Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940/41 – Lisa Fittko

AutorLisa Fittko
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum 1. Oktober 2004
FormatTaschenbuch
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423621892

„Doch hätte keiner von uns überleben können ohne die Hilfe von Franzosen in jedem Winkel des Landes – Franzosen, deren Menschlichkeit ihnen den Mut gab, diese verbliebenen Fremden aufzunehmen, zu verstecken, zu ernähren.“ (Zitat Seite 108)

Thema und Inhalt

Ihren späteren Ehemann, den Journalisten Hans Fittko, lernt Lisa bereits in Prag kennen, wohin die junge jüdische Widerstandskämpferin 1933 geflohen ist. 1939/1940 werden sie in Frankreich getrennt in Internierungslager gesperrt, sie können entkommen. Auf vielen Umwegen erreichen sie Marseille, ein wichtiger Schritt, um Frankreich schnellstmöglich verlassen zu können. Sie haben die benötigten Papiere, doch es fehlt ihnen, wie vielen anderen Flüchtlingen, das französische Ausreisevisum, das nur in Vichy ausgestellt wird, welches jedoch unter deutscher Kontrolle steht. Daher kommt nur ein illegaler Grenzübertritt in Frage, von Banyuls-sur-Meraus über die Pyrenäen nach Spanien. Walter Benjamin ist der erste von vielen Menschen, den sie über diesen Weg führen. Gerade als sie selbst aufbrechen wollen, tritt Varian Fry vom Emergency Rescue Committee an sie heran. Er benötigt eine erfahrene Anlaufstelle vor Ort. Sie überlegen nur kurz, riskieren es, bleiben, und aus der Route Lister wird die F-Route, Rettung für Tausende von Menschen.

Umsetzung

Unaufgeregt, ohne ihren immer gefährlichen, unermüdlichen Einsatz (oft gehen sie und Hans den Weg drei Mal pro Woche) zu glorifizieren, schildert Lisa Fittko die Ereignisse dieser Zeit. Sie beginnt mir einer kurzen Vorgeschichte, ihre Jugendzeit in Wien und Berlin, dann Prag. Es folgt der Sommer 1940 im berüchtigten Lager Gurs, immer unter der Gefahr, an die Deutschen ausgeliefert zu werden. Die Zeit in Banyuls-sur-Mer 1940/1941 wird in Tagebucheinträgen vom 12. Oktober 1940 bis zum 26. März 1940 geschildert. Daran schließt die endgültige Reise nach Kuba im Herbst 1941 an und eine kurze Zusammenfassung der darauffolgenden vierzig Jahre. Am Buchende findet sich eine Zeittafel, je ein Artikel über die Internierungspraxis in Frankreich, das Emergency Rescue Committee, ein Namensregister mit kurzen Lebensläufen und ein Verzeichnis der französischen Bezeichnungen und Redewendungen.

Die Sprache von Lisa Fittko ist persönlich, lebhaft und interessant. Sie schildert detailgenau und präzise, wie sie die F-Route immer wieder anpassen müssen, neue Möglichkeiten suchen, ein Netzwerk aufbauen, erzählt von hilfsbereiten Menschen auf beiden Seiten der Pyrenäen, aber auch von dem Gegenteil davon. Es ist immer spannend und für alle Beteiligten lebensgefährlich, manche Ereignisse sind besonders problematisch, andere skurril-komisch und hier zeigt sich Lisa Fittkos Humor.

Fazit

Dieses Buch ist eine Mischung aus autobiografischen Erinnerungen und Tagebuch, und ist gleichzeitig ein authentischer Tatsachenbericht dieser Zeit. Es sind zeitlos aktuelle Ereignisse, die hier erzählt werden und die durchgehend packende Spannung lässt zeitweise beinahe vergessen, dass es sich hier um die lebensbedrohliche Realität in einer furchtbaren Zeit handelt. Das vorliegende Buch ist auch eine empfehlenswerte, wichtige Ergänzung zu dem im Februar 2024 erschienenen, ebenso empfehlenswerten Buch „Marseille 1940“ von Uwe Wittstock.

Auslieferung auf Verlangen: Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41 – Varian Fry

AutorVarian Fry
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 1. August 2009
FormatTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3596183760

„Ich verließ Amerika, die Taschen vollgestopft mit den Listen der Namen von Männern und Frauen, die ich retten müßte, und den Kopf voller Ideen, wie ich das bewerkstelligen wollte. Es waren mehr als zweihundert Namen, und viele Hundert kamen später dazu.“ (Zitat Seite 11)

Thema und Inhalt

1935 besucht Varian Fry Deutschland und erlebt in Berlin bereits die ersten großen Judenverfolgungen mit. Als daher vergeblich jemand gesucht wird, der die neu gegründete amerikanische Hilfsorganisation Emergency Rescue Committee (ERC) vor Ort leitet, ist es für Varian Fry selbstverständlich, im August 1940 selbst nach Marseille zu reisen. Denn die Zeit drängt und die Gefahr wurde mit dem Waffenstillstandsabkommen vom Juni 1940 zwischen Frankreich und Deutschland besonders für deutsche Emigranten, die auf den Listen der Gestapo standen, täglich größer. Eine Klausel besagt, dass sich die französische Vichy-Regierung verpflichtet, Deutsche auf Verlangen der Gestapo an diese auszuliefern. Auf den Listen stehen die Namen von bekannten jüdischen Intellektuellen, Schriftstellern, bildenden Künstlern, aber auch von Widerstandskämpfern und politischen Flüchtlingen. Aus den geplanten wenigen Wochen werden dreizehn Monate, in denen Fry und sein Team sich immer neuen Situationen und Hindernissen stellen müssen, neue Wege suchen, Länder, die noch bereit waren, Flüchtlinge aufzunehmen, oder zumindest Visa auszustellen. Bald werden auch Fry und das ERC genau beobachtet, bis er im August 1941 unter Zwang nach Amerika zurückkehren muss.

Umsetzung

Chronologisch erzählt der Journalist Varian Fry die Geschichte des Emergency Rescue Committee in Marseille, schildert die Entwicklung von immer neuen kreativen Fluchtwegen, die Probleme mit den Behörden, falsche Hoffnungen, Rückschläge, plötzliche Lichtblicke und erfolgreich durchgeführte Aktionen. Manche Flüchtlinge müssen erst aus französischen Konzentrationslagern befreit werden und immer wieder müssen fehlende Dokumente, Passierscheine, Reisepässe beschafft werden, oder sichere Fälschungen dieser Unterlagen. Doch es geht auch um die Weiterreise, bald gibt es kaum mehr Schiffe und gerade Amerika prüft die politische Gewinnung genau, bevor ein Einreisevisum erteilt wird, stringent bereits bei Mitgliedern von sozialistischen Parteien. Spanien und Portugal dagegen bestehen auf Visa von Übersee-Ländern, aus Sorge, die Flüchtlinge könnten im Land bleiben. Es sind bekannte Namen wie  Lion Feuchtwanger, Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel und Max Ernst, deren illegale Flucht aus Frankreich Fry, seine engen Mitarbeiter und heimlichen Helfer ermöglicht haben. Fry schildert unaufgeregt, sachlich, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, dies macht seinen Tatsachenbericht nicht nur von der ersten Seite an extrem packend, sondern auch sehr sympathisch.

Fazit

Ein authentischer, geschichtlich sehr interessanter Bericht, spannend wie ein Thriller und man muss sich selbst beim Lesen in Erinnerung rufen, dass es hier ausschließlich um reale Schicksale, Gefahren und Erlebnisse von Menschen auf der Flucht vor der Ermordung in einem Konzentrationslager handelt. Es sind selbstlose und sehr mutige Menschen, die im ERC unermüdlich und unter Einsatz des eigenen Lebens tätig sind. Ein zeitlos brisantes Buch und eine wichtige Ergänzung zu dem im Februar 2024 erschienenen, ebenfalls großartigen Buch „Marseille 1940“ von Uwe Wittstock.

Die Nackten fürchten kein Wasser: Eine Reise mit afghanischen Flüchtlingen – Matthieu Aikins

AutorMatthieu Aikins
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 2. August 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinBarbara Schaden
ISBN-13‎978-3455015133

 „Ich war zuversichtlich, dass wir Afghanistan in jedem Fall gemeinsam verlassen würden. Und mit unserer Flucht würde sich ein Kreis schließen, denn seitdem wir uns kannten, meinte ich, eine Parallelwelt im Verlauf unseres jeweiligen Lebens zu erkennen.“ (Zitat Pos. 183)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist der Tatsachenbericht einer Flucht, teilweise geführt von Schleusern, mehrmals gefasst und zurückgeschickt. Millionen von Flüchtlingen nehmen diesen gefährlichen Weg durch die Wüste, über Gebirgspfade in die Türkei und dann über das Meer bis nach Griechenland auf sich.

Omar, ein afghanischer Journalist und Übersetzer, hatte in Afghanistan einige Jahre lang als Dolmetscher für die USA gearbeitet und als er den Entschluss fasst, sein Land zu verlassen, sucht er daher um ein Special Immigrant Visa für Amerika an. Sein Ansuchen wird abgelehnt und so bleibt nur die Schleuserroute nach Europa. Seit 2009 ist er mit dem Journalisten und Kriegsberichterstatter Matthieu Aikins befreundet und dieser beschließt spontan, seinen Freund zu begleiten, ebenfalls als afghanischer Flüchtling und mit einer passenden, genau einstudierten Identität. Dies war im August 2015, im Juli 2016 fällt die endgültige Entscheidung zum Aufbruch. Der ursprünglich geplante Flug nach Istanbul mit einem gekauften Visum im Pass ist jedoch nicht mehr möglich. Dies bedeutet Plan B. Ende August 2016 treten sie den ersten Abschnitt ihrer Reise an: viereinhalbtausend Kilometer über Land, von Kabul aus durch den Iran nach Istanbul.

Umsetzung

Die Geschichte ist in vier große Teile gegliedert: Der Krieg – Der Weg – Das Lager – Die Stadt. Beginnend mit einem kurzen Abschnitt über Geschichte der Familien von Omar und Matthieu und prägende Kindheitserlebnisse, berichtet der Journalist chronologisch über den Verlauf der Reise. Täglich spricht er seine Notizen über den Ablauf und die Ereignisse des Tages auf sein Smartphone und ergänzt diese mit Fotos und Videos. Wo sich ihre Wege zwischendurch trennen, schildert er seine eigenen Erlebnisse und ergänzt diese später mit Omars Erzählungen. Dieser Bericht zeigt auch die Hilfsbereitschaft und den Zusammenhalt, die ihnen begegnen, unter den Flüchtlingen, aber auch von unerwarteter Seite. Auch die Tätigkeit der Schleuser sieht man nach diesem Buch wohl etwas differenzierter. Ergänzt wird die Geschichte ihrer gefährlichen Reise durch Fakten und Daten aus aktuellen Forschungsberichten und Expertenarbeiten, aus Berichten über die politischen Hintergründe, Entscheidungen und Gesetze dieser Jahre und ihre Auswirkungen. Im Anhang folgt ein Namens- und Literaturverzeichnis mit ausführlichen Quellenangaben aller Zitate.

Fazit

Gerade die sachliche, empathische Sprache dieses packenden Tatsachenberichtes prägt sich ein und führt zu einem besseren Verständnis dafür, welche Strapazen und Lebensgefahren jeder Flüchtling voller Zukunftsträume und Hoffnungen auf sich nimmt, wenn das Leben in der Heimat unmöglich geworden ist.

Februar 33: Der Winter der Literatur – Uwe Wittstock

AutorUwe Wittstock
Verlag C.H.Beck
Erscheinungsdatum 10. November 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3406776939

 „Für die Zerstörung der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.“ (Zitat Seite 273)

Thema und Inhalt

Dieses Buch handelt von diesem besonderen Schicksalsmonat Februar 1933, in dem sich die Zukunft Deutschlands und der Menschen entscheidet. Wie schon aus dem Titel zu ersehen, geht es in diesem Buch um die blühende kulturelle Vielfalt, die bis zu diesem Jahr 1933 in Deutschland anzutreffen war. Am Beispiel der Literatur schildert der Autor die Situation von bekannten Schriftstellern und Schriftstellerinnen, aber auch von Verlegern, Journalisten und mit diesem Kreis befreundeten Künstlern. Sie alle müssen Entscheidungen treffen, in manchen Fällen muss dies sehr schnell geschehen, da den ersten brennenden Büchern rasch auch Verhaftungen folgen.

Umsetzung

Das Buch beginnt mit dem Presseball in Berlin am 28. Januar 1933 und den zu diesem Zeitpunkt noch unterschiedlichen Meinungen zu der drohenden Gefahr durch die Machtübernahme der NSDAP. Zwei Tage später ist es Realität. Der Autor schildert die Ereignisse in Form eines Tatsachenberichts, jedem Tag ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dessen Mittelpunkt jeweils eine oder mehrere Persönlichkeiten stehen, deren Leben und Entscheidungen während dieser Tage fortlaufend dokumentiert werden. Jedes Kapitel endet mit kurzen täglichen Meldungen aus Tageszeitungen über Zusammenstöße zwischen den politischen Gruppierungen, Gewalttaten mit Toten.

Es sind bekannte Schriftsteller und Künstler, die als Beispiele für die gesamte Situation in diesem Bericht auftreten, Namen wie Berthold Brecht, Thomas, Heinrich, Klaus und Erika Mann, Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin. Doch auch die Haltung der Akademie der Künste in Berlin ist ein Thema.

Der Bericht endet mit Mittwoch, dem 15. März 1933. Es folgen insgesamt dreiunddreißig kurze Schilderungen, wie es im Leben der jeweiligen Persönlichkeiten weiterging. Dem Nachwort folgen eine Liste der verwendeten Literatur und ein Personenverzeichnis. Die genaue, ausführliche Recherche, die auch Briefe, Tagebücher und Aufzeichnungen umfasste, geben einen anschaulichen Einblick in diese Zeit, die Ungewissheit und Zweifel dieser Schicksalstage, die wachsende Angst, die Erkenntnis der drohenden Lebensgefahr, die Flucht oft im letzten Augenblick. Im Gegensatz dazu die Entscheidungen von Kulturschaffenden, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren.

Fazit

Ein sehr eindringliches, beklemmendes Buch, mit der packenden Intensität eines Tatsachenromans und der Spannung eines Kriminalromans.