Quecksilberlicht – Thomas Stangl

AutorThomas Stangl
Verlag Matthes & Seitz Berlin
Erscheinungsdatum 18. August 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten267
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3751800846

„Wenn ich selbst erzählen müsste, warum ich mich an die Bücher und ans Lesen und später ans Schreiben angehängt habe, wie an etwas, das stärker, fester und lebendiger ist als ich, dann müsste ich wahrscheinlich mit meiner Großmutter oder meinen Großmüttern beginnen.“ (Zitat Pos. 555)

Inhalt

Es beginnt in einem Hinterhof eines Hauses in Wien Simmering, der schreibende Ich-Erzähler stellt sich einen Augenblick im Leben seiner damals dreizehn Jahre alten Großmutter vor, ein Ereignis, das ihr Leben für immer verändert hat. „Du schaust mich an, diese befremdliche Figur aus einer befremdlichen anderen Zeit. Ich muss mir einbilden, dass du mich anschaust, sonst würde es nicht funktionieren.“ (Zitat Pos. 51) Der Autor nimmt Episoden, Situationen aus dem Leben seiner Großmütter und seiner Familie, sowie aus dem Leben des ersten Kaisers von China, und verbindet diese Fragmente neu und beinahe beliebig mit Momenten aus dem Leben von berühmten englischen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, ordnet die Fragmente neu und bringt sie so alle wieder zurück ins Leben.  

Thema und Genre

Im Mittelpunkt stehen das Schreiben und die Literatur als Möglichkeiten des Erinnerns und des unsterblichen Weiterlebens nach dem Tod als Romanfiguren dort, wie die eigene Biografie mit Romanfiguren verknüpft wurde.

Charaktere

Der schreibende Ich-Erzähler stellt seine Frage, ob die Sprache die Wirklichkeit neu erfinden kann, in den Mittelpunkt seiner Geschichte. Zwischen die geschichtlichen Figuren, die er durch sein Schreiben wieder ins Leben gerufen hat, schreibt er immer wieder auch sich selbst. Er schreibt, er beobachtet die leeren Straßen während der Pandemie, holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

Handlung und Schreibstil

Es ist eine Geschichte über das Leben und den Tod, realistisch und philosophisch und immer von allen Seiten betrachtet. Chronologische Abläufe lassen sich in diesem Gefüge nur vage erkennen und entschlüsseln sich nur langsam. Einen Teil bildet die eigene Familiengeschichte in Kindheitserinnerungen, persönlichen Erfahrungen, erzählten Geschichten und auch den Auslassungen darin. Die Gedankenreise führt den schreibenden Ich-Erzähler und auch uns Lesende aber viel weiter, zurück in das Reich von Qin Shihuangdi, erster Kaiser von China, in das ländliche England des neunzehnten Jahrhunderts, zu den englischen Dichterinnen, die dort gelebt haben, in das London des neunzehnten Jahrhunderts und wieder zurück nach Wien, damals und heute. Auch die Sprache ist eine unruhige Reise durch diese wie Schnipsel in die Luft geworfenen, irgendwie wieder aufgefangenen und mit zufälliger Leichtigkeit aneinandergereihten Fragmente, die dann doch, erstaunlicherweise, ein stimmiges Ganzes ergeben.

Fazit

Quecksilberlicht, schon der Titel und das Buchcover bleiben beim Lesen in den Gedanken haften und aus diesem diffusen Licht treten die einzelnen Personen heraus, erzählen kurz aus ihrem Leben, teilen ihre Gedanken mit uns, verschwinden wieder, um dann mit immer neuen Details und Geschichten wieder aufzutauchen. Der Tod begleitet alle diese Fragmente, doch in der Literatur und nun auch in diesem Roman leben sie alle weiter. Für Lesende, die Geschichten mit klar definierten Erzählsträngen schätzen, ist dieser ungewöhnliche Roman vermutlich nicht die richtige Wahl. Wenn man jedoch bereit ist, die gewohnte Wohlfühlzone zu verlassen, so erlebt man mit diesem Buch facettenreiche, ungewohnte und fordernde Lesestunden.

Die Dringlichkeit der Dinge – Markus Grundtner

AutorMarkus Grundtner
Verlag edition keiper
Erscheinungsdatum 22. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten230
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3903322554

„Ich hasse Gedanken, die ohne jegliche Rechtsgrundlage von meinem Kopf Besitz ergreifen und sich auch noch als dessen Eigentümer aufspielen Es ist Zeit, die wahren Besitz- und Eigentumsverhältnisse an meinem Kopf zu klären (Zitat Pos. 85)

Inhalt

Mag. Mathias Gandt, siebenundzwanzig Jahre alt, hat sein Jus-Studium erfolgreich beendet und sich bei einer angesehenen Wiener Rechtsanwaltskanzlei beworben. In zwei Jahren kann er zur Anwaltsprüfung antreten und genau so steht es auf seiner Liste der drei K für die nächsten fünf Jahre: Kanzlei, Karriere, Kind, in dieser Reihenfolge, ein geordneter Ablauf. Doch dann tritt vor dem offenen Bücherschrank am Wiener Margaretenplatz Klaudia Antonini in sein Leben. Nach dreizehn enttäuschenden Jahren in Wien ist die temperamentvolle Italienerin auf dem Weg zurück nach Triest. Doch mit Mathias, der sein Leben nach juristischen Grundsätzen organisiert, wagt sie einen Neubeginn in Wien und fügt den drei K ein viertes K hinzu: K wie Klaudia, wobei sie es mit der Reihenfolge nicht so genau nimmt.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Wendepunkte im eigenen Leben, Neubeginn, Beziehungen,  Lebensplanung, und dazu eine gute Portion an juristischen Themen wie Sachenrecht, Mietrecht, Vertragsrecht und den beruflichen Alltag von Rechtsanwälten.

Charaktere

Mathias ist ein von den Paragrafen überzeugter Jurist und ordnet auch seine Alltagsprobleme nach juristischen Denkmustern. Klaudia handelt spontan, erklärt wortreich, was sie will und was nicht. Mathias sucht die drei K, sie die 3 L: Liebe, Literatur, Lehre.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt in der Gegenwart, Ort der Handlung ist Wien. Die Hauptfigur Mathias ist der Ich-Erzähler. Seine erste richtige Anstellung als Konzipient, nicht mehr nur als Praktikant wie während seines Jus-Studiums, ist ein wichtiger Schritt auf seinem genau geplanten Weg zum Rechtsanwalt. Zwischen den sachlichen Formulierungen der Gesetzestexte fühlt er sich wohl und sicher und er erwartet, dass dieses Jahr, der Zeitraum der Handlung, ebenso strukturiert ablaufen wird. Diese Hauptfigur lässt der Autor auf eine temperamentvolle, spontane Italienerin mit einem Universitätsabschluss in Literatur treffen. Es sind diese Gegensätze, welche die Stärke dieser Geschichte ausmachen, originell, ungewöhnlich und dennoch charmant, und mitten aus dem Leben unserer Zeit gegriffen. Die Sprache verpackt sogar einen Ausflug in eine breite Palette von Rechtsformen und betitelt die Überschriften als Paragrafen mit jeweils einem treffenden Stichwort.

Fazit

Neugierig und gespannt folgt man den beiden Hauptfiguren. Gegensätze ziehen sich an, sagt ein Sprichwort, aber können solche Gegensätze in eine funktionierende Beziehung führen? Ein amüsantes, interessantes Buch, eine originelle Geschichte auch für Lesende ohne besondere juristische Vorkenntnisse. Für mich eine Entdeckung auf der österreichischen Longlist 2022, die mich überzeugt hat.

Mon Chéri und unsere demolierten Seelen – Verena Roßbacher

AutorVerena Roßbacher
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 10. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3-462-00119-8

„Tatsache war: Aus dem völlig vergagelten Kind war eine hundertprozentig chaotisch zusammengewürfelte Erwachsene geworden.“ (Zitat Pos. 2265)

Inhalt

Charly Benz ist dreiundvierzig Jahre alt und lebt in Berlin. Sie arbeitet im Marketing von LuckyLily, einer veganen Foodcompany, wobei Charly weder Veganerin, noch wenigstens Vegetarierin ist. „Ich hatte keine Ahnung von Marketing und machte einen guten Job. Diese Tatsache allein war so himmeltraurig, dass ich hätte heulen können.“ (Zitat Pos. 280) Ihre Post bringt sie alle zwei Wochen zu Herbert Schabowsky, der sie für sie öffnet und sortiert. Dies mit viel Kaffee, Mohawk Red Zigaretten und Gesprächen über Gott und die Welt. Charly ist so etwas wie eine chaotische Optimistin, die sich zu viele Sorgen macht, Single, manchmal einsam, aber nicht unglücklich. Dennoch – zur Zeit fühlt sie sich in der Eintönigkeit gefangen, aber aus eigenem Antrieb schafft sie keinen Neubeginn. Bis mehrere Dinge gleichzeitig geschehen: von ihrer Schwester Sybille hatte sie zum Geburtstag einen Gutschein für die Teilnahme an einer Familienaufstellung bekommen, doch Charly hatte keine Absicht, hinzugehen. Nun trifft sie mit Herrn Schabowsky die Vereinbarung, an dieser Familienaufstellung teilzunehmen, wenn er im Gegenzug dringend notwendige ärztliche Untersuchungen machen lässt, bei denen sie ihn begleitet. Beides setzt völlig unvorhersehbare Ereignisse in Gang.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Romans steht eine eigenwillige, moderne Frau, die sich ihren vielen Fragen und Themen zu stellen versucht. Es geht um Freundschaft, Familie, Beziehungen, Liebe in vielen Facetten, kurz, um die bunte, manchmal verwirrende Vielfalt des Lebens.

Charaktere

Charly isst nicht Schokolade, sondern verkohlte Croissants zum Frühstück, dazu Kaffee und Zigaretten. „Fazit: Mein Leben sah nicht gut aus. Verzehrte Croissants: fünf. Zigaretten: viele. Fertig.“ (Zitat Pos. 320) Sie ist vielleicht nicht perfekt, dafür unwiderstehlich und liebenswert, man wünscht sie sich sofort als BFF, ab der ersten Seite dieses Romans.

Handlung und Schreibstil

Charly Benz ist eine chaotische Ich-Erzählerin, die in Bezug auf ihre Person gerne mal untertreibt. Der Handlungsrahmen umfasst etwa ein Jahr, verläuft nicht unbedingt chronologisch, alles andere wäre bei dieser Ich-Erzählerin auch eher erstaunlich. Ergänzungen durch viele Erinnerungen und Rückblenden lassen Raum für eigene Überlegungen und ergeben in Verbindung mit den aktuellen Ereignissen ein sehr gelungenes Gesamtbild. Die Sprache passt perfekt zu dieser eigenwilligen Hauptfigur.

Fazit

Moderne Frauenliteratur, die zeigt, was in diesem Genre möglich ist, überzeugend und sehr erfrischend, weil ohne Protagonistinnen, die in jammerndem Selbstmitleid versinken. Eine originelle, einfühlsame und positive Geschichte von unglaublich komisch, schräg, skurril bis zu ernst, traurig, nachdenklich – bittersüß, wie das Schokoladekonfekt im Titel.

Österreichischer Buchpreis 2022 – Longlist und Shortlist Debüt

Longlist 2022

Das sind die zehn Titel der Longlist zum Österreichischen Buchpreis 2022 und die drei Titel der Shortlist Debüt 2022

Helena Adler – Fretten (Jung und Jung Verlag)
Iris Blauensteiner – Atemhaut (Verlag Kremayr & Scheriau)
Markus Grundtner – Die Dringlichkeit der Dinge (Edition Keiper)
Monika Helfer – Bettgeschichten und andere (bahoe books)
Reinhard Kaiser-Mühlecker – Wilderer (S. Fischer Verlag)
Anna Kim – Geschichte eines Kindes (Suhrkamp Verlag)
Robert Menasse – Die Erweiterung (Suhrkamp Verlag)
Teresa Präauer – Mädchen (Wallstein Verlag)
Verena Rossbacher – Mon Chéri und unsere demolierten Seelen (Verlag Kiepenheuer & Witsch)
Thomas Stangl – Quecksilberlicht (Verlag Matthes und Seitz Berlin)

Shortlist Debüt 2022

Die für den Debütpreis nominierten Titel (in alphabetischer Reihenfolge):

Lena-Marie Biertimpel – Luftpolster (Leykam Verlag)
Sirka Elspaß – ich föhne mir meine wimpern (Suhrkamp Verlag)
Anna Maria Stadler – Maremma (Jung und Jung Verlag)