Eine Frau – Sibilla Aleramo

AutorSibilla Aleramo
VerlagEisele Verlag
Datum25. April 2024
AusgabeGebundenes Buch
Seiten288
SpracheDeutsch
NachwortElke Heidenreich
ÜbersetzungIngrid Ickler
ISBN-13978-3961611850

„Denken, denken! Wie war ich nur so lange ohne das Nachdenken ausgekommen? Menschen und Dinge, Bücher und Landschaften, alles bot Stoff zum Nachdenken für mich.“ (Zitat Pos. 1645)

Inhalt

Die Ich-Erzählerin, die Älteste von vier Kindern, verbringt ihre Kindheit in Mailand. Als sie zwölf Jahre alt ist, nimmt ihr Vater eine neue Stellung als Direktor einer Fabrik in einem Dorf in Süditalien an. Damit nimmt ihr Leben eine völlig neue Richtung, denn in diesem Dorf gibt es zwar das Meer inmitten einer lichtdurchfluteten Landschaft, aber keine weiterführenden Schulen. Mit fünfzehn Jahren arbeitet sie schon als Assistentin im Büro ihres Vaters. Sie ist erst sechzehn Jahre alt, als sie einen zehn Jahre älteren, einfachen Mann heiratet, obwohl sie bereits berechtigte Zweifel hat. Als ihr Sohn geboren ist, wird das Kind für sie zum Mittelpunkt ihres Lebens. Dies ändert sich auch nicht, als sie das Dorf verlassen und nach Rom ziehen. Doch in dieser lebhaften Stadt findet sie gleichzeitig eine völlig neue Freiheit, Kultur, Bildung und die intellektuelle Herausforderungen, die sie so lange vermisst hat. Dann wird ihrem Mann die Direktorenstelle in der Fabrik im Dorf angeboten, die bisher ihr Vater innegehabt hatte.

Thema und Genre

In diesem stark autobiografischen Roman, der 1906 erschienen ist, geht es um Gesellschafts- und Sozialstrukturen, die Situation der Frauen besonders in einem von Traditionen geprägten Umfeld und die Anfänge der Frauenbewegung.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte schildert chronologisch die ersten fünfundzwanzig Jahre im Leben einer Frau zwischen Städten wie Mailand und Rom und einem Dorf im Süden Italiens. Die Erzählform in der ersten Person schildert neben den Erlebnissen und Ereignissen vor allem die eigenen Bewusstseinsströme, die Gedanken, heftigen Zweifel, Auflehnung, aber auch Hoffnungen der Ich-Erzählerin. Dies wird dadurch verstärkt, dass diese zu schreiben beginnt, aufschreibt, wie sie sich fühlt und gleichzeitig beginnt, ihr Verhalten zu analysieren. Mit einer neuen Aufmerksamkeit beobachtet sie die Welt um sich herum, besonders das Leben der Frauen, das soziale Gefüge der Gesellschaft und die neue Arbeiterbewegung, die nun auch ihr Land erreicht hat. Die Sprache der engagierten italienischen Journalistin, Schriftstellerin und überzeugten Feministin ist lebhaft und wortreich, in den intensiven eigenen Gedankenströmen teilweise etwas überbordend, was sicher der Ausdrucksweise der damaligen Zeit entspricht. Ein ihrem Nachwort verweist Elke Heidenreich auf viele Fakten aus dem Leben der Schriftstellerin Sibilla Aleramo, die sich bis ins Detail in diesem Roman wiederfinden.

Fazit

Ein authentisches Zeitbild, das sich mit den Lebensumständen der Frauen um die Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert in Italien auseinandersetzt. Diese deutlich autobiografische Geschichte beschreibt eindringlich und intensiv die schwierige Suche der Protagonistin nach einem freien, selbstbestimmten Leben. Ein Roman der zum Nachdenken anregt, auch über die Situation in unserer modernen Zeit, in der Frauen weltweit immer noch in patriarchalischen, traditionellen Strukturen leben, fern von Gleichberechtigung und persönlicher Freiheit.

Torero, ich hab Angst – Pedro Lemebel

AutorPedro Lemebel
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum29. Oktober 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten216
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518225516

„Das ist der Anfang von einem Ende, sagte sie, als spräche sie zu dem bewölkten Aquarell der Stadt, diesem traurigen Himmel, den die Abenddämmerung bunt verwelkte.“ (Zitat Seite 91)

Inhalt

„Dann das zierliche Häuschen am Eck über drei Etagen mit nur einer Treppe, die wie eine Wirbelsäule hinauf zur Dachterrasse führte. Von dort hatte man einen Blick auf die im Halbdunkel liegende, von einem undurchdringlichen Staubschleier gekrönte Stadt.“ (Zitat Seite 9) Ein alternder Mann, eine Diva in Frauenkleidern, hat dieses heruntergekommene Haus gemietet und wieder bewohnbar gemacht. Rasch gewöhnen sich die Nachbarn an die nostalgischen Schlager, die sie im Radio hört und bei offenem Fenster laut mitsingt. Im Krämerladen, dem gesellschaftlichem Zentrum des Viertels, lernt sie im Frühjahr 1986 den Studenten Carlos kennen, der sie bittet, einige Kisten mit verbotenen Büchern für ihn in ihrer Wohnung aufzubewahren. Es werden mehr und mehr Kisten, die sie mit ihren farbenprächtigen Stoffen verkleidet, dekoriert, und als Möbel in der Wohnung verteilt. Dann kommen Freunde von Carlos, die einen Platz zum Lernen brauchen und sich auf ihrem Dachboden treffen. Carlos, jung, gutaussehend, ist so sanft, gut und liebenswürdig,  er nimmt sich Zeit für sie, für lange Gespräche, glaubt sie ihm deshalb alles, was er ihr erzählt, oder spielt sie einfach sein Spiel mit, erkennt jedoch die Wahrheit? Es ist eine unruhige, gefährliche Zeit der Proteste, Anschläge und Umsturzpläne gegen die politische Willkür, Unterdrückung und Diktatur unter Pinochet.

Thema und Genre

Dieser Roman aus Lateinamerika, erschienen 2001, gilt als Klassiker der queeren Literatur und wurde nun als Neuauflage in der Bibliothek Suhrkamp herausgebracht. Es geht um Freiheit in allen Facetten, Befreiung von der politischen Unterdrückung durch die Militärdiktatur Pinochets, aber auch um Selbstachtung, um sexuelle Freiheit und die freie Wahl, zu leben und zu lieben, wie und wen man will.

Erzählform und Sprache

„Dass wir uns begegnet sind, haben wir zwei Geschichten zu verdanken, die sich inmitten der Ereignisse kaum die Hände gereicht haben.“ (Zitat Seite 215) Es sind tatsächlich zwei sehr unterschiedliche Geschichten, die hier abwechselnd erzählt werden, aber parallel verlaufen und einander manchmal kreuzen. In der ersten Geschichte erleben wir T., die eigentliche Heldin der Geschichte, nicht mehr jung und dennoch eine schillernde Persönlichkeit voll Lebenslust, mit lebhaften Phantasien und theatralisch ausgelebten Gefühlen und ihre verliebte Schwärmerei für Carlos, den jungen Studenten mit den betörenden dunkelvioletten Augen. In der zweiten Geschichte folgen wir dem Diktator und seiner First Lady, seinen Ängsten und ihrem Redeschwall, der ihn nie zur Ruhe kommen lässt. Die Wahl, jeweils T. oder den Diktator in den personalen Mittelpunkt zu stellen, ermöglicht es Lemebel, neben den lebhaften Schilderungen der Ereignisse und des Lebens in Santiago, des Alltags unter der strengen Überwachung einer Militärdiktatur, tief in die Gedankenwelt seiner Hauptfiguren einzudringen. Hier verändert sich auch die Sprache deutlich, wechselt von bildgewaltig und poetisch zu einer offenen, sehr direkten Ausdrucksweise, sobald es um die Gedanken von T. geht, die ihre sexuellen Erlebnisse, Wünsche und Träume in ihrer Phantasie auslebt, und zu humorvoller Selbstkritik, mit der T. sich selbst bei ihren impulsiven Auftritten beobachtet.

Fazit

Ein beeindruckender Roman, der durch seine facettenreiche, lebhafte Intensität und die poetische, ausdrucksstarke Sprache noch lange in den Gedanken nachhallt.

Herz der Finsternis – Joseph Conrad

AutorJoseph Conrad
Verlag Penguin Verlag
Erscheinungsdatum 13. Oktober 2022
FormatTaschenbuch
Seiten173
SpracheDeutsch
ÜbersetzerFritz Güttinger
ISBN-13978-3328109228

„Die einzelnen Abschnitte des Stroms taten sich vor uns auf und schlossen sich hinter uns, als sei der Urwald gemächlich über die Ufer getreten, um uns den Rückweg abzuschneiden. Immer tiefer drangen wir in das Herz der Finsternis ein.“ (Zitat Seite 74)

Inhalt

Während sie auf einer Kreuzerjacht auf der Themse die Flut abwarten, erzählt der Seemann Charlie Marlow seinen Freunden, die Berufe ausüben, wie sie auch in kolonialen Handelsgesellschaften typisch sind, von seiner Reise als Kapitän eines Flussdampfers auf dem Kongo. Der bekannte und äußerst erfolgreiche Agent Kurtz leitet einen wichtigen Handelsstützpunkt, weit abgelegen im Zentrum des Elfenbeingebietes. Nun jedoch sind diese Station und somit auch die wirtschaftlichen Erträge aus dem Handel mit Elfenbein gefährdet, denn Kurtz ist krank und Marlow soll ihn mit dem Dampfer holen. Doch je weiter diese Reise auf dem Fluss führt, hinter dessen Ufern sich der dunkle, unwegsame Dschungel ausbreitet, desto  dunkler werden auch die Eindrücke, die Marlow nicht nur in der Natur, sondern auch im menschlichen Verhalten sammelt.

Thema und Genre

Diese Erzählung, 1899 zunächst als Serie in einem Magazin veröffentlicht, 1902 als Buch, ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus im späten neunzehnten Jahrhundert, der damit verbundenen Menschenverachtung und Grausamkeit gegenüber den ursprünglich dort lebenden Menschen und ihre Ausbeutung.

Charaktere

Neben einem namenlosen Ich-Erzähler der Rahmenhandlung ist es der Seemann Charlie Marlow, der seine eindrücklichen Erlebnisse auf seiner Reise zu einer abgelegenen Handelsstation schildert. Doch im Mittelpunkt seiner Geschichte steht Kurtz als zunächst omnipräsenter Schatten.

Handlung und Schreibstil

Der Seemann Charlie Marlow schildert Erlebnisse, Erfahrungen und auch Eindrücke, die ihn auch heute noch verfolgen. Chronologisch erzählt er von dieser abenteuerlichen Reise auf dem Kongo, beschreibt seine vielseitigen Gedanken über die Eindrücke der ihm fremden Natur und über den ihm vorerst noch unbekannten Agenten Kurtz, der ein besonderer Mensch sein soll.

Auch diese Geschichte des Schriftstellers Joseph Conrad hat autobiografische Hintergründe, seine Erfahrungen aus seiner aktiven Zeit bei der französischen und britischen Handelsmarine und vor allem die Erlebnisse seiner Kongo-Reise als Kapitän eines kleinen Dampfbootes.

Diese Ausgabe ist neu als Penguin Edition der Klassiker erschienen und in der editorischen Notiz am Buchende wird begründet, warum man die Sprache nicht unserem heutigen Verständnis angepasst hat, sondern die deutsche Übersetzung in der Sprache der ursprünglichen englischen Originalausgabe belassen hat. Dem kann ich persönlich nur zustimmen, denn Klassiker sind immer auch zeitlos gültige Dokumente der Zeit, in der sie verfasst wurden.

Fazit

Die Romane und Erzählungen von Joseph Conrad zählen zu den wichtigsten Werken der englischen Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diese Erzählung, längst ein Klassiker, war 1899 einerseits einer der ersten Beiträge zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, gleichzeitig ist es ein spannend zu lesender Abenteuerroman.

Mein Herz so weiß – Javier Marías

AutorJavier Marías
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 5. April 20212
FormatTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinElke Wehr
ISBN-13978-3596194599

„Jeder zwingt jeden, nicht so sehr, etwas zu tun, was er nicht will, als etwas zu tun, von dem er nicht weiß, ob er es will, denn fast niemand weiß, was er nicht will, es ist nicht möglich, das zu wissen.“ (Zitat Seite 217)

Inhalt

„Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe es erfahren …“ so beginnt dieser Roman. Juan, der nun erwachsene, seit weniger als einem Jahr selbst verheiratete Ich-Erzähler, wächst mit Andeutungen auf, die Ehefrauen seines Vaters Ranz betreffend. Es geht um Teresa, die kurz nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise gestorben ist. Teresa war Juans Tante, denn sein Vater hat später deren jüngere Schwester Juana geheiratet, Juans Mutter. Nach Juans Heirat mit Luisa mehren sich in Juans Bekanntenkreis Andeutungen an die Geschehnisse in der Vergangenheit und vor allem Luisa möchte wissen, was damals wirklich passiert ist. „Vielleicht hat er all diese Jahre darauf gewartet, dass in deinem Leben jemand wie ich auftaucht, jemand, der zwischen ihm und dir vermitteln kann, ihr Väter und Söhne seid sehr ungeschickt miteinander.“ (Zitat Seite 169)

Thema und Genre

In diesem Roman, heute ein moderner Klassiker, geht es um die Möglichkeiten der Sprache als Ausdrucksmittel und Kommunikationsform, um Beziehungen, Familie, um Geheimnisse der Vergangenheit, die auch in der Gegenwart präsent sind und diese prägen und um die Frage, ob Verschweigen bereits eine Lüge ist. Wird eine Schuld durch ein Geständnis geringer, oder aber, indem man darüber schweigt und sie eines Tages dann weit zurück in der nicht mehr veränderbaren Vergangenheit liegt?

Charaktere

Juan arbeitet als Dolmetscher und Übersetzer, wie auch Luisa, mit der er seit knapp einem Jahr verheiratet ist. Sogar seine Gedanken sind von der Kraft der Sprache und der Worte durchdrungen. Am Tag seiner Hochzeit fragt ihn sein Vater: „was nun?“ und genau diese Frage stellt sich auch Juan bereits während der Hochzeitsreise und immer wieder in den Monaten danach.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt innerhalb einer Gegenwart, die nicht ganz ein Jahr umfasst, und einer erinnerten nahen und ferneren Vergangenheit. Die Handlung besteht aus einzelnen Episoden, deren Zusammenhänge man erst gegen Ende der Geschichte erfährt, oder auch nicht. Juan schildert seine Geschichte als Ich-Erzähler, wobei seine Gedanken, Überlegungen, Befindlichkeiten und Ängste den größten Raum dieses Romans einnehmen. Es ist bekannt, dass bei Javier Marías die Sprache im Vordergrund steht, die genauen, sehr ausführlichen Beschreibungen der Gedanken seiner Hauptfiguren in langen Satzgebilden. Auch die Konflikte hinterfragen das Verhalten der Menschen in familiären Beziehungen und beobachten es aus unterschiedlichen psychologischen Blickwinkeln und Fragenstellungen.

Fazit

Sowohl die Problematik, die Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt, als auch die kraftvolle Sprache mit langen Sätzen und Satzfolgen, noch ergänzt durch weitere Gedankensprünge und Einschübe in Klammern, machen aus diesem Roman keine Lektüre, die man eben mal so zwischendurch liest, dieses Buch verlangt die Aufmerksamkeit der Lesenden von der ersten bis zur letzten Seite. Diese Zeit sollte man sich nehmen.