Reichskanzlerplatz – Nora Bossong

AutorNora Bossong
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum12. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten296
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518431900

„Sie war nicht einfach nur verliebt in diesen Mann, und ich habe erst später Worte dafür gefunden: Mit ihm glaubte sie in den Himmel aufzusteigen und alles darunter überließ sie der Hölle.“ (Zitat Pos. 1552)

Inhalt

1919 ist Hans Kesselbach zwölf Jahre alt, als er von seinem gleichaltrigen Schulfreund Hellmut Quandt in die Villa der Industriellenfamilie eingeladen wird und dessen Stiefmutter kennenlernt. Magda Quandt ist damals erst neunzehn Jahre alt, und obwohl Hans heimlich in Hellmut verliebt ist, beeindruckt ihn auch dessen junge, schöne Mutter. Als er diese nach beinahe zehn Jahren auf Grund eines schweren persönlichen Verlustes, der sie beide betrifft, wieder besucht, beginnen sie eine Affäre. Zwischen Hans und Magda entsteht eine Verbindung, die trotz aller Konflikte auch bestehen bleibt, als aus Magda Quandt Frau Magda Goebbels geworden ist und Hans diese Verbindung und die völlig veränderte Magda nicht verstehen kann. Hans verlässt Deutschland im Herbst 1938 und ist als deutscher Diplomat im Mailänder Generalkonsulat tätig. Er passt sich an, ist vorsichtig und versucht, sie möglichst unauffällig zu verhalten. „Weniges wollen wir so sehr wie betrogen werden, und Meisterschaft bedeutet ja nichts anderes, als zu wissen, wie man täuscht.“ (Zitat Pos. 2362)

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Roman, Fiktion mit zeitgeschichtlichem Hintergrund, stehen die Menschen, Familiengefüge, Konflikte, zwischenmenschliche Beziehungen, Freundschaft und die Facetten der Liebe. Die Kernthemen persönliche Entscheidungen, die Möglichkeit, dass eine andere Wahl des Lebensweges das gesamte nachfolgende Leben vielleicht hätte verändern können, Schuld, Mitschuld und Mitwissen ziehen sich durch den gesamten Roman. „Es war ja nicht so, dass wir nichts sahen oder hörten oder wussten.“ (Zitat Pos. 1923)

Erzählform und Sprache

Die Handlung dieser Geschichte umfasst die Jahre 1919 bis 1945, doch es geht nicht um historisch bekannte Ereignisse und Fakten, sondern Nora Bossong will mit diesem Roman die Entwicklungen dieser Jahre aus der Sicht der Menschen, besonders ihrer beiden Hauptfiguren Hans und Magda, nachvollziehen und legt ihren präzise beobachtenden Blick auf die persönliche Haltung der Menschen. Magda Goebbels aus unterschiedlichen, nuancierten Blickwinkeln darzustellen, nahe an den bekannten Fakten, aber mit erzählerischer Freiheit, die sich aus einigen vagen Einträgen in Goebbels privaten Tagebüchern ergab, wonach Magda bereits während ihrer Ehe mit Quandt eine Affäre mit einem jungen Studenten hatte und diese Beziehung weiterführte, als sie bereits mit Joseph Goebbels zusammen war. Daraus entstand die fiktive Figur Hans Kesselbach, der die Ereignisse als Ich-Erzähler schildert, ergänzt durch seine Erinnerungen, seine Beobachtungen und die eigenen Gedanken, mit denen er sein Verhalten und auch das seiner Umgebung hinterfragt und die Entscheidungen, die sie treffen. Somit ist er die eigentliche Hauptfigur dieses Romans. Die Handlung verläuft chronologisch und die einzelnen Kapitel sind in übergeordneten Abschnitten zusammengefasst, die den jeweiligen Zeitrahmen angeben und die teilweise einige Jahre überspringen, da es kein historischer Roman ist. Auch die nachdenkliche, präzise Sprache, mit der Nora Bossong auf ihre Figuren blickt und ihnen folgt, ist interessant und packend zu lesen.

Fazit

Ein sehr kluger, vielschichtiger und auf Grund der Erzählform und der Figuren überzeugender Roman zwischen Fakten und Fiktion, in dessen Mittelpunkt die Menschen stehen, ihr Verhalten und die Entscheidungen, die sie treffen. Die Konflikte, Fragenstellungen und Themen sind gerade heute wieder von brisanter Aktualität und regen zum weiteren Nachdenken an. „ … und man entkommt nicht der Geschichte, die man selbst schreibt.“ (Pos. 3231)

Mein Lesemonat September 2024

Mein Lesemonat September 2024 beschäftigte sich mit für den deutschen oder österreichischen Buchpreis nominierten Titeln.

September 2024 – auch in diesem Jahr geprägt von der Neugierde auf nominierte Romane

Printausgaben:

„Die Herrin der Vögel“ von Bachtyar Ali, Unionsverlag, 19. August 2024

„Bücher sind Klamotten fürs Hirn“ Herausgegeben von ‎Ulrike Helmer, Ulrike Helmer Verlag, 14. Mai 2012

„Lauter“ von Stephan Roiss, Jung und Jung, 20. März 2024

„Beteigeuze“ von Barbara Zeman, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 15. August 2024

Auf dem Kindle:

Österreichischer Buchpreis 2024, Herausgeber: Hauptverbund des Österreichischen Buchhandels

„Dorf ohne Franz“ von Verena Dolovai, Septime Verlag, 12. Februar 2024

„Die Projektoren“ von Clemens Meyer, S. FISCHER, 28. August 2024

Beteigeuze – Barbara Zeman

AutorBarbara Zeman
Verlagdtv Verlagsgesellschaft
Datum15. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423284158

„Und der Himmel ist still und das Meer ist still, nur mein Atem geht laut, und als ich mich umdrehe, schwankt der Boden ein bisschen unter dem Gewicht des Meeres und dem von mir.“ (Zitat Seite 19)

Inhalt

Theresa Neges ist vierzig Jahre alt und lebt mit ihrem fünf Jahre jüngeren Freund Josef, einem Austellungsarchitekten für Künstler, in einer kleinen Wohnung in der Wiener Taborstraße. Ursprünglich hat Theresa an der Wiener Angewandten Mode studiert, doch irgendwie hat sich ihr Leben in den Jahren sehr verändert. Seit drei Tagen hat sie wieder Arbeit gefunden, in einem Wiener Café, doch am liebsten lebt sie ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen, füllt den Tag mit spontanen Einfällen und wartet darauf, dass im späten Herbst ihr Lieblingsstern am Himmel auftaucht, Beteigeuze, rot leuchtend im Sternbild Orion.

Thema und Genre

Ein Roman in Fragmenten, Skizzen, Gedankenschnipseln. Es geht um Tagesabläufe und sich spontan ergebende, teilweise skurrile Ereignisse im Leben einer Vierzigjährigen, die beschlossen hat, die Medikamente abzusetzen, die sie auf Grund ihrer psychosozialen Beeinträchtigung nehmen sollte.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte versetzt uns in die innere Welt der Hauptfigur Theresa und so besteht eine Art von Handlung ausschließlich aus den vielen Bewusstseinsströmen Theresas. Auch Gespräche und Dialoge werden von Theresa zuerst in ihren Gedanken interpretiert, umformuliert und kommentiert, sie hört nur, was und wie sie es hören will. Auf mich wirkt diese Figur wie eine in die Jahre gekommene, tragische und deprimierende Pippi Langstrumpf, die sich ihre eigene Welt erschafft, in der sie sich bewegt, wie es ihr gerade passt. Von den Menschen in ihrem Umfeld erwartet sie, dass sich alle ihren skurrilen Ideen und ihrem eigenartigen Verhalten, das sie selbst oft lustig findet, unterordnen. Mich konnte diese Hauptfigur teilweise nicht erreichen. Da es sich bei der Erzählform ausschließlich um die Wiedergabe der Gedanken und inneren Monologe der Wienerin Theresa handelt, ist auch die Sprache entsprechend einfach, ergänzt durch Theresas Wissen zu Themen, die sie interessieren, Lexika-Einträge, die sie in ihren Gedanken wiederholt.

Fazit

Ich habe das Buch auf Grund der Inhaltsbeschreibung des Verlages und der begeisterten Besprechungen in literarischen Fachkreisen und Medien gekauft und kann diese Begeisterung nur bedingt nachvollziehen.

Lauter – Stephan Roiss

AutorStephan Roiss
VerlagJung und Jung
Datum20. März 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990272930

„Ich wachte nicht gern auf, und beim Anblick des Abendhimmels, wolkenlos und indigoblau, fragte ich mich, ob jemals nichts gewesen war – und warum es nicht dabei geblieben ist.“ (Zitat Seite 111)

Inhalt

Leon ist gerade in Kuba, als er die Nachricht erhält, dass seine Mutter im Sterben liegt. Obwohl er sofort aufbricht, kommt er zwanzig Minuten zu spät. Er verliert sich selbst in Kindheitserinnerungen und Jugenderinnerungen, versteht sich selbst nicht mehr, seine Mutter ist in seinen Gedanken immer präsent. Auch seine Freundinnen Vio und Milena und die gemeinsame Noisepunk Band Graógrammán erreichen ihn nur teilweise, wenn er durch die Musik seinen Zorn ausleben kann. Die Einladung eines alten Freundes, der in Venedig lebt, schlägt er zunächst aus, bis er sich völlig unerwartet einer Krebsbehandlung unterziehen muss. Danach tritt er seine Reise nach Italien doch an. „Lass die Haare wehen, Kleiner“, pflegt Vio oft zu ihm zu sagen, doch so einfach ist das nicht.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Trauer, Verlust, Erinnerungen, eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung, um ungebremste Lebensfreude und um das Gegenteil davon, zornige Verweigerung. Wichtige Themen sind Freundschaft und Liebe, und vor allem Musik in vielen Facetten, die Erinnerungen an die leisen Lieder der Mutter und Leons harter, dröhnender Punkrock.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte spielt in der Gegenwart, es sind Episoden, die sich aneinanderreihen, immer wieder in die Vergangenheit abgleiten, in Kindheitserinnerungen, in prägende Erlebnisse einer wild gelebten Zeit. Lebhafte Schilderungen der Eindrücke und Beobachtungen des Alltags der Menschen, zuerst in Kuba, dann in Italien, der Musik, von langen, exzessiven Abenden und Nächten, werden ergänzt durch Gedankenströme und einer inneren, fassungslosen Einsamkeit, die gewollt auch ins Außen getragen wird. Eine Hauptfigur unserer Zeit, die auf der Suche ist. „Du wirst eine Antwort finden, allerdings nicht in deinen Gedanken. Für manche Probleme ist die Lösung keine Erkenntnis, sondern eine Entscheidung. Ein Wagnis.“ (Zitat Seite 128) Auch die Sprache ist genial, spielt mit den vielen Möglichkeiten des Erzählens und man folgt ihr ebenso gebannt, wie dieser Geschichte.

Fazit

Eine packende, begeisternde Mischung aus lebhaft, bunt, laut und sehr dunkel, mit vielen leisen, nachdenklichen Nuancen, großartig erzählt.