und Unterlagen zu ihrem geplanten Roman handelt. Der zweite Teil ist zugleich der Hauptteil. Kaspar begibt sich auf die Spurensuche, trifft unterschiedliche Personen aus Birgits früherem Leben und schließlich Sigrun, Birgits Enkelin, die auch für ihn zur Enkelin wird. Vorsichtig nähern sich die beiden so unterschiedlichen Personen und Generationen einander an. Der dritte, abschließende Teil spielt zwei Jahre später. Die Sprache erzählt leise und schildert eindrücklich.

Fazit

Ein facettenreicher Roman mit zeitlos aktuellen Themen. Die Konflikte und Suche nach Lösungen und Wendungen der einfühlsam geschilderten Figuren geben der Geschichte Intensität und Spannung und regen zum Nachdenken an.

So war’s eben – Gabriele Tergit

AutorGabriele Tergit
Verlag Schöffling & Co.
Erscheinungsdatum 24. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten624
NachwortNicole Henneberg
UmschlagbildLesser Ury
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3895614743

„Der Bürger erlebte den Zusammenbruch seiner Ideale, Besitz und Bildung, und fand im Felde seinen Kameraden, den Arbeiter. Das Nationale löste sich aus seiner Verflechtung mit dem Kapitalismus, der Sozialismus entschied sich für die nationale Idee.“ (Zitat Seite 346)

Inhalt

Sie treffen einander zum Damentee, die Frauen der jüdischen Familien, die im Zentrum dieses Generationenromans stehen. Ende der 1890 Jahre sind dies die Gastgeberin Franziska Stern, geborene Kollmann, Roserl, die Frau von Amtsrichter Julius Mayer, Sabine Gutmann, die Schwester des Amtsrichters, Adelina Markus, die Frau des Fabrikanten Manfred Markus. Immer wieder treffen sie einander in diesen Jahren, später sind es ihre Kinder und Enkelkinder. Ihre Schicksale und Beziehungen verbinden sich mit weiteren Familien und Personen, mit der reichen Familie Jacoby und der Bankiersfamilie Beer, aber auch mit der Familie v. Rumke, die zur militärischen deutschen Oberschicht gehört, und mit überzeugten Kommunisten, Künstlern und Journalisten. Am 30. Januar 1933 treffen sie alle nochmals bei einer Wohnungseinweihungsfeier zusammen, dann trennen sich ihre Wege. Mehr als zwanzig Jahre später besucht Grete Jacoby, geborene Mayer, die nun in London lebt, die früheren Freunde und Bekannten in New York, nun ein sehr kleiner Kreis von Menschen, die überlebt haben. „ … und langsam würde dieser Kinderkreis von fünf Menschen aufhören.“ (Zitat Seite 558)

Thema und Genre

Dieser Generationenroman ist ein authentisches Zeitbild der Geschichte Deutschlands zwischen 1890 und den fünfziger Jahren, erzählt durch das Leben und Schicksal der Menschen, die damals gelebt haben.

Charaktere

Es sind die Personen mit ihren Eigenheiten, ihrer Zugehörigkeit, ihrer Erziehung, Tradition, Gefühlen, Träumen und Schicksalen, deren Geschichte erzählt wird, ihr Alltag in diesen für immer die Geschichte prägenden Jahren Deutschlands. Eine der wichtigsten Romanfiguren, Grete Jacoby, ist autobiografisch geprägt.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung ist in fünf Abschnitte eingeteilt, die der Chronologie der geschichtlichen Abläufe entsprechen: Kaiserreich, Krieg, Weimarer Republik, Drittes Reich, Nachkrieg. Die Ereignisse werden nicht erzählt, sondern in langen Gesprächen zwischen den vielen unterschiedlichen Personen der Handlung  geschildert. Ergänzt werden diese politischen, gesellschaftskritischen und tagesaktuellen Dialoge durch ausführliche Beschreibungen des Lebensumfeldes, des alltäglichen Lebens der verschiedenen Gesellschaftsschichten in einer Zeit der Kriege, politischen Umstürze, der Wohnungsnot, der Arbeitslosigkeit, des Hungers, der Verfolgung. Hilfreich ist die Aufstellung aller Personen als entnehmbare Liste in Form eines Lesezeichens, denn es sind insgesamt über siebzig Personen, die einander bei unterschiedlichen Ereignissen treffen bzw. familiär verbunden sind. Die Sprache der auktorialen Erzählform entspricht der Zeit, in der dieser Roman geschrieben wurde. Verlegt wurde nun die ursprüngliche, ungekürzte Fassung, wodurch der Text mit den langen Dialogen und sich wiederholenden Schilderungen der persönlichen Lebens- und Wohnumstände manchmal etwas langatmig wirkt. Andererseits ergibt sich gerade daraus ein lebendiges Bild dieser Zeit, lässt uns nachempfinden, wie es damals eben war.

Fazit

Dieses Buch ist ein umfassendes Zeitbild, geschrieben als Generationenroman, in dessen Mittelpunkt Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stehen und ihr Leben in Deutschland in den Jahren zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

Die Erfindung des Countdowns – Daniel Mellem

AutorDaniel Mellem
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum 15. September 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423282383

 „Bei allem Respekt, Professor, aber das nimmt niemand ernst. Sie sind der beste Theoretiker, den ich kenne, und wir haben ihnen viel zu verdanken – aber wir wussten auch, mit Ihnen wird es schwierig, ein so großes Unternehmen zu leiten.“ (Zitat Seite 201)

Inhalt

Hermann Oberth wächst in Schäßburg, Siebenbürgen, als ältester Sohn eines angesehenen Arztes auf. Er ist ein begabtes, technisch sehr interessiertes Kind, liest begeistert Jules Verne und sieht seine Zukunft buchstäblich in der Zukunft, er wird eine Rakete entwickeln, die bis zum Mond fliegt. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs heiratet er Tilla und beginnt gleichzeitig in Göttingen zu studieren. Als seine fertige Dissertation abgelehnt wird, bringt diese erfolgreich als Buch heraus. Ein Angebot der Sowjetunion lehnt er ab, doch 1941 holt ihn Wernher von Braun nach Peenemünde und aus der erträumten Rakete zum Mond wird eine moderne Waffe.

Thema und Genre

In diesem Roman mit biografisch-historischem Hintergrund geht es um die Pioniere der modernen Astronautik und Raketentechnik, um Wissenschaft und Forschung. Damit verbunden sind die Problematik der Entwicklung von Raketenwaffen in der NS-Zeit und die Frage nach Verantwortung und Forschungsethik.

Charaktere

Hermann Oberth ist ein Visionär und arbeitet intensiv an seinen Berechnungen, Konzepten und Konstruktionsentwürfen, bis er sicher sein kann, dass sie auch funktionieren. Für seine Ehefrau Tilla und seine vier Kinder bleibt kaum Zeit und so wiederholt er, ohne dass es ihm bewusst ist, die Fehler seines Vaters, seine Kinder bleiben ihm fremd. Als Siebenbürger Deutscher fühlt er sich Zeit seines Lebens als Deutscher und niemals als Rumäne.

Handlung und Schreibstil

Der Autor schildert das Leben des Raketenforschers und Menschen Hermann Oberth chronologisch, von seiner Kindheit in Schäßburg, Siebenbürgen, bis zum Start von Apollo 11 am 16. Juli 1969. Die nummerierten Kapitel entsprechen einem Countdown und beginnen bei Zehn, um mit dem Kapitel Null zu enden. Dies erinnert an eine Episode im Leben von Hermann Oberth, als Fritz Lang ihn 1929 als technischen Berater für seinen Stummfilm „Frau im Mond“ ins Team holt und wo der Regisseur tatsächlich die Idee mit dem Rückwärtszählen hat, um Spannung zu erzeugen. Dem Physiker und Raketenpionier Hermann Oberth und seinen visionären Entwicklungen stellt der Autor literarisch den Menschen gegenüber, den meistens abwesenden Familienvater, dessen Gedanken seine Ehefrau Tilla immer mit Formeln und Berechnungen teilen muss. Auch die Frage nach der eigenen Verantwortung in den Jahren seiner Tätigkeit für die Nationalsozialisten fließt in die Ereignisse in diesem Roman ein, jedoch nicht anklagend, sondern berichtend, fragend. Die Sprache erzählt und schildert eindrücklich und spannend.

Fazit

Ein Roman, der sich in literarischer Form mit der wenig bekannten Biografie des Visionärs und Wegbereiters der modernen Raumfahrt, Hermann Oberth, beschäftigt und sowohl den Wissenschaftler, als auch den Menschen als Resultat seiner Träume und seines Schicksals in einer bewegten Zeit zeigt.

Das Gartenzimmer – Andreas Schäfer

AutorAndreas Schäfer
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 21. Juli 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832183905

„Solche Häuser sind ein Fluch. Man wird ihnen nie gerecht. Sie sind immer stärker als ihre Bewohner.“ (Zitat Pos. 2817)

Inhalt

Max Taubert ist ein junger, noch unbekannter Architekt, als er 1908 von Professor Adam Rosen beauftragt wird, ein Landhaus in Berlin Dahlem für ihn und seine Frau Elsa zu bauen. Der Bauherr wünscht klare, schnörkellose Formen, auf keinen Fall die Jugendstil-Details und Türmchen der umliegenden Villen. Schon beim ersten Besuch des Grundstücks sieht Taubert das fertige Haus vor sich, das die Kriege überdauert und dann, leerstehend, unter Denkmalschutz, langsam verfällt. 1995 entdeckt Frieder Lekebusch das Haus durch Zufall, erwirbt und restauriert es. Wird es seiner Frau Hannah gelingen, die Villa Rosen wieder zu einem gesellschaftlichen Zentrum für Gäste aus Kunst und Kultur zu machen?

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Romans steht ein Haus, die berühmte Villa Rosen am Rande des Grunewalds, und das Leben und Schicksal seiner Bewohner. Es ist ein besonders Haus, das begeistert, aber auch fordernd und beklemmend ist, und in seinen Räumen die Spuren der Vergangenheit zu bewahren scheint.

Charaktere

Für Elsa sollte das neue Landhaus ein Rückzugsort sein, nur unwillig repräsentiert sie bei Einladungen an der Seite ihres Mannes und erkennt auch bald die drohende politische Veränderung. Die Familien Rosen und Lekebusch sind nicht verwandt und kennen einander nicht. Nur ein altes Gästebuch verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart und regt Hannah an, die Villa wieder für Gäste und Interessierte zu öffnen. Sie bemerkt nicht, wie das Haus immer mehr zum Mittelpunkt ihres Lebens wird. Ihr Sohn Luis lehnt das Haus ab, als er durch Zufall Details aus der Vergangenheit erfährt.

Handlung und Schreibstil

Es sind Episoden und Ereignisse, die der Autor abwechselnd in zwei Handlungssträngen erzählt, die in sich nicht immer chronologisch verlaufen. Im Mittelpunkt steht jeweils eine der Personen der jeweiligen Besitzerfamilie und immer spielt die Villa Rosen eine wichtige Rolle, meistens auch als Handlungsort. Es sind mehr als einhundert Jahre deutsche Geschichte, die das Leben der Menschen bestimmen und prägen, die in diesem Haus wohnen. Die Sprache ist leise und eindringlich, der Autor beleuchtet manche Szenen aus unterschiedlichen Sichtweisen, indem er sie später nochmals aufgreift, ergänzt und so die Zusammenhänge klar erkennen lässt.  

Fazit

Dieser Roman erzählt von einer Berliner Villa, die mehr als einhundert Jahre lang das Leben seiner Bewohner geprägt hat, zwei unterschiedliche Familien, die einander nie kennengelernt haben. Ein interessanter, beeindruckender Streifzug durch die weitläufige Halle und lichtdurchflutete Zimmer, mit Einblicken nicht nur in einzelne Entscheidungen und Schicksale, sondern auch in wichtige Kapitel deutscher Zeitgeschichte.

Die Welt ist voller Sommer, Eine Familiengeschichte von Rügen – Christiane Töllner

AutorChristiane Töllner
Verlag EDITION POMMERN
Erscheinungsdatum 23. März 2020
FormatTaschenbuch
Seiten208
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3939680574

„Seit mehr als hundert Jahren bin ich mal Mittelpunkt dieser Geschichte, mal Zuschauer, mal ganz nah, dann abgeschnitten und weit entfernt. Ich habe während dieser Zeit Vieles erlebt, erfahren, gesehen und gelernt. Ich möchte sie jetzt gerne erzählen.“ (Zitat Seite 5)

Inhalt

Fritz Töllner hatte 1899 in Sellin zunächst die Villa Hedwig gebaut, doch diese war rasch zu klein geworden und so hat er sie drei Jahre später wieder verkauft und auf einem 2.000 m2 großen Grundstück 1903 die Villa Helene gebaut, ein neues Haus für die Familie, mit Fleischerei und Pensionszimmern für Sommergäste. Dieses Haus erzählt die abwechslungsreiche Geschichte der Familie Töllner.

Thema und Genre

Diese biografische Familiengeschichte ist gleichzeitig die Geschichte der Entwicklung des Bädertourismus und der Seebäder am Beispiel des Ortes Sellin. In diesem ersten Band stehen die Jahre 1903 bis 1953 im Mittelpunkt.

Handlung und Gestaltung

Es ist das Haus selbst, das sich an die wechselhafte Geschichte erinnert, beginnend mit dem Jahr 1903, gefolgt von dem kalten Winter 1904 und dem gespannten Warten auf die ersten Sommergäste und den Beginn der Saison im Frühling. Es folgt der Bau der ersten Seebrücke im Jahr 1906 und die erfolgreiche Entwicklung der Seebäder. Zwei Weltkriege und die mühevolle, entbehrungsreiche Zwischenkriegszeit hat diese Familienvilla gut und sicher überstanden, bis zu jenen Schicksalstagen der Aktion Rose im Frühjahr 1953, denen sich die Familie Töllner in letzter Minute durch die Flucht in den Westen entziehen kann.

Es sind Bücher wie dieses, das die Geschichte wirklich spannend und erlebbar machen. Dieses Alltagsleben von Menschen wie du und ich, mit den glücklichen und traurigen Tagen, versetzt uns beim Lesen in diese Zeit zurück. Wir erleben den Beginn des Bädertourismus, den Aufstieg von Sellin im Schatten von Binz, aber auch damals schon ruhiger, mit mehr Persönlichkeit und Flair.

Woher kann ein Haus dies alles wissen? Die Autorin löst das auf eine originelle, plausible Art. Das Haus ist ein interessierter Zuhörer und Beobachter. „Ich höre nicht nur die Stimmen von Familie Töllner innerhalb meiner etwas mehr als vier Wände, sondern der Wind trägt mir über die Dächer und Gärten der anderen Häuser außerdem den neuesten Tratsch und Klatsch und Wichtigkeiten durch Fenster und Türen.“ (Zitat Seite 28).

Viele Fotografien, Dokumente, Originaltexte und ein genau recherchierter, geschichtlicher, internationaler Hintergrund ergänzen die erzählte Familiengeschichte.

Fazit

Ein Leseerlebnis nicht nur für Menschen, die hier leben und aufgewachsen sind, und Menschen, die ihren Urlaub an der Ostsee und vielleicht sogar auf der schönen Insel Rügen verbrinden, sondern auch für die interessierte jüngere Generation. Es sind diese Geschichten der Vorfahren, die nicht verloren gehen dürfen, sondern erzählt und angehört werden sollen. Ich musste beim Lesen dieser packend und lebhaft erzählten Lebensgeschichte einer Familie an ein Zitat des bekannten Autors Alessandro Baricco (Novecento, Piper Verlag, Seite 19) denken: „Du bist nicht wirklich aufgeschmissen, solange du noch eine gute Geschichte hast und jemanden, dem du sie erzählen kannst.“

Die Seebadvilla – Kathleen Freitag

AutorKathleen Freitag
Verlag HarperCollins
Erscheinungsdatum 24. März 2020
FormatBroschiert
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3959673921

„Tatsächlich glich ihre Familiengeschichte einem Puzzle, bei dem sie nur die Randstücke zusammensetzen konnte.“ (Zitat Pos. 186)

Inhalt

1992 führt Henriette (Henni) Faber seit über fünfunddreißig Jahren ein erfolgreiches Modeatelier in München. Ihre Tochter Caroline hilft ihr beim bevorstehenden Umzug in ein günstigeres Geschäftslokal. Dabei entdeckt sie eine alte Fotografie und das Schreiben eines Anwaltsbüros aus Greifswald, in dem es um die mögliche Rückübertragung einer Villa auf der Insel Usedom geht. Doch ihre Mutter will damit nichts zu tun haben, will nicht einmal darüber reden. Caroline aber will die Wahrheit wissen und besucht zuerst ihre Großmutter Grete in Berlin, anschließend fährt sie auf die Insel Usedom. Zu viele offene Fragen warten auf Antworten.

Thema und Genre

Dieser Familien- und Generationenroman spielt in den Nachkriegsjahren und nach der Wende. Es geht um die DDR, um die Aktion Rose, um Schweigen, um zu vergessen. Ein Thema sind auch die Liebe, Hoffnung und Mut zum Neubeginn.

Charaktere

Grete, Henni und Caroline, drei unterschiedliche Generationen einer Familie, aber jede ist auf ihre Art eine starke, mutige Frau. Sie alle sind durch Geheimnisse und Verschweigen wichtiger Familienereignisse geprägt. Generell sind die Charaktere dieses Romans klar in „gut“ und „böse“ eingeteilt, es fehlen die menschlichen Graubereiche, die den Figuren mehr Tiefe gegeben hätten.

Handlung und Schreibstil

Die Familiengeschichte wird in zwei Zeitsträngen erzählt, ein Teil der Ereignisse spielt in den Jahren 1952 und 1953, der aktuelle Teil spielt im Jahr 1992. Die einzelnen Hauptprotagonistinnen Grete, ihre beiden Töchter Henni (Henriette)  und Lisbeth, und Henriettes Tochter Caroline stehen abwechselnd im Mittelpunkt eines Kapitels, die Zuordnung erfolgt durch die Jahresangabe und den Namen. Die Handlung ist nachvollziehbar, gut geschildert und ergänzende Beschreibungen des Lebens in Ahlbeck auf der Insel Usedom und der Natur bieten einerseits zeitgeschichtliche Informationen, lassen andererseits Inselfeeling aufkommen. Die Sprache entspricht dem Genre Unterhaltungsroman.

Fazit

Ein Familien- und Generationenroman mit zeitgeschichtlichem Hintergrund, der auf der Insel Usedom spielt. Eine spannende, interessante Handlung, leicht und unterhaltsam zu lesen, passend für den Strandkorb, Liegestuhl oder das Sofa.

Die Spionin – Imogen Kealey

AutorImogen Kealey
Verlag Rütten & Loening
Erscheinungsdatum 18. Februar 2020
FormatTaschenbuch
Seiten457
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3352009464

„Sie setzte sich in Bewegung, dann rannte sie, wurde immer schneller, rannte, bis sie die Verfolger hinter sich gelassen hatte und nur noch ihr keuchender Atem und sonst nichts zu hören war.“ (Zitat Pos. 586)

Inhalt

Nancy Wake, geboren am 30. August 1912 in Wellington, Neuseeland, wächst in Australien auf, geht als Journalistin nach Europa, wo sie 1938 in Wien die Verfolgung der Juden miterlebt, was sie für immer prägt. Sie lebt in Marseille, als die Deutschen Nordfrankreich besetzen und wird sofort aus tiefer Überzeugung als Fluchthelferin der Résistance tätig. Als Ehefrau des vermögenden Unternehmers Henri Fiocca hat sie die notwendigen Mittel und Tarnung für ihre gefährlichen Einsätze. 1943 flieht sie nach London, wird dort als Agentin ausgebildet und kehrt heimlich nach Frankreich zurück, um Einsätze der Maquis-Gruppen zu leiten. Fieberhaft suchen die Nazis nach der „Weißen Maus“ und bieten fünf Millionen Francs für ihre Ergreifung. Sie jedoch kämpft unbeirrbar weiter, in der Hoffnung, ihren Ehemann, den die Nazis 1943 verhaftet hatten und der seither verschwunden ist, nach dem Rückzug der Nazis zu finden und befreien zu können.

Thema und Genre

Dieser packende Roman mit biografischem Hintergrund handelt von einer der mutigsten Frauen der britischen Spezialeinheit SOE im zweiten Weltkrieg. Es geht um das von den Deutschen besetzte Frankreich und die Résistance, um die Agenten im Untergrund, welche die Landung der Alliierten in der Normandie durch ihre Einsätze erst möglich gemacht haben.

Charaktere

Nancy Wake ist eine attraktive Frau, ihr Ehemann Henri Fiocca ist ihre große Liebe. Das Risiko, das sie beide mit ihren Einsätzen im besetzten Frankreich eingehen, ist ihr bekannt, aber ihre persönliche Überzeugung und ihr Charakter machen es ihr unmöglich, einfach schweigend wegzusehen. Auch nach ihrer harten Ausbildung als kompromisslose Kämpferin bleibt sie in den wenigen ruhigen Minuten zwischen den Einsätzen eine Frau mit Freude an Kleidern und Kosmetik, für sie kurze Momente eines anderen Lebens. Als Strategin ist sie einfallsreich und in der Ausführung mutig und unerschrocken. Ihr erbittertster Gegner ist Markus Friedrich Böhm, Major der Gestapo Marseille.

Handlung und Schreibstil

Der Roman berichtet die Ereignisse chronologisch, er beginnt 1943 mit Nancys Einsätzen in Südfrankreich und endet 1944 nach der Landung der Alliierten in der Normandie und der Befreiung von Paris. Historische Anmerkungen am Buchende erklären den Lesern, welche Teile des Romans Fakten sind und wo fiktive Veränderungen vorgenommen wurden. Der Schreibstil, in diesem Fall auch die Übersetzung, ist eine perfekte Mischung aus interessanten Fakten, lebhaften Beschreibungen und fesselnden Schilderungen von gefährlichen Einsätzen.

Fazit

Ein spannender biografischer Roman über die mutige Agentin und Widerstandskämpferin Nancy Wake im von den Deutschen besetzten Frankreich des WK II, ein interessanter, packender Pageturner.

Goodbye Bukarest – Astrid Seeberger

AutorAstrid Seeberger
Verlag Urachhaus
Erscheinungsdatum 11. Februar 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten244
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3825152307

„Erst als ein Windhauch herüberwehte, hörte er es: Jemand pfiff eine Melodie, die er wiedererkannte. Eine Melodie, die das schwarze Loch mit Musik füllte: Bachs Ich ruf zu Dir.“ (Zitat Seite 91)

Inhalt

Astrids Mutter erzählte Zeit ihres Lebens, dass Astrids Onkel Bruno in Stalingrad gefallen sei. Erst nach dem Tod der Mutter erfährt Astrid von einem alten Pfarrer dass dies eine Lüge war. Bruno hatte den Krieg überlebt, aber mit der Familie bewusst gebrochen. Schon Astrids Mutter hatte nach Bruno gesucht, und Astrid setzt nun diese Suche fort, weil sie die Wahrheit wissen will. Was ist damals wirklich geschehen, lebt ihr Onkel Bruno noch?

Thema und Genre

Dieser autobiografische Roman führt seine Erzählerin durch miteinander verflochtene Schicksale, ausgehend von Sibirien im Zweiten Weltkrieg, nach Bukarest, über Berlin und München in ein altes Haus in Münsing, Bayern. Eines der Hauptthemen sind die Geschichte Rumäniens, Heimat, Flucht und Vertreibung, Familie, die Kraft der Musik und die Liebe in ihrer Vielfalt. Es geht um die Suche nach den eigenen Wurzeln.

Charaktere

Astrid will Antworten betreffend das Schicksal ihres Onkels Bruno und einen Teil ihrer Familiengeschichte, über den bisher geschwiegen wurde. Beharrlich folgt sie auch der kleinsten Spur und sie kann vor allem eines: zuhören. Sie hört den Menschen zu, deren Schicksal auf irgend eine Weise mit dem Schicksal Bruno Seebergers verknüpft ist, all dies eingebettet in wichtige Episoden europäischer Zeitgeschichte.

Handlung und Schreibstil

Der Aufbau dieses Romans wurde für dieses vielschichtige, umfassende Thema perfekt gewählt. Die Ich-Erzählerin berichtet über ihre Recherchen in der aktuellen Gegenwart, dadurch erfährt der Leser auch mehr über sie und ihr Leben. Mehrere Menschen sind fest mit dem Schicksal von Bruno verbunden. Deren Geschichten erfährt Astrid im Zuge ihrer Recherchen von den betroffenen Personen selbst oder durch nahestehende Zeitzeugen. Eine überaus spannende Reise durch die jüngere Vergangenheit, beeindruckend auch durch die vielseitigen Aspekte, die diese Menschen, ihre Entscheidungen und Gefühle, geprägt haben. Die poetische Sprache überzeugt ebenso, wie der gekonnte Aufbau und die Erzählformen.

Fazit

Ein spannend und doch poetisch erzähltes Stück Zeitgeschichte, ein Puzzle von verschiedenen Einzelschicksalen, die dicht miteinander verbunden sind und letztendlich ein Rätsel in der Geschichte einer Familie lösen.

Das Versprechen des Buchhändlers – Jillian Cantor

AutorJillian Cantor
Verlag Heyne Verlag
Erscheinungsdatum 11. November 2019
FormatBroschiert
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3453423411

„Doch wenn sie in seinem Laden spielte, fühlte es sich so an, als gäbe sie ein Konzert nur für ihn.“ (Zitat Seite 157)

Inhalt

Max Bissinger hat von seinem Vater eine Buchhandlung in Gutenstadt, eine Stunde westlich von Berlin, geerbt. 1931 lernt er zufällig die Geigerin Hanna Ginsberg kennen und sie verlieben sich. Doch ihre Zukunftspläne werden von der Realität eingeholt, denn Hitler kommt an die Macht und Hanna ist Jüdin. 1936 erhält Hanna ein Angebot eines niederländischen Sinfonieorchesters und sucht um eine Ausreiseerlaubnis an. Doch plötzlich klopft die SA an die Tür. 1946 erwacht Hanna völlig desorientiert auf einem Feld nahe Berlin, nur ihre Stradivari hat sie bei sich und ihre Liebe zur Musik bestimmt auch weiterhin ihr Leben – und ihre Sehnsucht nach Max.

Thema und Genre

Dieser Roman handelt von den Jahren von Hitlers Machtübernahme in Deutschland und von den Jahren des Aufbaus, die dem Ende des zweiten Weltkrieges folgen. Es geht um Religion, die Schicksale der Juden, die Probleme der Musikerinnen, in bekannten Sinfonieorchestern einen Platz zu erhalten, wo stets die männlichen Bewerber bevorzugt werden. Ein wichtiges Thema sind auch Familie, Freundschaft und Liebe.

Charaktere

Die Protagonisten und ihre Entscheidungen sind realistisch und stimmig. Hannas Lebensinhalt ist die Musik und ihre wertvolle Geige. Die Erinnerung an ihre große Liebe Max bestimmt ihr Leben nach dem Krieg. Max hat ein Geheimnis, das ihn immer wieder zwingt, Entscheidungen zu treffen, die er niemandem erklären kann.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in zwei Zeitsträngen fortlaufend und abwechselnd erzählt, wobei die Sprache flüssig und rasch zu lesen ist. In den Kapiteln, welche die Jahre 1931 bis 1936 betreffen, steht Max im Mittelpunkt. Hier wählte die Autorin die personale Erzählform. Hanna dagegen schildert ihr Leben in den Jahren 1946 bis 1959 in der Ich-Form. Jedes Kapitel trägt den entsprechenden Namen und die Jahreszahl, was die Handlung sehr übersichtlich macht. Die eigentlichen Kriegsjahre bilden nur den Hintergrund der Geschehnisse, es stehen die Menschen und ihr Schicksal im Mittelpunkt. Die gut recherchierten Fakten und der spannende Aufbau machen aus dem Stoff eine interessante Geschichte, bis plötzlich eine magisch-fiktionale Komponente auftaucht, die sich dann wie ein roter Faden durch die Handlung zieht und die für mich in diesem Genre und Zusammenhang nicht passt.

Fazit

Eine packende Geschichte mit zeitgeschichtlichem Hintergrund, die durch eine überraschende Wendung zwischen Sci-Fi und Fantasy in den Bereich Unterhaltungsliteratur abgleitet. Eine Empfehlung sicher für jüngere Leserinnen, die romantische Frauenromane mit Tiefgang bevorzugen.

Dieser weite Weg – Isabel Allende

AutorIsabel Allende
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 27. Juli 2019
FormatGebundene Ausgabe
Seiten381
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518428801

„Aber es war nicht nur ein Scherz gewesen, es war auch die Angst vor der gespaltenen Liebe, vor der Trennung, davor, fern von ihren Lieben zu leben und zu sterben.“ (Zitat Seite 279)

Inhalt

Guillem und Victor Dalmau sind Brüder. Beide stehen im spanischen Bürgerkrieg ab 1936 auf der Seite der Miliztruppen der demokratisch gewählten Regierung, Guillem als Soldat und Victor als angehender Arzt. Ihre Gegner sind die rechtsgerichteten Nationalisten um General Franco. Guillem ist mit der begabten Pianistin Roser Bruguera verlobt und als er im Kampf stirbt, ist Roser bereits schwanger. Victor flieht mit Roser aus dem belagerten Barcelona nach Frankreich, wo er sie heiratet, damit er sie und ihren Sohn Marcel als Angehörige mit nach Chile nehmen kann. Pablo Neruda macht dies mit seinem Flüchtlingsschiff Winnipeg möglich, das am 4. August 1939 für mehr als 2000 spanische Flüchtlinge zum Schiff der Hoffnung wird. Chile ist ein ideales Land für einen Neubeginn, denn es bietet Chancen für alle. Doch dann ändert sich die politische Landschaft in Chile …

Thema und Genre

In diesem epischen Generationenroman geht es um politische Diktaturen, Krieg, Unterdrückung und Flucht. Die Geschichte handelt aber auch von Idealismus, Mut, Treue, Freundschaft, Hoffnung  und Chancen auf Neubeginn, die das Leben immer wieder bietet. Wichtige Themen sind Heimat und Zugehörigkeit, ihre Charaktere vergessen die spanischen Wurzeln nicht. Dieses Buch ein Roman, doch die zeitgeschichtlichen Fakten und bekannten Personen sind real.

Charaktere

Victor ist Arzt aus Überzeugung, die Erlebnisse als junger Arzt im Studium während des Bürgerkrieges prägen sein weiteres Leben. In Chile gehören Roser und er als Einwanderer nicht zur Oberschicht, doch dort sieht sich der sozialistisch-demokratische Victor ohnedies nicht, er sieht die Armut in Chile und schaut nicht weg, sondern hilft. Roser und Victor verbindet eine tiefe Freundschaft und Vertrautheit. Auch der bekannte Dichter und Politiker Pablo Neruda spielt im Leben von Victor und Roser eine wichtige Rolle.

Handlung und Schreibstil

Die Autorin ist eine wunderbare Erzählerin, die ihre Geschichten so in das Zeitgeschehen einbindet, dass sich ein stimmiges, interessantes Ganzes ergibt. Die wechselhafte Zeit der Umstürze, in welcher dieser Roman spielt, ist an sich schon spannend zu verfolgen, sodass die Handlung ein packendes Leseabenteuer ergibt. Man merkt, dass die Autorin auch ihre fiktiven Charaktere ins Herz geschlossen hat, detailliert und stimmig nimmt sie sich Zeit für jede einzelne Protagonistin, für jeden einzelnen Protagonisten, ihre Handlungen, Entscheidungen und Gefühle. Sprachlich beeindruckend, hat mich dieses Buch sofort in seinen Bann gezogen und nicht mehr losgelassen, bis ich die letzten Seite gelesen hatte. Es sind ernste Themen und Konflikte, dennoch ist eine positive Geschichte, in der immer auch Hoffnung und Liebe mitklingen.  

Fazit

Ein epischer Generationenroman, facettenreich, interessant und spannend. Ein sehr genau recherchiertes Zeitbild des spanischen Bürgerkrieges und der Machtübernahme von General Franco, sowie später der Umstürze in Chile. Sprachlich großartig erzählt, ist dieser Roman Garant für intensive Lesestunden, von denen man jede Minute genießt.

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