Der große Wunsch – Sherko Fatah

AutorSherko Fatah
VerlagLuchterhand Literaturverlag
Datum30. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten384
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630877372

„Ich bin hier, um meine Tochter zu finden, die von Deutschland aus herkam, um einen verrückten Traum zu realisieren, sagte er sich und wusste, schon dieser Anlass für die Reise hätte seinen Vater den Kopf schütteln lasen.“ (Zitat Pos. 46)

Inhalt

Murad lebt in Berlin. Seit der Scheidung von seiner Frau Dorothee hat er den Kontakt zu der gemeinsamen Tochter Naima verloren, doch er war überzeugt, seine Tochter, inzwischen zwanzig Jahre alt und eine moderne junge Frau, gut zu kennen. Bis Naima vor zehn Monaten verschwunden ist. Sie ist einem jungen Glaubenskrieger ins Kalifat Syrien gefolgt und ist nun verheiratet. Murad lässt nach seiner Tochter suchen, sein bester Freund Aziz, verfügt als Kriegsreporter über viele Kontakte. Dann beschließt Murad, sich selbst mit Hilfe von Schleppern in das kurdische Grenzgebiet durchzuschlagen, vor Ort auf neue Informationen zu warten und seine Tochter nach Hause zurückzuholen. In einem kleinen Dorf wartet er auf den Boten, der mit einer syrischen Organisation in Verbindung steht, die Aussteigern, die zurück nach Hause wollen, bei der Flucht aus dem Kalifat zu helfen. Ist die junge Frau, die in einem Audiotagebuch von ihrem Leben berichtet, seine verschollene Tochter Naima? Wie kann er wissen, ob die tief verschleierte Frau auf den Fotos seine Tochter ist? Wenn ja, will sie überhaupt gerettet werden?

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht ein Vater mit kurdischen Wurzeln, der in Deutschland aufgewachsen ist und der Heimat seiner Eltern längst entfremdet, auf der Suche nach seiner Tochter, die sich genau diesen Wurzeln zugewendet hat und schon in der Pubertät den Kontakt zum Vater weitgehend abgebrochen hat. Themen sind Familiengefüge zwischen den Kulturen und Religionen, Freundschaft, Vertrauen, die unterschiedlichen Welten und  Denkweisen in Ost und West, die Einflussnahme der westlichen Politik auf die Konflikte in diesem gefährlichen Krisengebiet.

Charactere

Seine Frau denkt über Murad „immer zu spät und dann in der falschen Richtung unterwegs.“ (Zitat Pos. 868) Sie drängt, will genaue Berichte und Ergebnisse über die Suche nach ihrer Tochter und versteht nicht, dass es in dieser sensiblen, gefährlichen Situation wichtig ist, Geduld zu haben, zu vertrauen und zu warten. Murad und die Menschen, die er trifft, vertiefen in ihren Ansichten und in ihrem Verhalten die Authentizität dieser Geschichte.

Erzählform und Sprache

Es ist eine Geschichte auf vielen Ebenen, in einer personalen Erzählform in deren Mittelpunkt die Hauptfigur Murad steht. Murad reist in ein Dorf im türkisch-syrischen Grenzgebiet, unternimmt mit seinem Fahrer Streifzüge, trifft sich mit seinen Mittelsmännern. Als sein Zimmervermieter ihm ein abgeschiedenes kleinen Haus in Miete überlässt, hat Murad einen Rückzugsort. In den nun folgenden einsamen Stunden und Tagen des Wartens entwickelt sich eine zweite Geschichte, die der Bewusstseinsströme seiner Erinnerungen, Überlegungen und Gedanken. Er denkt über sein Verhältnis zu seiner verschwundenen Tochter nach, fragt sich, was er als Vater hätte besser machen können. Hätte er mehr mit ihr über die kulturellen Wurzeln der Familie gesprochen, hätte sie das vielleicht daran gehindert, selbst in einer ihr völlig fremden Welt danach zu suchen. Kritisch hinterfragt Murad in seinen Gedanken die Eingriffe der westlichen Politik in diese Krisenregion und die kulturellen Unterschiede, die schon in der Familienstruktur beginnen. Im Hintergrund verläuft jedoch, für Murad und damit auch uns Leser zunächst unbemerkt, eine dritte, reale Geschichte, die sich mit kleinen Hinweisen erst zum Ende erschließt. Die Sprache erzählt einfühlsam von der realen und philosophischen Suche eines Vaters nach seiner verschwundenen Tochter, nimmt sich aber auch Zeit für bildintensive Schilderungen der wilden, kargen Landschaft, des Dorflebens, der Menschen und der Natur.

Fazit

Ein beeindruckender, auch sprachlich überzeugender Roman, eine vielseitige Geschichte und eine besondere Art des Erzählens mit wichtigen, aktuellen Themen, der wir mit Interesse und gebannt folgen und die zum weiteren Nachdenken anregt.

Südstern – Tim Staffel

AutorTim Staffel
VerlagKanon Verlag Berlin
Datum30. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten287
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3985680948

„Wir packen all das Unausgesprochene und Übergangene ein, nehmen es mit, warten auf eine nächste Gelegenheit, jeder für sich.“ (Zitat Pos. 1639)

Inhalt

Eines Tages hat die Pharmakologin Vanessa Paschke eine Geschäftsidee, die sie auch umsetzt. Denn sie hat beides, das erforderliche Fachwissen und die notwendigen Verbindungen. Als Kurierdienst ist sie mit ihrem mobilen Apothekenwagen unterwegs und liefert an ihre Kunden alles aus, was diese brauchen, um den Anforderungen ihres täglichen Lebens nicht nur standzuhalten, sondern diese auch erfolgreich zu meistern. Der Berliner Streifenpolizist Deniz Aziz fährt Streife in einem turbulenten Berliner Alltag abseits der Touristenströme, bedingt durch den Personalmangel in mehreren Schichten, immer bemüht, Konflikte zu lösen, und kümmert sich gleichzeitig auch um seinen kranken, alten Vater. Als sie einander treffen, prallen zwei gegenteilige Welten aufeinander, was Vanessa erst ahnt, als sie Deniz plötzlich in seiner Polizeiuniform sieht.

Thema und Genre

Dieser Roman spricht alle brisanten Themen unserer Zeit an, von den fehlenden Arbeitskräften in allen wichtigen Bereichen, vom Großstadtleben auf den Straßen und in den Lokalen und Bars, die Außenseitern eine zweite Heimat sind, von den Krankheiten im Alter, bis zu den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Freundschaft und verständnislosem Schweigen.

Charactere

„Ich heiße Vanessa und bin ein Engel.“ (Zitat Pos. 48) Mit diesem ersten Satz beginnt der Roman. So sehen sie ihre Kunden, so sieht auch sie selbst ihre Tätigkeit, als Botin, die ihre Kunden mit Substanzen für Glücksgefühle und Leistungssteigerung versorgt. Deniz, sein deutscher Vater Markus, seine Streifenkollegin Jovanna Coric, Vanessas Freund Olli, ein Politiker, ihr Bruder Felix, ihr väterlicher Freund Andreas „Bär“, sie alle stehen für eines der Konfliktthemen dieses Romans und in diesem Kontext kennen wir sie, ihr Alltagsleben, ihre Probleme, ihr Schicksal, ihr Verhalten. Weitere Figuren tauchen auf, sobald ein weiteres Thema angeschnitten wird, verschwinden wieder.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte wird abwechselnd von Vanessa und Deniz erzählt, jeweils in der ersten Person, sodass wir in diesen Abschnitten mehr über die beiden Figuren erfahren, was treibt sie an, ihre Wünsche, Gedanken, ihr Verhalten und Handeln. Ihre Beobachtungen schließen die anderen Figuren mit ein, sodass wir auch über diese mehr erfahren. Der Schwerpunkt dieses Autors liegt im Erzählen von Ereignissen, Situationen, und seine Sprache ist ebenso rasant, kurz, präzise. Für Beschreibungen und Schilderungen nimmt er sich keine Zeit. Dafür taucht plötzlich ein surreal-metaphorisches Kapitel auf. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass der Autor zu jenen Schriftstellern gehört, die nicht zuvor die gesamte Handlung und ihre Figuren plotten, sondern dass er seine Figuren einfach losgeschickt hat und dann jeweils neue Ideen hatte, welche brisanten Konflikte unserer Zeit, die ihm ein Anliegen sind, er noch in die Handlung einbauen könnte. Ein Roman aus aneinandergereihten Episoden, welche durch die Hauptfiguren verbunden sind.

Fazit

Eine Sprache, direkt und frontal, ohne Atemholen und Innehalten. Ein Roman wie ein Polizeibericht auf einer der Substanzen, die Vanessa mit ihrem speziellen Kurierdienst ausliefert. Dennoch, oder gerade deshalb, eine sehr interessante Leseerfahrung.

Die Erfindung des Lächelns – Tom Hillenbrand

AutorTom Hillenbrand
VerlagKiepenheuer&Witsch
Datum7. September 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462003284

„Wenn es nicht auf die Farben, die Materialien ankommt, dann wäre nur die Legende wichtig, die durch das Bald geschaffen wird, nicht, ob das Bild selbst weiter existiert.“ (Zitat Pos. 6440)

Inhalt

Der Maler Louis Béroud arbeitet an einem Bild „Mona Lisa im Louvre“. Als er am 22. August 1911 in jenen Salon des Pariser Musée du Louvre kommt, wo Leonardo Da Vincis Mona Lisa, „La Gioconda“, mit vielen weiteren Gemälden ausgestellt ist, ist der Platz an der Wand leer. Das Bild ist verschwunden. Durch diesen dreisten Diebstahl wird „La Joconde“, wie sie in Frankreich genannt wird, wirklich berühmt. Trotz intensiver Suche bleibt das Gemälde verschwunden und irgendwann ruhen die Ermittlungen, denn die brutalen Überfälle der  Bonot-Bande, eine Gruppe von Anarchisten, halten Paris und die Polizei in Atem. Nur einer gibt nicht auf und sucht weiter nach dem verschwundenen Bild: Commissaire Juhel Lenoir.

Thema und Genre

Dieser historische Kriminalroman spielt in der Weltstadt Paris während der Belle Époque, jener berühmten Zeitspanne zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Menschen genießen das rege gesellschaftliche Leben auf den Boulevards, in den Salons, Cafés und Cabarets, in den Ateliers und Galerien der aufstrebenden Künstler und Künstlerinnen entwickeln sich neue, moderne Kunstrichtungen.

Charactere

Wer könnte ein Gemälde stehlen, das unverkäuflich ist, und aus welchem Grund. Bekannte Persönlichkeiten der damaligen Zeit geraten in Verdacht, so auch der Dichter Guillaume Apollinaire, der Maler Pablo Picasso und die exzentrische Tänzerin Isadora Duncan.

Erzählform und Sprache

Die Handlung wird chronologisch geschildert, jedoch  in einer weiten, lebhaften Vielfalt an unterschiedlichen Geschichten mit ebenfalls unterschiedlichen Personenkreisen. Manche der Ereignisse überschneiden einander irgendwann im Lauf der Handlung, aber vor allem gibt uns diese Erzählart ein abwechslungsreiches, authentisches Bild der berühmten Weltstadt Paris, des pulsierenden Lebens in dem gesellschaftlichen und künstlerischen Zentrum dieser Epoche. Gleichzeitig lesen wir einen Kriminalroman mit unterschiedlichen Kriminalfällen und der detektivischen Ermittlungsarbeit am Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht der legendäre Diebstahl der Mona Lisa, wobei der Autor die bekannten, von ihm sehr ausführlich recherchierten, Fakten gekonnt mit Fiktion mischt, denn auch heute noch sind einige Fragen über mögliche Zusammenhänge offen. Dieser Roman spielt mit spannenden, unterhaltsamen Möglichkeiten und Varianten der Geschichte. „Manchmal wollen die Menschen ein klein wenig angeflunkert werden. Daran ist nichts Schlimmes, wenn es seiner guten Sache dient.“ (Zitat Pos. 6887)

Fazit

Ein lebhaftes, buntes, historisches Zeitbild und eine abwechslungsreiche Kriminalgeschichte, in der wir in Paris berühmte Persönlichkeiten der Belle Époque treffen.

Vatermal – Necati Öziri

AutorNecati Öziri
Verlagclaassen Verlag
Datum27. Juli 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3546100618

„Ich dokumentiere mein Verschwinden, und wenn ich mir abends die bunten Graphen anschaue, weil ich vor Angst nicht schlafen kann, bilde ich mir ein, zu verstehen, worauf es hinausläuft.“ (Zitat Pos. 175)

Inhalt

Arda Kaya studiert in Berlin. Doch dann, nach einem Zusammenbruch, die Diagnose lautet Organversagen. Er fährt noch nach Hause, in seine Heimatstadt irgendwo im Ruhrgebiet, damit ihn seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin im Krankenhaus besuchen können. Sein Vater Metin hat die Familie verlassen, bevor er geboren wurde. In den langen Stunden im Krankenzimmer schreibt Arda die Geschichte seines bisherigen Leben auf, als Brief an seinen unbekannten Vater. „Ich werde diese Geschichte aufschreiben, dir und meinen beiden Halbbrüdern. Damit sie wissen, dass sie noch einen Bruder und eine Schwester hatten, damit sie erfahren, wem ihr Vater wie ein Vater war, damit sie schätzen lernen, wie viel Zeit und Liebe sie von dir bekommen.“ (Zitat Pos. 208)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Geschichte einer deutsch-türkischen Familie, die Mutter Ümran ist als kleines Kind nach Deutschland gekommen, ihre Kinder Arda und seine ältere Schwester Aylin sind in Deutschland geboren. Es geht um Söhne, die aus unterschiedlichen Gründen ohne Väter als Vorbild aufwachsen und die als Heranwachsende versuchen, die Rolle der abwesenden Väter einzunehmen, weil es von ihnen erwartet wird. Doch auch die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern ist ein Thema. Weitere Themen sind Freundschaft, Identität, die Suche nach Zugehörigkeit und den Platz im eigenen Leben.

Charactere

Wie Arda aussieht, wissen wir aus seiner eigenen Beschreibung, sein Leben, seine Gedanken, Erfahrungen und Zweifel erfahren wir, als er seine Geschichte niederschreibt. Doch er erzählt nicht nur seine eigene Geschichte, sondern auch die seiner Mutter Ümran, die nie wirklich gefragt worden war, was sie selbst wollte, die dennoch versucht, ihr Leben irgendwie zu meistern und die Geschichte seiner Schwester Aylin, die sich immer um den kleinen Bruder kümmert, bis sie ihren eigenen Weg gehen muss.

Erzählform und Sprache

Arda ist der Ich-Erzähler seiner Geschichte. Chronologisch, jedoch mit Zeitsprüngen, schildert er sein Leben und das seiner Schwester Aylin. Dort, wo Ümran und später auch Aylin ihm jene Ereignisse und Erlebnisse erzählen, die er nicht wissen kann, wird die Erzählform personal. Diese Abwechslung macht die Erzählform interessant, packend und lebhaft. Sie zieht uns als Leser mitten in die Ereignisse, in eine Welt am Rande einer Stadt im Ruhegebiet, deren ehrliche Schilderung durch ihre zornige, manchmal humorvolle Direktheit überzeugt. Auch die Sprache passt sich in den entsprechenden Episoden der Welt der Heranwachsenden an.

Fazit

„Erzählen ist wie Wasser, Metin, einmal unterwegs, findet es seinen Weg von selbst.“ (Zitat Pos. 784) Dieser eindrückliche Roman mit dem ganzen Spektrum menschlicher Gefühle, Hoffnungen und Schicksale hat den Weg zu uns Lesern gefunden.

Südfall – Florian Knöppler

AutorFlorian Knöppler
VerlagPendragon Verlag
Datum16. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten248
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3865328519

„Er hob den Blick, schaute ein paar Seeschwalben hinterher und versuchte an die Zukunft zu denken, daran, wie es jetzt weiterging. Langsam schälten sich ein paar Überlegungen heraus.“ (Zitat Pos. 121)

Inhalt

Der Engländer Dave Milton ist Tierarzt, doch in diesem Sommer 1944 ist er als Soldat der Air Force im Einsatz. Sein Flugzeug wird über dem norddeutschen Wattenmeer abgeschossen, er kann mit dem Fallschirm abspringen und überlebt. Eine alte Frau, alle nennen sie die Halliggräfin, findet ihn, und er könnte auf ihrem Anwesen auf der abgelegenen Hallig Südfall das absehbare Ende des Krieges abwarten. Doch er will zurück nach Hause zu seiner Frau Claire, zuerst entlang der Küste immer in Richtung Norden bis nach Dänemark, und von dort aus nach England. Die Halliggräfin kennt jemanden nahe der deutsch-dänischen Grenze, der ihm mit seinem Boot helfen könnte.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen die Menschen, ihr persönliches Schicksal und ihre Entscheidungen, die sie im Zusammenhang mit Dave, Engländer und somit Feind, treffen müssen, helfen oder melden. Es geht um Mut, Vertrauen, Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen in allen Facetten.

Charactere

Dave könnte sich auf Südfall verstecken, dort in Sicherheit das Kriegsende abwarten. Doch er kann nicht untätig abwarten, er hat keine Geduld, er muss handeln und es zumindest versuchen. Es sind die unterschiedlichen Figuren, die den besonderen Sog dieses Romans ausmachen, ihre persönliche Situation, ihre Probleme und Konflikte, und genau daraus ergeben sich auch die unterschiedlichen Gründe, warum sie Dave auf seiner Flucht helfen.

Erzählform und Sprache

Die Handlung spielt innerhalb eines knappen Zeitraums von wenigen Tagen. Im personalen Mittelpunkt des ersten und des letzten Abschnitts steht Dave. In den vier Abschnitten dazwischen lernen wir jeweils eine eigene, andere Hauptfigur kennen, ihre Gedanken und Verhalten. Auch die zeitliche Abfolge verläuft nicht immer chronologisch, was jedoch in der Kapitelüberschrift zu lesen ist. Die Spannung ergibt sich aus der abenteuerlichen Flucht selbst und der immer neuen Frage, ob und bei wem Dave Hilfe findet. Diese Erzählform ist interessant und ungewöhnlich, dieses gekonnte Verknüpfen und Verändern der Blickwinkel innerhalb einer dennoch klar strukturierten Handlung. Die Sprache überzeugt durch einfühlsame Schilderungen und lebhafte Beschreibungen der Landschaft.

Fazit

Ein faszinierender Roman über eine abenteuerliche Flucht entlang der norddeutschen Küste, in dessen Mittelpunkt jedoch die Begegnungen zwischen sehr unterschiedlichen Menschen stehen, was die Geschichte zu einem beeindruckenden Leseerlebnis macht.

Der Hund, der nur Englisch sprach – Linus Reichlin

AutorLinus Reichlin
VerlagGaliani Berlin
Datum17. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten320
SpracheDeutsch
ISBN-13‏978-3869712857

„Klar, der Hund war dabei, aber jetzt ist er erstens weg. Und selbst wenn er hier wäre, würde er eisern schweigen. Ja, wenn Hunde sich etwas in den Kopf setzen, die können stur sein, denkt Felix.“ (Zitat Pos. 74)

Inhalt

Es ist eine von diesen heißen Tropennächten in Deutschland, genau genommen die erste im Jahr 2022, als alles damit beginnt, dass der vierundsechzig Jahre alte Felix Sell aus Nostalgiegründen zwei vierundvierzig Jahre alte LSD-Pillen ausprobiert. Damit startet ein Abenteuer, das rasch zu einer Reihe von unvorhersehbaren Ereignissen führt, die Felix völlig überfordern und zu überrollen drohen, wäre da nicht der Hund, der ihm mit Rat und Tat, vor allem mit den Ideen dazu, zur Seite steht. Hobo, ein kleiner Jack-Russell Rüde, der nur eines will, dass Felix ihn vor seinen Entführern in Sicherheit und so rasch als möglich zurück in seine Heimat, nach Naples, Florida, bringt.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine moderne Abenteuergeschichte, philosophisch, menschlich, sehr komisch und manchmal sehr surreal, oder doch real?

Charactere

Felix Sell ist ein geschiedener Landschaftsarchitekt in Pension, und lebt allein ein pragmatisches, ruhiges Leben. Anschaffungen berechnet er auf Grund seines Alters mit einem Preis-Leistung-Lebenserwartungsverhältnis. Er mag Katzen, doch diesen Hundeaugen kann er sich auf die Dauer nicht entziehen. Hobo liebt Leckerli und jagt begeistert Stöckchen nach, er ist ein ganz normaler Hund, mit einer Ausnahme: er spricht Englisch, genau genommen amerikanisches Englisch, und dies wesentlich besser als Felix.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, an den ein Handlungsablauf anschließt, der innerhalb eines knappen Zeitrahmens von wenigen Wochen stattfindet und zu der Situation im Prolog führt. Im personalen Mittelpunkt der Geschichte, deren Erzähler manchmal ins Auktoriale wechselt, steht Felix, da neben den Action-Elementen der Handlung auch seine Gedanken und inneren Monologe eine wichtige Rolle spielen. Denn natürlich beschäftigen Felix die Zweifel, ist der Hund nun real, ist eine andere logische Erklärung möglich, als die, dass es sich um eine Halluzination als Folge der beiden Pillen handelt, im letzteren Fall ein Zustand, der bald vorbeigehen sollte. Doch bis er Klarheit hat, versteckt er sich mit Hobo vor dessen Entführern, nur um sicherzugehen. Die Sprache erhöht das Lesevergnügen, unterhält zusätzlich mit den kleinen Missverständnissen durch den amerikanischen Slang des frechen, temperamentvollen Jack Russell Terriers, der wohl nicht nur für mich die eigentliche Hauptfigur in dieser Geschichte ist.  

Fazit

Der knappe Zeitrahmen, Flucht vor Verfolgern, Konflikte mit der Polizei, sorgen für Spannung, die Geschichte selbst mit vielen skurrilen Szenen für lautes Lachen, der kleine, freche Hund für den Wohlfühlfaktor. Es ist ein schmaler Grad zwischen möglicher, logisch argumentierbarer Realität und phantasievoller Einbildung und dem Autor ist genau dieser geniale Mittelweg gelungen.

Mama Odessa- Maxim Biller

AutorMaxim Biller
VerlagKiepenheuer&Witsch
Datum17. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004861

„Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.“ (Zitat Pos. 55)

Inhalt

1971 durfte die jüdische Familie Grinbaum aus der Sowjetunion ausreisen, doch statt in Tel Aviv, wie sein Vater Gena es sich gewünscht und geplant hatte, landen sie in der Bieberstraße 7 im Hamburger Grindelviertel. Hätte Aljona Grinbaum Jahre später ihren Mann auf einer seiner Reisen nach Israel begleitet, hätte dieser vielleicht die junge Deutsche nicht kennengelernt, wegen der er nun seine Frau verlässt. Mischa Grinbaum, der Sohn, ist noch ein Kind, als sie Odessa verlassen, inzwischen ist er längst erwachsen und Schriftsteller. Die großen Lücken in der Geschichte seiner Familie füllen sich erst langsam, verbinden sich mit seinen plötzlich wieder auftauchenden Kindheitserinnerungen, als er nach dem Tod seiner Mutter neben den alten Unterlagen und Fotoalben auch das Manuskript für ihr zweites, nicht mehr veröffentlichtes, Buch findet, und ein Bündel Briefe, die sie im Laufe vieler Jahre an ihn geschrieben, aber nicht abgeschickt hatte.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Generationen- und Familienromans einer russisch-jüdischen Familie steht der Schriftsteller Mischa Grinbaum und natürlich sind Literatur und das Schreiben Themen, doch vor allem geht es um die Konflikte in Eltern-Kind-Beziehungen, um Familiengeheimnisse und der Geschichte der Juden in Russland.

Charactere

Im gedanklichen Hintergrund der Familie immer präsent ist Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, Aljonas Vater, Mischas Großvater, der in Odessa geblieben ist. Mischa beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller schon in jungen Jahren, während seine Mutter zwar ihr ganzes Leben lang ihre eigenen Erfahrungen als Erzählungen niederschreibt, doch als ihr erstes Buch herauskommt, ist sie weit über sechzig Jahre alt. Sie lieben einander, aber besonders Mischa braucht viel Abstand. Den Zugang zu seiner Mutter findet er, indem er über sie schreibt.

Erzählform und Sprache

Mischa schreibt die Geschichte seiner Familie in der ersten Person, in Kapiteln, doch es gibt keine chronologische, fortlaufende Handlung. Es sind, wie in der persönlichen Erinnerung, Episoden, die je nach Situation und Ereignis auftauchen, und daher auch lebhaft wiederholt zwischen den Zeiten wechseln, von der Gegenwart in unterschiedliche Jahre in der Vergangenheit, und wieder zurück. Erzählungen aus dem Buch der Mutter, jeweils ein eigenes Kapitel, vertiefen mit weiteren Details, die der Ich-Erzähler nicht wissen kann. Dennoch, und hier zeigt sich auch in diesem Roman das besondere Können des Autors, entsteht nie eine Unruhe in den Abläufen, es bleiben am Ende keine offenen Erzählstränge, sondern die Einzelteile füllen die Lücken eines im Hintergrund immer präsenten Gesamtbildes einer Familiengeschichte mit allen Höhen, Tiefen, Konflikten und Geheimnissen. Die Sprache ist einfühlsam, in den Beschreibungen präzise, bunt und lebhaft und man liest dieses Buch mit Vergnügen.

Fazit

Eine beeindruckende, vielseitige Familiengeschichte über den Verlust der Heimat, und die Suche nach dem Platz und Sinn im eigenen Leben, in deren Mittelpunkt eine von Konflikten und dennoch tiefer Zärtlichkeit füreinander geprägte Mutter-Sohn-Beziehung steht.

Jenny Erpenbeck über Christine Lavant – Jenny Erpenbeck

AutorJenny Erpenbeck
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Herausgegeben vonVolker Weidermann
Erscheinungsdatum 17. August 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004687

„Das eigene Leben bewahren, ohne den eigenen Willen aufzugeben, Kompromisse eingehen, die einen nicht die Seele kosten – wie das gelingen kann, und auch, wie manche ihrer Figuren tragisch daran scheitern, hat Christine Lavant in ihren Texten beschrieben.“ (Zitat Pos. 817)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist der fünfte Band der Serie „Bücher des Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann. Es geht um Bücher, welche die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck besonders beeindruckt und geprägt haben. Erpenbeck ist dreißig Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein Gedicht von Christine Lavant liest. „Dreißig Jahre alt musste ich werden, bevor ich zum ersten Mal ein Gedicht von Christine Lavant gelesen habe. Bevor sich mir diese fremde Welt aufgetan hat, die ich nicht kannte und dich im ersten Moment wiedererkannt habe.“ (Zitat Pos. 284) Seither folgt sie den Spuren und dem Leben dieser ungewöhnlichen Frau, der einfachen Strickerin und Schriftstellerin und vertieft die biografischen Geschichten mit den Themen Bücher, Lyrik, das Leben als Schriftstellerin.

Umsetzung

Nach einem kurzen Vorwort von Volker Weidermann beginnt Jenny Erpenbeck ihr Essay mit der Frage, wann der richtige Moment sei, um ein Gedicht zu lesen, gibt sich selbst in Gedanken verschiedene Antworten, die ebenfalls Fragen bleiben. Im zweiten Kapitel schreibt sie, was Christine Lavant in ihren biografischen Notizen über das Lesen von Gedichten geschrieben hat und tritt so mit dieser österreichischen Lyrikerin aus Kärnten in einen inneren Dialog. Diesen führt sie in allen weiteren Kapiteln abwechselnd fort, Jenny Erpenbeck berichtet über ihre Erlebnisse während der fünf Jahre, die sie in Graz gelebt hat und beginnt danach mit der Kindheit von Christine Lavant, mit bürgerlichem Namen Christine Habernig, geb. Thonhauser. Erpenbeck folgt einerseits dem von Selbstzweifeln geprägten Leben von Christine Lavant, sucht in den vielen vorhandenen Aufzeichnungen, besonders Briefen, in den Archiven und Museen nach dem Menschen und der Künstlerin. Besondere Aussagen ergänzt Erpenbeck mit entsprechenden Gedichten von Christine Lavant.

Im Anhang finden sich die Lebensdaten von Christine Lavant und die Erklärungen zu den durchnummerierten Fußnoten.

Fazit

Dieses Buch berichtet über das Leben der österreichischen Schriftstellerin Christine Lavant, deren literarisches Werk in der breiten Öffentlichkeit nicht allzu bekannt ist, und in deren Würdigung seit 2016 ein eigener Literaturpreis, der Christine Lavant Preis, verliehen wird.

Die Bücherjägerin – Elisabeth Beer

AutorElisabeth Beer
VerlagDUMONT Buchverlag
Datum1. August 2023
AusgabeKindle Ausgabe
Seiten432 (Print)
SpracheDeutsch
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„Die Sache mit alten Landkarten ist, dass sie einen in die Irre führen. Die Sache mit der Kartografie insgesamt ist, dass sie die Dinge in einem Maßstab darstellt, der natürlich nicht der Realität entspricht.“ (Zitat Pos. 29)

Inhalt

Sarah ist beinahe zehn Jahre alt, ihre Schwester Milena sieben, als ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen. Sie wachsen bei Amalia von Richtershofen, der Schwester ihrer Mutter, in einer Villa bei Köln auf, mit einem Garten, groß wie ein Park.  Tante Amalia ist eine Bücherjägerin und Kartensammlerin und Sarah teilt ihre Liebe zu Büchern. Heute ist Sarah ebenfalls eine Bücherjägerin, Kartensammlerin und Restauratorin von alten Büchern und Dokumenten. Seit dem Tod von Tante Amalia vor sechs Monaten lebt sie zurückgezogen allein in der Villa, umgeben von Büchern. Bis eines Tages nicht der Postbote an der Tür klingelt, sondern Benjamin Ballantyne, Wissenschaftler und Bibliothekar der British Library in London. Kurz vor ihrem Tod hatte Amalia die Britische Bibliothek kontaktiert, es ging um das seit Jahrhunderten verlorene erste Segment der Tabula Peutingeriana. Ben kann Sarah überreden, ihm bei der Suche zu helfen. Der Weg führt sie zu einem Weingut in der Champagne, nach London, und zu einem Landsitz in Essex.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um alte Bücher und besonders um die Suche nach dem ersten Segment der insgesamt zwölf Segmente umfassenden mittelalterlichen Kopie einer ursprünglich spätrömischen Straßenkarte, um Verlust, Trauer, aber auch um die vielen Facetten und Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen.

Charactere

In der Familie galt Amalia als schwierig und exzentrisch, doch nun ist sie Mutter und Familie für ihre beiden Nichten. Ihr Satz „Das kriegen wir schon hin“ bleibt in all den Jahren eine sichere Konstante zwischen Amalia, Sarah und Milena. Nicht erst seit dem Verlust ihrer Tante Amalia zieht sich Sarah in die magische Welt der Bücher zurück, das tat sie schon immer, wenn ihr das reale Leben, die Menschen und die Umgebung zu laut wurden. Als sie auf den Engländer Ben trifft, der Deutsch spricht, als hätte er die Sprache mit Goethe und Schiller gelernt, merkt sie rasch, dass er sie so respektiert, wie sie ist.

Erzählform und Sprache

Sarah erzählt die Geschichte dieser Schatzsuche und gleichzeitig auch die Geschichte ihres bisherigen Lebens, daher ist der Roman in der Ich-Form geschrieben. Die Recherchen und die Reise auf den Spuren von diesem besonderen historischen Artefakt werden chronologisch geschildert. „Eine Karte also voller Abenteuer und Geschichten, deren verlorener erster Teil definitiv einige Umstände und eine plötzliche Reise wert ist.“ (Zitat Pos. 710). Ergänzt werden die aktuellen Ereignisse durch viele Rückblicke in Form von Sarahs Erinnerungen an prägende Erlebnisse ihrer Jugend, und vor allem an ihre Tante Amalia. Als sie den wenigen, kryptischen Notizen von Amalia folgen, tauchen sie auch in deren Vergangenheit ein. Die Sprache ist einfühlsam, humorvoll und angenehm zu lesen.

Fazit

Eine interessante, spannende Suche nach einem wertvollen alten Dokument, dazu sympathische Charaktere, dies ergibt in Summe eine rundum gelungene Geschichte, Lesevergnügen garantiert.

Schrecklich schön und weit und wild – Matthias Politycki

AutorMatthias Politycki
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 2. August 2023
FormatTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3455016956

„Den Wert einer Reise bemesse ich nicht nach ihrem Schwierigkeitsgrad, ihrer Exotik oder sonstigen Rahmenbedingungen, sondern nach den Erkenntnissen, die auf den Wegen der Neugier als Stolpersteine lagen.“ (Zitat Pos. 66)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist kein Reisehandbuch und auch keine Anleitung oder Gebrauchsanweisung für das Bereisen einzelner ferner Länder und Kontinte. Matthias Politycki reist und schreibt seit über vierzig Jahren, besonders prägende Eindrücke und Menschen beeinflussen später seine Romane. Schon in der Einleitung zu diesem Buch stellt er fest, er sei kein Reiseschriftsteller, sondern Schriftsteller und er reise daher meistens um des Reisens willen. Daher ist dieses Buch eine interessante, spannende Mischung aus persönlichen Erlebnissen, Erfahrungen und unterschiedlichen Aussagen und Gedanken zum Thema Reisen, von Politycki selbst und auch von seinen Reisefreunden und Reisefreundinnen. „Wir sind nicht aufgebrochen, um ein besserer Mensch zu werden. Sondern ein anderer. (Zitat Pos. 2440)

Umsetzung

Es ist eine bunte Vielfalt an Themen, die in einzelnen Kapiteln geschildert, hinterfragt, überlegt und als Notizen, Erinnerungen, als Geschichten über Glückliche und gefährliche Erlebnisse, unvergesslich schöne Momente und Eindrücke und ebenso unvergessliche Enttäuschungen erzählt werden. Da geht es um die Faszination von Landkarten, das Märchen vom leichten Gepäck, die Problematik, fremde Sitten und Kulturen trotz der eigenen Vorstellungen und Verhaltensweisen zu verstehen, zu einer Verständigung zu kommen. Es geht um die Frage nach der Sinnhaftigkeit oder sogar Notwendigkeit, nach einem genauen Plan zu reisen, aber auch um Spontaneität. Zwei Kapitel sind einem besonderen Wandern gewidmet, aber nicht auf die höchsten Gipfel, sondern dem Stadtwandern, Städte gehend zu erforschen und dies abseits der von den Reiseführern beschriebenen Wege und Sehenswürdigkeiten. Reisen hat sich in diesen vierzig Jahren, die Politycki als Reisenden geprägt haben, stark verändert, auch darüber schreibt er und, eher gegen seine persönliche Überzeugung, legte er eine persönliche Liste der Tops und Flops an, die er mit uns teilt. Gerade als Schriftsteller und begeisterter Leser zitiert er auch aus Literatur zum Thema Reisen, eine umfassende Erklärung der einzelnen Fußnoten und Quellenangaben findet sich am Ende des Buches.

Fazit

Matthias Politycki selbst beschreibt dieses Buch als ein Buch für alle, die Reisen vom bequemen Ohrensessel aus lesend erleben wollen, aber auch für jene, die tatsächlich immer wieder aufbrechen und ihre eigenen Erfahrungen gesammelt haben. Dies bringt es genau auf den Punkt, für mich war dieses Buch eine unglaublich vielseitige, spannende, interessante und auch poetische Reise.  

Helga Schubert über Anton Tschechow – Helga Schubert

AutorHelga Schubert
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Herausgegeben vonVolker Weidermann
Erscheinungsdatum 5. April 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten112
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462003789

„Und Tschechow lesen: erst den letzten Satz und dann den ersten Satz, dann die letzte Seite, dann die erste, um diese wunderbare Brücke zu sehen. Die er auch für mich baute.“ (Zitat Pos. 859)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist der vierte Band der Serie „Bücher des Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann. Als Helga Schubert gefragt wird, ob sie ein kleines Buch für eine neue Buchreihe schreiben will, in der Schriftsteller über ihre Lieblingsschriftsteller nachdenken, fällt ihr sofort Tschechow ein. Kann sie so einen Text schreiben, während sie gleichzeitig an ihrem neuen Roman arbeitet? Sie kann, denn sie spürt in sich eine innere Brücke zu Anton Pawlowitsch Tschechow, zieht Parallelen zwischen seiner Tätigkeit als Arzt und Schriftsteller und ihrer als klinische Psychotherapeutin und Schriftstellerin. So wie sie über viele Jahre alle guten Erinnerungen gesammelt hat, Liebe, Wärme, Bilder und Musik, so pflegte Tschechow sich alles zu notieren, was er erlebte, Geschichten und Aussprüche, die er hörte, und wenn er etwas davon in einer Erzählung oder Theaterstück verwendet, streicht er es durch. Es ist eine sehr persönliche Reise durch ihr Leben als Schriftstellerin, auf die uns Helga Schubert mitnimmt, und gleichzeitig erschließt sie uns den Schriftsteller und das Werkt Tschechows in vielen Facetten.

Umsetzung

Einem kurzen Vorwort von Volker Weidermann folgt der eigentliche Text von Helga Schubert, der die Überschrift trägt: „Eine Brücke zu Anton Pawlowitsch Tschechow“. Helga Schubert beginnt mit jenem Buch von Tschechow, das sie schon viele Jahre lang begleitet. Es ist eine Kurzgeschichte aus diesem Buch, „Gram“, die sie als junge Studentin zum ersten Mal gelesen hat und die zur wichtigsten Erzählung im Leben der nun 83-jährigen Schriftstellerin wurde. Wir lesen hier die ganze Geschichte. Helga Schubert teilt sie in einzelne Abschnitte, erklärt und interpretiert diese mit ihren eigenen Sichtweisen und persönlichen Eindrücken beim Lesen. Den darum geht es Helga Schubert, sie will uns nahebringen, was sie von diesem Autor auch in Bezug auf Schreibtechniken und schriftstellerischer Disziplin gelernt hat. Gleichzeitig erzählt sie von ihren Reisen noch zu Zeiten der Sowjetunion auf Tschechows Spuren nach Moskau und zu seinem Haus in Jalta auf der Krim, heute Gedenkstätte und Museum, von ihrem Treffen mit einer Nichte Tschechows und von ihrer eigenen Tätigkeit als Schriftstellerin in der DDR. Ihr Text endet mit einem Nachsatz, es folgen Tschechows Lebensdaten und die Erklärungen der durchnummerierten Fußnoten. Den Abschluss bilden Kurzbiografien von Helga Schubert und Volker Weidermann.

Fazit

Dieses Buch zeigt Tschechow nicht nur als Schriftsteller, sondern auch seine vielleicht weniger bekannten Seiten als Familienmensch und macht sofort Laune darauf, seine Erzählungen (wieder) zu lesen, besonders die hier oft zitierte Erzählung „Gram“, über die Katherine Mansfield in ihr Tagebuch schrieb: „Sie ist eines der Meisterwerke der Welt.“ (Zitat Pos. 849)

Wasserläufer – Michael Kröchert

AutorMichael Kröchert
VerlagTropen
Datum15. Juli 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608500165

„An diesem allerersten Abend meiner Reise in den Floß-Sommer spürte ich die unermessliche Tiefe dieses Raumes. Aber noch deutlicher als das fühlte ich mich.“ (Zitat Pos. 126)

Inhalt

Als Alissa, mit der er seit vier Jahren in Berlin in einer festen Beziehung lebt, für ein Semester nach Frankfurt geht, um dort ihre Dissertation in Kunstgeschichte fertig zu schreiben,  nimmt Rio, vierzig Jahre alt, Fotograf und Dokumentarfilmer, eine fünfwöchige Auszeit von seinem aktuellen Job in einer Redaktion. Er hat ein Floß gebaut und will diese Wochen auf dem Soliner See nahe Berlin verbringen, alleine in der Natur, um über sein Leben und seine weiteren Pläne nachzudenken. Doch während er in den Telefonaten mit Alissa weiterhin betont, die Einsamkeit zu suchen, lernt er immer mehr Menschen kennen, Birk und die Ökologiestudentin Johanna, deren Vater eine ökologische Landwirtschaft mit Hofladen betreibt, sowie Jost und seine Frau, die Künstlerin Magda, die auf einer mit allem Komfort und Luxus umgebauten großen holländische Tjalk ebenfalls den Sommer auf dem See verbringen wollen. Als ihm der Trubel auf dem See zu groß wird, flüchtet er in eine versteckte Bucht auf dem kleineren Fernower See. Dort denkt er weiter über seine Pläne nach, denn sein Erfolg als Dokumentarfilmer ist acht Jahre her, er will mit Alissa zusammen sein, wünscht sich ein Kind von ihr, doch die Realität erzählt eine völlig andere Geschichte, er weiß nur noch nicht, welche.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine Art Road-Trip, doch statt auf Highways in der Ferne spielt er auf dem Wasser, im Seengebiet rund um Berlin. Im Zentrum steht ein Mann in der Mitte seines Lebens, der in der Einsamkeit der Natur herausfinden will, wer er ist und was er noch von seinem Leben erwartet. Es geht um Pläne, die ohne Entscheidungen Pläne und Träume bleiben, und es geht um Beziehungen. Auch sozialkritische Themen kurz nach Corona spielen eine Rolle, sowie Politik und Umwelt.

Charactere

Rio ist mit seinem aktuellen Bildschirmjob nicht glücklich, seine Erfolge liegen lange Zeit zurück. Er sucht die Einsamkeit, doch bald braucht er den Alkohol, um diese Einsamkeit zu ertragen, in der ihm die Realität immer öfter zu entgleiten droht. Es sind die männlichen Protagonisten, die diese Handlung dominieren, in der Frauen zwar für manche Ereignisse wichtige, aber doch nur Nebenrollen einnehmen.

Erzählform und Sprache

Rio selbst schildert als personaler Ich-Erzähler seine Geschichte, meistens chronologisch, ergänzt durch Erinnerungen, manchmal aber wechselt er spontan die Zeitabläufe zwischen Ereignissen und Situationen. Seine Gedanken schreibt er als Haikus nieder. „Haikus waren ein wenig wie Wasserläufer – sie waren unwahrscheinlich und autonom.“ (Zitat Pos. 1971) Dominiert wird die Handlung von seinen inneren Monologen, welche die Realität teilweise ins Surreale kippen lassen. Sprachlich beeindruckend sind die Schilderungen der Natur, die jedoch in einem gekonnt gewählten Verhältnis zum Text eingesetzt werden: „Ein Rest grelles, sattes Gold-Orange wurde von einem leuchtenden Blau zugleich sanft und unerbittlich hinter den Horizont gedrückt, bevor das Schwarz kam, um alles zu dominieren. Mit diesem Verlust der Farben kam eine geradezu unbegreifliche Stille.“ (Zitat Pos. 646).

Fazit

In einer Genre-Zuordnung ist von Urlaubs- und Wohlfühlroman die Rede, doch beides ist diese Geschichte meiner Meinung nach nicht, denn was als interessante,  positive Sinnsuche in der Natur beginnt, wird rasch zu einem negativen Sog für die Hauptfigur Rio, auf Grund seiner Unentschlossenheit und seiner inneren Weigerung, endlich Entscheidungen zu treffen. Die zusätzliche Spannung im Handlungsbogen, die durch einen Anschlag in der Nähe aufgebaut werden soll, wirkt auf mich wie ein Fremdkörper in der Handlung, zu konstruiert und somit entbehrlich. Die vielseitigen menschlichen Themen und Aspekte dieser Geschichte waren für mich das wirklich Spannende.

Alles wird gut: Chronik eines vermeidbaren Todes – Matthias Politycki

AutorMatthias Politycki
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 23. April 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3455015843

„Nur die kleinen Geschichten haben ein Ende. Die großen gehen immer weiter. Je öfter sie erzählt werden, desto mehr verzweigen sie sich – wie der Wald, der nach jedem Regen wächst, bis er undurchdringlich scheint.“ (Zitat Pos. 5277)

Inhalt

Josef Trattner, siebenundvierzig Jahre alt, war bis Oktober 2019 in Aksum als Ausgrabungsleiter tätig. Das Rückflugticket für den 7. Februar 2020 hat er bereits in der Tasche, als ihn Weraxa, ein Mitarbeiter, überredet, zum Abschluss das Land zu besichtigen, in dem er drei Jahre lang gearbeitet hat. Mit ihrem Fahrer Mulugata brechen sie am 12. Januar auf. Im kleinen Suri-Dorf Surma Kibish sieht Trattner eine außergewöhnliche Frau, stolz, schön und offensichtlich eine unangepasste Außenseiterin. Ihr Name ist Nasedi, doch alle nennen sie Natu. Als sie am nächsten Tag ihrer Reise an einem der vielen Kontrollpunkte halten müssen, kommt eine Frau zu Trattners Auto und setzt sich wortlos zu ihm auf die Rückbank. Es ist Natu und Trattner weiß nicht, ob sie einfach bis zur nächsten Stadt mitfahren will, oder auf der Flucht ist.

Thema und Genre

Dieser Roman spielt im Südwesten Äthiopiens. Themen sind die alten Traditionen der hier lebenden Völker und Ethnien und das westlich geprägte, europäische Denken. Es sind fundamentale Gegensätze, auch in Bezug auf die Situation der Frauen, die durch die  Unmöglichkeit einer sprachlichen Verständigung zu großen Missverständnissen führen. Kann Liebe stark genug sein, um diese beinahe unüberwindlichen Barrieren zu überwinden?

Charaktere

Der Objektkünstler und Magister der klassischen Archäologie Josef Trattner ist im Grunde eine Art Lebenskünstler, redegewandt, einfallsreich, aber auch unentschlossen und zögerlich. Seine Erfahrungen mit Natu verändern ihn. Nun ist er bereit, Verantwortung zu übernehmen, obwohl Natu für ihn ein Rätsel bleibt. Sie lebt vollkommen in der Gegenwart und jeder Tag mit ihr ist ein neuer Anfang.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung umfasst nur den Zeitraum der Reise Trattners, ergänzt durch Rückblicke in Form von Erinnerungen und Gesprächen. Trattner ist die Hauptfigur und steht im personalen Mittelpunkt dieser Geschichte. So erfahren wir auch seine persönlichen Gedanken und Eindrücke, die sich durchaus von seinem Verhalten unterscheiden können. Er ist eine interessante, facettenreiche Figur, in seiner Widersprüchlichkeit und Zögerlichkeit nahe einem modernen Antihelden. Spannung erhält die Geschichte nicht nur durch die Frage, ob es in dem geschilderten Umfeld eine Zukunft für Trattner und Natu geben könnte, sondern auch durch die abenteuerliche, in diesen Wochen schon sehr gefährliche Reise. Es ist eine beeindruckende Vielfalt an unterschiedlichen Themen und Konflikten, in Verbindung mit authentischen Schilderungen der indigenen Menschen, ihrer Lebensweisen und Traditionen, denen sie sich zu unterwerfen haben. Als Gegensatz zeigt sich immer wieder das von europäischen Traditionen geprägte Verhalten von Trattner. Eindrückliche Landschaftsbeschreibungen ergänzen die Geschichte zu einem facettenreichen Gesamtbild.

Fazit

Dieser Roman brachte mir viel neues Wissen über ein Land und eine Kultur, von denen ich bisher nur wenig wusste. Eine interessante, spannende, in ihrer Vielfältigkeit beeindruckende Geschichte mit überraschenden Wendungen.

Tochter einer leuchtenden Stadt – Defne Suman

AutorDefne Suman
Verlag List Hardcover
Erscheinungsdatum 30. März 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten496
SpracheDeutsch
ÜbersetzerGerhard Meier
ISBN-13978-3471360552

„Seit Anbeginn hat der Mensch etwas erschaffen und zugleich Krieg geführt. Was heute dir gehört, gehörte gestern einem anderen, und morgen wird es wieder ein anderer bekommen.“ (Zitat Pos. 3393)

Inhalt

An diesem Tag im September 1905 kommt der Inder Avinash Pillai, ein britischer Spion, zum ersten Mal in die blühende Metropole und lebhafte Hafenstadt Smyrna, das heutige Izmir. Als er an Bord des Passagierschiffes Afrodit gerade den Sonnenuntergang über der Stadt bewundert, ahnt er nicht, was ihn eines Tages mit dem Mädchen verbindet, das an genau diesem Tag geboren wird. Dieses Geheimnis enthüllt sich ihm Jahre später durch Zufall, als er ein altes Foto sieht, während er an diesem Septembertag 1922, wieder an Bord eines Schiffes, einen letzten Blick auf die brennende Stadt wirft. Das Mädchen selbst entkommt den Flammen und wird von einer türkischen Familie gerettet. Gebannt lauscht auch sie den Geschichten der Romni Yasemin, ohne zu ahnen, dass eine dieser Geschichten auch sie betrifft.

Thema und Genre

In diesem Frauen- und Generationenroman geht es um den Untergang der weltoffenen, multiethnischen Stadt Smyrna, türkisch Izmir, als Folge eines Großbrandes am 13. September 1922, am Ende des Griechisch-Türkischen Krieges. Themen sind die gesellschaftliche Stellung der Frauen im Smyrna des frühen 20. Jahrhunderts, Traditionen, Familie und natürlich die Liebe.

Charaktere

Im Mittelpunkt des Romans stehen Frauen aus vier unterschiedlichen Kulturkreisen: levantinisch, griechisch, türkisch und armenisch, denn es sind die Frauen, die im Hintergrund, aber selbstbewusst auch im Vordergrund, die Geschicke ihrer Familien bestimmen.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird abwechselnd in mehreren Erzählsträngen geschildert, die zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden. Das vor dem Feuer gerettete Mädchen wird von seiner neuen Familie Scheherezade genannt und sie ist es, die später diese Geschichte aufschreibt, daher wird ein Teil in der Ich-Form geschildert, der Großteil des Romans jedoch in der personalen Erzählform. Die jeweiligen Zeitangaben finden sich manchmal im Text der einzelnen Kapitel und Abschnitte, sind aber sehr ungenau gehalten. Hier hätte ich mir präzisere Angaben gewünscht, auch eine genauere Einbindung der historischen Fakten. Insgesamt ist es eine unruhige Erzählform und für mich waren die „Hints“, also Andeutungen, Hinweise auf zukünftige Ereignisse, zu viel. Die Sprache beeindruckt bei den Schilderungen der Stadt, der Menschen, des Alltagslebens, der Stimmungen und ihrer Gefühle, wird jedoch überbordend bei den Beschreibungen einzelner Szenen während des großen Feuers.

Fazit

Die Idee hinter dem Roman, der Plot in Verbindung mit den bekannten historischen Tatsachen, hatten mich neugierig gemacht. Leider konnte mich die Autorin nicht vollkommen überzeugen, sie bleibt sowohl bei der Handlung, als auch bei den Figuren, der Problematik, den Konflikten an der Oberfläche, die geschichtlichen Hintergründe werden nur gestreift. So wurde daraus ein weiterer Frauenroman mit historischem Hintergrund, ein Genre, das sich in den letzten Jahren großer Beliebtheit erfreut. Wer nicht mehr erwartet, wird auch dieses Buch sehr gerne lesen.

Die Liebe an miesen Tagen – Ewald Arenz

AutorEwald Arenz
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 16. Januar 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten384
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832182045

„Fremde Vertrautheit. Ließ sich die Stimmung zwischen ihnen so benennen? Sie sprachen miteinander, als würden sie sich schon lange kennen, aber trotzdem war da dieses Prickeln der Fremdheit.“ (Zitat Pos. 1076)

Inhalt

Clara, Ende vierzig, ist Fotografin und nach dem frühen Tod ihres Ehemannes Paul hat sie nicht vor, wieder eine Beziehung einzugehen. Dann trifft sie Elias, doch dieser ist gerade in einer komplizierten Beziehung, denn Elias ist Schauspieler und pflegt sich auch im realen Leben hinter passenden Rollen zu verstecken. Mit Clara fühlt sich für ihn alles richtig an, er kann er selbst sein. Da erhält Clara ein Jobangebot im sechshundert Kilometer entfernten Hamburg, eine einmalige Chance, wie sie vermutlich nicht noch ein Mal bekommen wird. Kann diese noch so neue Liebe auch als Fernbeziehung funktionieren? Doch dann ist diese Frage plötzlich nicht das größte Problem für Clara und Elias.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Liebe von Menschen, die von früheren Beziehungen geprägt sind, um die damit verbundenen Themen, Probleme und Konflikte.

Charaktere

„Es spiegelte wider, was sie nur schwer benennen konnte: dieses schwebende Gefühl zwischen Trauer und Leichtigkeit, das sie – genau wie echtes Glück – immer nur haben konnte, wenn sie allein war.“ (Zitat Pos. 340) Dieses Gefühl ist typisch für Clara.

„Dieses Gefühl, das im Frühling am stärksten war: dass alles noch kommen würde. Dass er auf etwas wartete.“ (Zitat Pos. 345) Das ist Elias.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, ergänzt durch Erinnerungen in Gedanken und Gesprächen, aus denen sich die Vorgeschichte ergibt. Im Mittelpunkt der einzelnen Kapitel stehen Clara oder Elias oder auch beide und die ihnen nahestehenden Personen, denn es ist auch eine Familiengeschichte. Ewald Arenz erzählt einfühlsam und mit kluger Menschenkenntnis, schildert die Probleme von Partnerschaften zwischen erfahrenen Menschen, spürt den Gedanken seiner Figuren nach, ihren Hoffnungen und Sorgen. Bis zu diesem Punkt gibt dieser Roman bereits genügend Stoff zum Nachdenken über die einzelnen Konflikte und mögliche Entscheidungen. Doch dann bringt der Autor noch ein weiteres Problem in die Geschichte und das war für mich dann zu viel, ich fühlte mich beim Lesen plötzlich wie in einer dieser TV-Serien wo auch pro Kurzfolge ein Problem das nächste jagt. Trotz der vielen Dialoge, die den Roman lebhaft machen und das Lesen angenehm, wurde das letzte Drittel der Geschichte für mich inhaltlich etwas mühsam.

Fazit

Seit ich „Alte Sorten“ gelesen habe, schätze ich den Autor Ewald Arenz sehr und freue mich, wenn ein neuer Roman von ihm auf den Markt kommt. Diesmal jedoch konnte er mich nicht vollkommen überzeugen, ich bin aber sicher, dass viele Lesende das anders sehen werden.

Die Familien der anderen: Mein Leben in Büchern – Christine Westermann

AutorChristine Westermann
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 3. November 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462003017

„Das Leben der anderen, da möchte ich reingucken, das ist es vielleicht auch, was mich zu Büchern hinzieht. Lesen, wie es auch gehen kann mit dem Leben.“ (Zitat Pos. 129)

Thema und Inhalt

In fünfzehn Kapiteln, von denen jedes als Überschrift ein Zitat von einem Schriftsteller oder einer Schriftstellerinnen zum Thema Bücher trägt, schreibt Christine Westermann über ihr Leben. Ihre Geschichte beginnt mit den zwei sehr unterschiedlichen Bücherregalen ihrer Kindheit und Jugend, eines in der Wohnung ihrer Mutter und das andere in der Wohnung ihres Vaters. Sie schildert ihren Werdegang als Journalistin, wobei sie ursprünglich nicht damit gerechnet hatte, dass ihre beruflichen Wege sie zu den Büchern führen würden und dass es ihr gelingen würde, Menschen für Bücher zu begeistern. Ihr Schwerpunkt waren immer Romane, in denen es um Menschen, Familien, Beziehungen ging und siebenundvierzig davon stellt sie in diesem Buch vor. Sie hat nie negative Bewertungen geschrieben, ihr war und ist es wichtig, Bücher zu empfehlen und dabei zu erklären, warum ihr ein Roman gefallen hat und ihre Gedanken und Eindrücke während des Lesens zu schildern.

Umsetzung

Mir gefällt die ungewöhnliche Art, wie Christine Westermann ihr Buch aufgebaut hat. Viele Jahrzehnte lang hat sie sich buchstäblich um den dicken Wälzer hinter Glas im Regal herumgeschlichen, „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Als sie begonnen hat, an diesem Buch zu schreiben, hat sie auch begonnen, „Der Zauberberg“ zu lesen, in kleinen Schritten, mit Unterbrechungen, knapp vor dem Scheitern und dies ist so etwas wie eine Rahmenhandlung zu den Geschichten ihres Lebens in Büchern. Christine Westermann berichtet über Erlebnisse während ihrer Lesereisen, über die vier Jahre als Mitglied des „Literarischen Quartett“, über ihre Sendungen in Radio und Fernsehen, ihre Kolumnen. Sehr spannend und interessant ist das Kapitel über ihre Teilnahme am Deutschen Literaturpreis als Mitglied der Jury. Ich konnte mir nie vorstellen, wie es funktioniert, im ersten Durchgang Hunderte von Büchern zu lesen, hier bekommt man einen Einblick und sieht die Arbeit der Jury und die komplizierten Auswahlverfahren der einzelnen Listen nun mit anderen Augen.

Die siebenundvierzig in diesem Buch besprochenen Romane sind je nach Stichwort in die Texte eingebunden, im Anhang findet sich eine Liste aller Romane, geordnet in der Reihenfolge, in der sie im Buch vorgestellt werden. Das Kapitel fünfzehn beginnt mit folgendem Zitat: „Wenn der Funke nicht überspringt, ist nichts zu machen. Die Klassiker liest man nicht aus Pflicht oder Respekt, sondern nur aus Liebe.“ Italo Calvino (Zitat Pos. 2159). Damit schließt sich der Kreis zu Thomas Mann und dem Zauberberg.

Fazit

Eine unterhaltsame, interessante Zeitreise durch die Geschichten eines Lebens als Journalistin, Moderatorin, Autorin, Leserin und Vorleserin. Die Art, wie sie Bücher vorstellt, macht neugierig auf jene Romane, die man noch nicht kennt, die persönliche Wunschliste wird auch mit diesem Buch wieder länger – und bei mir der Vorsatz, trotzdem, den Zauberberg auch aus meinem Regal zu nehmen und endlich zu lesen.

Wo vielleicht das Leben wartet – Gusel Jachina

AutorGusel Jachina
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 18. August 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten591
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHelmut Ettinger
ISBN-13978-3351038984

„Die Jagd nach Seife, Verpflegung und Kohle für die Lok brachte nichts, doch Dejew hatte das wichtigste Gesetz des Jägers verstanden, Augen und Ohren stets weit offen zu halten.“ (Zitat Pos. 4387)

Inhalt

Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, der Aufstände und des Bürgerkrieges, verbunden mit Ernteausfällen und politischen Entscheidungen, führen in Russland zu einer katastrophalen Hungersnot, bei der Millionen Menschen sterben. Kinder landen in Kinderheimen und Sammelstellen. Fünfhundert dieser Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren soll der Zugführer Dejew von Kasan nach Samarkand bringen, unterstützt von der Kinderkommissarin Belaja. Den Auftrag erhält Dejew am 9. Oktober 1923, doch es gibt keinen Zug, so muss er zuerst eine Lokomotive und Waggons finden. Die Zeit drängt, sollen die Kinder eine Chance haben zu überleben. Die Strecke beträgt mehr als 4.000 Kilometer, die Reise wird mindestens vierzehn Tage dauern und er hat Verpflegung für genau drei, maximal vier Tage bekommen. Doch nicht nur das Essen fehlt, er braucht auch Kleidung, Medikamente für die Kinder, Kohle und Holz für die Lokomotive – es fehlt einfach alles. Doch Dejew, der ehemalige Soldat, der bisher nur Waren transportiert hat, ist fest entschlossen, die Kinder nach Samarkand zu bringen, durch den Bürgerkrieg und unwegsames Gelände, dorthin, wo es genug zu essen geben soll. Seine Ideen und sein persönlicher Einsatz sind waghalsig, kreativ und sehr gefährlich.

Thema und Genre

In diesem Roman mit geschichtlichem Hintergrund geht es um die Hungersnot in Russland in den 1920er Jahren, das Leben der Menschen, vor allem der Kinder. Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen, Obrigkeit, Mut, Zusammenhalt, Menschlichkeit und Liebe, aber auch um Bürgerkrieg, Gewalt und Vorurteile und auch um Schuld und Sühne.

Charaktere

Als ehemaliger Soldat ist der junge Dejew von seinen Erinnerungen traumatisiert. Er ist mutig, scheut keine Gefahren, verzweifelt, wütend und zornig, wenn es ihm nicht gelingt, die dringend notwendigen Dinge zu erhalten. Er beugt sich keiner Obrigkeit und seine beinahe Vorurteile bleiben auch dort bestehen, wo er auf Menschlichkeit trifft.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, in sieben großen Kapiteln, die als Überschrift jeweils die Anzahl der Menschen tragen, die im Mittelpunkt stehen, und dazu den betreffenden Teil der Strecke. Im Laufe der Handlung ergänzen Erinnerungen der einzelnen Figuren die aktuellen Ereignisse. Diese Vorgeschichten der Figuren zeigen jeweils die eigene Entwicklung, Vergangenheit, prägende Erlebnisse und erklären ihren Charakter näher, ihre Einstellung und Handlungen in der Hauptgeschichte. So wird Verhalten, über das man sich beim Lesen zuvor manchmal gewundert hat, erklärt und nachvollziehbar. Spannende Situationen wechseln ab mit Schilderungen von politischen Hintergründen, des Umfeldes und der Natur, die dieser Zug auf seiner langen Reise durchquert, sowie der Gedanken und Befindlichkeiten der einzelnen Hauptfiguren. Diese ausführlichen Schilderungen und die sich wiederholenden ähnlichen Beschreibungen des Zustandes der hungernden Kinder führen trotz der erschütternden Eindrücklichkeit zu Längen. Denn die Sprache spart nicht mit allen grausamen Details, um dann wieder extrem gefühlsbetont ins Schwülstige zu wechseln. Hier wäre meiner Meinung nach weniger mehr gewesen.

Fazit

Eine eindringlicher, beklemmender Roman, geschrieben gegen das Vergessen. Eine packende Geschichte, interessante Hauptfiguren und faktische Hintergründe, lebhafte, sprachgewaltige Schilderungen, obwohl ich mir gerade hier manchmal eine leisere Sprache gewünscht hätte, machen dieses Buch lesenswert.

Leben im Schatten der Stürme: Erkundungen auf der Krim – Landolf Scherzer

AutorLandolf Scherzer
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 20. September 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten318
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3351039783

„Wir Tataren wissen: Wenn du die Erinnerung tötest, tötest du dich. Die Russen sagen: Dem Volk, das nicht über seine Vergangenheit spricht, bleiben auch die Wahrheit über die Gegenwart und die Träume von der Zukunft verschlossen.“ (Zitat Pos. 733)

Thema und Inhalt

Der Schriftsteller und Publizist Landolf Scherzer reist 2019 auf die Krim, er stellt Fragen und hört vor allem zu. So erfährt er die Lebensgeschichten von Krimtataren. Mit dieser Reportagereise erfüllt er den Wunsch seines Freundes Wassja, selbst Krimtatar, der Ende 2018 mit seiner Frau nach Australien auswandert und ihn bittet, für ihn auf die Krim zu fliegen und die Geschichten der Krimtataren aufzuschreiben, damit die Vergangenheit nicht vergessen wird und damit die Deutschen verstehen, was heute auf der Krim geschieht. Auf Wassjas Empfehlung kann er privat bei einer Familie in der Nähe der Stadt Saki wohnen. Als er Babuschka Gulnada fragt, ob sie Ukrainerin, Tatarin, Usbekin oder Russin sei, erhält er die Antwort, sie seien Usbeken und Russen und Ukrainer, zuerst jedoch Tataren, Krimtataren. Darum geht es in dieser Reportage, einerseits um die Vergangenheit, andererseits um das Leben der Menschen auf der Krim und die Veränderungen seit 2014.

Umsetzung

Landolf Scherzer besucht die besten Freunde von Wassja, sechs Brüder, die auf einige seiner Fragen antworten, auf andere nicht, sondern statt dessen ihm Geschichten und Erlebnisse aus ihrem Alltag erzählen. Unterwegs spricht der Autor auch selbst unterschiedliche Menschen an, oder wird von ihnen angesprochen. Alle diese Begegnungen notiert er täglich, dazu die Gespräche, die Geschichten, die er erfährt, die Gastfreundschaft, die er überall antrifft, und ergänzt diese Notizen mit seinem eigenen Tagesablauf und den persönlichen Eindrücken und Erfahrungen, ungewöhnlichen, ernsten, nachdenklichen und skurrilen, erheiternden Erlebnissen. Dennoch bleiben viele offene Fragen. Daher reist er knapp neun Monate später mit einem Freund, der durch seinen Handel mit Heimtextilien Kontakte in die Ukraine hat, ein zweites Mal auf die Krim. Diesmal füllen sich die Lücken in seinen Notizen und er schreibt an Wassja: „Alles, was ich erkunden konnte, werde ich nun versuchen aufzuschreiben. Wie und wann und was, weiß ich noch nicht.“ (Zitat Pos. 3644) Nun ist es aufgeschrieben, in den einzelnen Kapiteln sind jeweils mehrere Geschichten zusammengefasst. Die langen Überschriften skizzieren bereits, worum es im jeweiligen Kapitel geht, so sieht eine der Überschriften aus: „Von Bauern, die auf der Krim tiefe Brunnen bohren, dem Geschichtsbruder, der nach 2014 den Fehler gemacht hat, so viel Knoblauch wie zuvor anzubauen, und dem Zaren, der 1867 Alaska an die USA verkaufen musste.“ (Kapitelüberschrift, Pos. 563, 564)

Fazit

„Ich stehe am Fenster“ – so beginnt diese interessante, abwechslungsreiche, eindrückliche Reportage über die Halbinsel Krim, die wechselvolle Geschichte und die Menschen, die dort leben. Auch wenn man sich in den letzten Monaten bereits durch Sachbücher und Berichte über die Ukraine informiert hat, findet man hier breit gefächerte, vertiefende Einblicke, informatives Wissen und Hintergrundwissen, das man so noch nicht gelesen hat. „Doch Patrioten werden nicht als Patrioten geboren. Patrioten müssen sich die Herrschenden erst durch Ideologie Formen.“ (Zitat Pos. 2613). Dieses Zitat, die Aussage des Chefredakteurs einer Zeitung, ist wohl die beste Erklärung  dafür, warum man dieses Buch, das der Autor den Ukrainern und Russen widmet, die sich für ein friedliches Zusammenleben aller Völker einsetzen, unbedingt lesen sollte.

Mithu Sanyal über Emily Brontë – Mithu Sanyal

AutorMithu Sanyal
HerausgeberVolker Weidermann
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 6. Oktober 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462003666

„Es macht etwas mit mir und zwar jedes Mal, wenn ich es lese. Ich weiß nicht, warum es das tut, ich weiß nicht einmal, ob ich es herausfinden möchte, wie es das tut – aus Angst, damit den Zauber zu brechen -, aber ich möchte ein wenig von diesem Zauber teilen.“ (Zitat Pos. 173)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist der zweite Band der Serie „Bücher des Lebens“, herausgegeben von Volker Wiedermann. Die Idee dazu entstand während eines Videogespräches zwischen ihm und Mithu Sanyal. Es ging um Bücher, die Mithu Sanyal geprägt haben und zu der Autorin gemacht, die sie heute ist. Sie hat sich spontan und ohne nachdenken zu müssen für Emily Brontë entschieden. Entdeckt hatte sie das Buch Wuthering Hights auf Grund des gleichnamigen Songs von Kate Bush und sie war erst fünfzehn Jahre alt, als sie diesen Roman zum ersten Mal las. Sie war beeindruckt von dem Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Heathcliff und Cathy. Gleichzeitig konnte sie sich eine mit Heathcliff identifizieren, ein Fremder, ein Außenseiter in der Familie Earnshaw. Bis heute übt dieses Buch eine besondere Magie auf Mithu Sanyal aus und diese Magie möchte sie mit uns teilen.

Umsetzung

An ein kurzes Vorwort von Volker Weidermann schließen Motti an, Zitate der damals vorwiegend ablehnenden Meinungen des viktorianischen Publikums.

In dem folgenden Kapital „Warum“ schildert und erklärt Mithu Sanyal, was dieser Roman für sie bedeutet, in „Worum“ beschreibt sie, worum es in Wuthering Heights geht: Sie beleuchtet Handlung, Charaktere und geschichtliche Zusammenhänge aus vielen unterschiedlichen Perspektiven und ergänzt ihre persönlichen Eindrücke mit einer ebenso breiten Vielfalt an Aussagen, Interpretationen und Sichtweisen. In den beiden folgenden Kapiteln „Leben“ und „Nachleben“ geht es um die Mitglieder der Familie Brontë, vor allem natürlich um Emily Brontë. Mit den Kapiteln „Sex“, „Class“, „Race“ und „Ghosts“ vernetzt sie die Kernthemen dieses inzwischen einhundertfünfundsiebzig Jahre alten Romans mit unserer Zeit, schafft zeitlos aktuelle Verbindungen.

Im Anhang finden sich die Lebensdaten Emily Brontës, die Quellenangabe zu den in den jeweiligen Kapiteln zitierten Textstellen aus dem Originalroman, sowie die Fußnoten.

Fazit

Dieses Buch ist interessante, vielseitige, mit Vergnügen zu lesende Mischung aus literaturwissenschaftlichen Interpretationen und Meinungen und der eigenen Sichtweise von Mithu Sanyal, in Verbindung mit ihren persönlichen Erfahrungen und Gedanken. Mich hat es angeregt, wieder einmal das Original, „Sturmhöhe“ von Emily Brontë, aus dem Regal zu nehmen und mit Mithu Sanyals Anleitung neu zu entdecken.

Die Erweiterung – Robert Menasse

AutorRobdert Menasse
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 10. Oktober 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten653
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518430804

„So geht Politik. Im Grunde ist Politik ein Spiel mit Kulissen, es ist wie im Theater: Vorne hast du symbolische Handlunge, dahinter die Technik.“ (Zitat Pos. 1276)

Inhalt

Begonnen hat alles mit dem Helm des Skanderbeg. Es ist ein ungewöhnlicher Helm mit einem Ziegenkopf auf dem Helmscheitel, zu sehen im Weltmuseum in Wien und ein Symbol für die Geschichte der Skipetaren in Europa. Der Ministerpräsident von Albanien hatte vor seiner Wahl versprochen, sich dafür einzusetzen, dass Albanien Mitglied der Europäischen Union wird. Nun sollen auf Grund der Weigerung Frankreichs nicht einmal die Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. Genau das ist der Moment, in dem Ismael Lani, sein Pressesprecher, den Ministerpräsidenten an Skanderbeg, ihren Nationalhelden, erinnert und Fate Vasa, Künstler und ebenfalls enger Berater des Ministerpräsidenten, die Idee aufnimmt und weiterführt. Albanien fordert die österreichische Regierung auf, den Helm zurückzugeben, was abgelehnt wird. Doch kurz darauf wird der Helm aus dem Museum in Wien gestohlen und rückt so in der Mittelpunkt der Ereignisse rund um die geplante Balkan-Konferenz über eine mögliche EU-Erweiterung.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Europa und die Europäische Union, um die Politik mit ihren Spielchen und Intrigen, aber auch um gesellschaftliche und persönliche Konflikte, Freundschaft, Familie, Beziehungen. Ein Kernthema ist die wechselvolle Geschichte des Westbalkans.

Charaktere

Auch in diesem Roman bringt der Autor seine unterschiedlichen Figuren auf den Weg, einige völlig unabhängig voneinander, andere gemeinsam, oder ihre Wege kreuzen sich im Laufe der Handlung. Mit charmant-bissiger Eleganz definiert er Charaktere, ihre Wünsche, Träume, oder den Verlust derselben. „Wir sind, sagte er, auf der Stelle tretend einen Schritt weiter.“ (Zitat Pos. 5861)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt während der Jahre 2019 und 2020 und wird ergänzt durch Rückblicke in Form von Erinnerungen und Erzählungen über Ereignisse, die in der Vergangenheit stattgefinden haben. Wir folgen den Hauptfiguren, die abwechselnd im Mittelpunkt der Handlung der einzelnen Kapitel stehen. Der Autor lässt sich Zeit, er schickt seine Figuren los, zeigt sie auch in ihrem persönlichen Umfeld, lässt uns an ihren Alltagsproblemen, Zweifeln und Sehnsüchten teilhaben, gleichzeitig führt er uns mit kritischem Witz durch die vielen Facetten der europäischen Politik. Doch der Schein trügt. Gerade hat man es sich noch im unterhaltsamen Lesevergnügen gemütlich gemacht, neugierig, mal schmunzelnd, mal nachdenklich, folgen wir den Entscheidungen und Wirrnissen der einzelnen Figuren, da wenden sich die Ereignisse und es beginnt ein rasanter Showdown.

Fazit

Was mit „Die Hauptstadt“ begann, wird mit diesem facettenreichen Roman, der auch sprachlich begeistert, genial und großartig weitergeführt.  

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