Ein Raum zum Schreiben – Kristin Valla

AutorKristin Valla
Verlagmareverlag
Datum21. März 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinGabriele Haefs
ISBN-13978-3866487376

„Das Haus war nicht nur ein Ort, wo ich schrieb, sondern ein Ort, wo ich mich in Gedanken vertiefen, mich in meinen eigenen Kopf einklinken, Klarheit daran erlangen konnte, was ich wollte und was in mir wohnte. (Zitat Pos. 2826)

Inhalt

Die norwegische Schriftstellerin und freiberufliche Journalistin ist einundvierzig Jahre alt, als sie ein kleines Haus in Roquebrun kauft, ein Dorf in Südfrankreich. Ein Rückzugsort von ihrer Familie in Oslo, um endlich wieder zu schreiben, denn die Veröffentlichung ihrer Romane liegt mehr als zehn Jahre zurück. Während sie zwischen Hoffnung und Verzweiflung versucht, das stark renovierungsbedürftige Haus mit ihren begrenzten finanziellen Mitteln bewohnbar und zu ihrem Eigenen zu machen, liest sie sich, ausgehend von ihrem Vorbild Virginia Woolf und deren Essay „Ein Zimmer für sich allein“ durch Biografien, Texte und Aufzeichnungen von Generationen von Schriftstellerinnen. Für sie alle waren Häuser als persönliche Rückzugsorte ebenfalls ein wichtiges Thema, sei es, um schreiben zu können, sei es umgekehrt, sie schrieben, um diese Häuser erhalten zu können. Sie selbst pendelt zwischen Oslo und Roquebrun, auf der Suche nicht nur nach Handwerkern, sondern auch nach ihren persönlichen Antworten. „Das Haus hatte mir geholfen, wieder eine Schriftstellerin zu werden, auf eine Weise, die ich noch nicht richtig verstanden hatte.“ (Zitat Pos. 2167)

Thema und Genre

In diesem Buch geht es neben den alltäglichen Problemen und Zweifeln bei der Instandsetzung eines alten Hauses vor allem um die Frage, wie es Schriftstellerinnen zu allen Zeiten und trotz aller gesellschaftlichen Probleme gelungen ist, sich einen eigenen Rückzugsort zum Schreiben zu schaffen. Der Bogen spannt sich vom Mittelalter bis in die heutige Zeit, von Christine de Pizan bis zu Chimanda Ngozi Adichie und Leila Slimani.

Erzählform und Sprache

Das Buch ist in acht große Kapitel gegliedert, wobei der jeweilige Text nur mehr in viele kurze Abschnitte unterteilt ist. Die Schilderung des Hauses in Roquebrun, die Erlebnisse während der Umbauzeit und der ersten Aufenthalte, Szenen aus dem Familienalltag in Oslo, eigene Gedankengänge und Überlegungen zum Schreiben, wechseln sich mit Abschnitten aus dem Leben der berühmten Schriftstellerinnen und ihrer Häuser ab. Dabei variiert die Erzählform natürlich ebenso, zwischen Ich-Erzählung und personaler Form. Zahlreiche Zitate und Textausschnitte aus dem Leben der jeweiligen Schriftstellerin gestalten dieses Buch abwechslungsreich. Am Buchende findet sich eine ausführliche Quellenangabe, dem jeweiligen Kapitel zugeordnet und auch in der entsprechenden Reihenfolge im Text. Diese Anordnung ist sehr übersichtlich und regt dazu an, das eine oder andere zitierte Werk selbst zu lesen.

Fazit

Ein ungewöhnliches Buch, vielseitig und mit vielen interessanten Informationen über das Leben von bekannten Schriftstellerinnen, lesenswert.

Atom – Steffen Kopetzky

AutorSteffen Kopetzky
VerlagRowohlt Berlin
Datum11. März 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten416
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3737101523

 „Er sammelt die Schätze ein, versteckt sie und verschwindet. Dann übergibt er stückweise wichtige Forschung, Ergebnisse, Pläne oder eben Spezialisten – aber er selbst ist nie vor Ort und hat immer noch wesentliches Material in der Hinterhand.“ (Zitat Pos. 4119)

Inhalt

Commander Scully Hamilton, MI6, vermittelt in diesem Sommer 1926 dem begabten Rugby-Spieler, vor allem jedoch in Physik hochbegabten Simon Batley, Student an der Universität Bristol, ein Auslandsstipendium an der Uni Berlin. Neben der Verschwiegenheitsvereinbarung, die er für den britischen Geheimdienst unterschreiben musste, berichtet er auch über die Aktivitäten seines Studienfreundes Sascha, mit dramatischen Folgen. 1939 unterrichtet Simon, inzwischen Dr. Batley und nach England zurückgekehrt, Physik an einem englischen Gymnasium. Er hat sich vom Geheimdienst zurückgezogen und will seine Ruhe. Doch dann tritt Scully wieder in Simons Leben, mit dem Oslo-Report, in dem ein „Wohlgesinnter“ den Briten auf sieben Seiten von den aktuellen Forschungen und Waffen der Deutschen berichtet. Auf einer Liste von deutschen Wissenschaftlern in der Raketenforschung findet Simon den Namen seiner großen Liebe Hedi, Dr.rer.nat. Hedwig von Treyden, die er nach dem Desaster in Berlin ohne Abschied verlassen musste. „Scientific Intelligence“ heißt die neue Spezialabteilung des Geheimdienstes in London, und Simon ist von Anfang an dabei. Berichte über neue deutsche Forschungsprojekte, Waffen von enormer Reichweite und mit unvorstellbarer Zerstörungskraft, führen ihn schließlich zu dem Namen Hans Kammler, General der Waffen-SS und Chefplaner von geheimen, großräumigen, unterirdischen Forschungsstätten. Ein Wettlauf beginnt, denn auch die Amerikaner und die Russen sind an Kammlers Forschungserfolgen interessiert. Parallel zu seinen gefährlichen Einsätzen verliert Agent Batley jedoch nie sein persönliches Ziel aus den Augen, Hedi zu finden und endlich zu erfahren, was damals in Berlin wirklich geschehen ist.

Thema und Genre

In diesem historischen Polit- und Wissenschaftsthriller geht es um die Atomforschung und die Entwicklung der Atombombe im zweiten Weltkrieg, um Spionage, Vertrauen und Verrat. Die Hauptfiguren sind fiktiv, jedoch im Rahmen der geschichtlichen Fakten mit tatsächlichen Ereignissen und realen Namen verbunden.

Erzählform und Sprache

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Wissenschaftler und Geheimagent Simon Batley,

überzeugt von der Notwendigkeit seiner Einsätze, aber nie skrupellos, was ihn menschlich und sympathisch macht. Die Ereignisse verlaufen chronologisch, Zeitsprünge werden durch Datumsangaben im Text und erklärt. Die Spannung steigt stetig, bis zu einem gleichbleibend hohen, jedoch immer rasanteren Spannungsbogen.  Die Handlung wird durch wissenswerte Informationen und Fakten aus diesem wichtigen Kapitel von Wissenschaft und Forschung ergänzt, was diesem Roman eine brisante Aktualität verleiht. Die Sprache ergänzt die Ereignisse durch Beschreibungen der Charaktere, der Örtlichkeiten in den verschiedenen Ländern, ruht kurz in Stimmungsbildern der Natur, bindet auch bekannte Werke der Literatur in die Dialoge ein und rundet so das Lesevergnügen ab.

Fazit

Eine überaus interessante, packende Geschichte, ein rasanter Polit-, Wissenschafts-und Spionagethriller über die Atomforschung und die Entwicklung von Atomwaffen während des zweiten Weltkriegs.

Im Traum suche ich immer das Weite – Hilmar Klute

AutorHilmar Klute
VerlagGaliani-Berlin
Datum13. März 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3869712963

„Ich war einfach unterwegs. Wer reiste, hatte nichts als seine Gegenwart, weil es nur diese eine Welt zum Anfassen und Anschauen gab und keine Kopie davon in irgendeinem digitalen Paralleluniversum.“ (Zitat Pos. 1657)

Inhalt

Volker Winterberg, einundzwanzig Jahre alt, hat im Frühjahr 1987 seinen Zivildienst beendet, seine Freundin Katja und Berlin verlassen und ist in seine Heimatstadt Bochum zurückgekehrt. Dort beginnt er sein Studium an der Universität für Literaturwissenschaften und Philosophie, macht ein Praktikum am Theater, doch ihm ist klar, dass er Schriftsteller werden will. Weniger klar ist ihm, wie und wo sein weiteres Leben stattfinden soll. Er sieht sich und seinen besten Freund, den Objektkünstler Leo, als verlorene Kinder Bochums und sich selbst generell als Verlorenen, verloren in seinem ereignislosten Leben. Daran ändert auch eine gemeinsame Reise mit seinem Freund Leo nach Venedig und dann weiter bis nach Ungarn wenig. Bis er zu einem Literaturtreffen in München eingeladen wird.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Suche nach dem Platz im eigenen Leben, um das Schreiben, um die Welt des Theaters und natürlich um Schriftsteller und die Literatur.

Erzählform und Sprache

Es ist der Student und angehende Schriftsteller Volker selbst, der von dieser Zeitspanne in seinem Leben erzählt. Daher überwiegen die Schilderungen seiner inneren Suche, seine Erinnerungen an den geliebten Großvater, der sein ganzes Leben als Bergmann gearbeitet hat und die vielen Geschichten, die dieser seinem Enkel erzählt hat. Als Ich-Erzähler teilt Volker mit uns seine Gedankenströme, in deren Mittelpunkt seine eigenen Schreibversuche, das Studium, die Literatur und die Schriftsteller stehen, die ihn beeindruckt haben. Lebhaft beschreibt  Hilmar Klute das Leben Ende der Achtzigerjahre in Bochum, seine Hauptfigur umgeben von Theaterleuten und Literaturschaffenden, bekannte, reale Namen. Die Sprache fließt ruhig, unterbrochen durch skurril-schräge Szenen. Sprachlich großartige Episoden, wie Volkers Streifzug durch München, versöhnen mich mit manchen etwas langatmigen Gedankenkreiseln.

Fazit

Diese Geschichte ist ein moderner Entwicklungsroman, eine Suche nach Selbstverwirklichung als Schriftsteller, verknüpft mit der Sehnsucht, aus dem eigenen Leben zu reisen und irgendwo anzukommen.

Sehr geehrte Frau Ministerin – Ursula Krechel

AutorUrsula Krechel
VerlagKlett-Cotta
Datum11. Januar 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608966534

„Letztendlich war ich die Zeugin meines eigenen Lebens. Dass es einem enteignet werden könnte, hätte ich mir bis jetzt nicht vorstellen können.“ (Zitat Pos. 1311)

Inhalt

Eva Patarak arbeitet in dem Kräuterladen, als die Frau mit der roten Mütze zum ersten Mal in diesen Laden kommt. Noch weiß sie nicht, dass sie eine Figur in dem Roman ist, den Silke Aschauer, die Frau mit der roten Mütze, Studienrätin für Latein, schreibt. Silke Aschauer, über deren Unterricht sich ausgerechnet die Eltern ihrer Lieblingsschülerin bei der Direktorin beschweren, weil sie im Unterricht Texte von Tacitus übersetzen lässt, Texte über Kriege, Gewalt und mächtige Herrscherfamilien, sowie das Frauanbild im antiken Rom. Dabei geht es Silke um die besonderen Beziehungen zwischen Müttern und Söhnen, etwas, das ihr selbst von ihrem Körper verwehrt wird. Auch Eva beschwert sich, zuerst bei Silke selbst, dann bei der Justizministerin, denn Eva will auf keinen Fall als Figur in Silkes Roman beschrieben werden. Auch die Justizministerin soll in Silke Aschauers Roman vorkommen, doch in diesem Fall fragt Silke zuvor höflich an.

Thema und Genre

Themen dieses Romans sind die Definitionen von Frau und Mutter, Beziehungen zwischen Müttern und Söhnen, Gesellschaftspolitik und das Frauenbild in der Gesellschaft von der Antike bis heute, wobei die Grenzen immer fließend verlaufen. Gleichzeitig geht es um die Vielfalt der Erzählformen in der Literatur.

Erzählform und Sprache

Im ersten Abschnitt schildert Eva Patarak ihr Leben, ihr Verhältnis zu ihrem Sohn Philipp und ihre Arbeit in einem Kräuterladen in Essen. Im zweiten Abschnitt spielt der Kräuterladen nochmals eine Rolle, doch aus einer anderen Sicht, denn nun erzählt Silke Aschauer aus ihrem Leben als klassische Philologin, von ihrer Liebe zur lateinischen Sprache, aber auch von ihren aktuellen Problemen, die konstant in ihren Gedanken kreisen und die ihr Frausein betreffen. „Ich könnte auch sagen: Von der dritten Person bin ich in die erste Person gerutscht, getaumelt.“ (Zitat Pos. 1347). Parallel dazu wird anhand von Tacitus-Texten Rom unter der Herrschaft von Nero und seiner Mutter Agrippina geschildert und Roms Eroberungszüge gegen die Germanen. Im personalen Mittelpunkt des dritten Abschnitts steht die Justizministerin, ihr politischer Werdegang, ihre Ideen zum Urheberrecht, ihr Familienleben, auch sie hat Kinder, eine Tochter und einen kleinen Sohn. Plötzlich treffen sie zusammen, Eva, ihr Sohn Philipp, die Ministerin und ihr kleiner Sohn. Es ist unglaublich spannend, wie Ursula Krechel mit den unterschiedlichen Erzählformen spielt, ihre Figuren verschiebt, das Kernthema Mütter und Söhne in vielen Facetten darstellt. Auch die berühmte Marienstatue, die Goldene Madonna im Dom zu Essen, führt zu umfassende Betrachtungen, zu weiteren Gedankenströmen, wie sie sich durch den gesamten Roman ziehen, um die vielen unterschiedlichen Aspekte einzubinden. Die Entstehung dieses Romans selbst ist ein Thema, geschrieben zwischen 1. April 2022 und 29. Februar 2024.

Fazit

Dieser Roman in seiner Themenvielfalt ist definitiv keine einfache Lektüre, aber beeindruckend und interessant, einerseits durch die Auswahl besonderer Mutter-Sohn-Konstellationen von der Antike bis heute, andererseits durch die vielen sprachlichen Facetten und Wendungen des Erzählens, die überraschen und begeistern. „Sie hatte uns stehen gelassen in der Landschaft, stehen gelassen im Erzählen, im Erzähltwerden. Erzählt, nicht auserzählt und nicht abgeholt.“ (Zitat Pos. 2116). Dieser Roman verlangt Zeit, es ist eine intensive, spannende Lesezeit, die sich lohnt.

Heimweh im Paradies – Martin Mittelmeier

AutorMartin Mittelmeier
VerlagDuMont Buchverlag
Datum11. März 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten192
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3755800330

„Wenn das gewährleistet ist, dann ist es eigentlich wie überall: Tisch, Sessel, Lampe, Bücherreihe, Thomas Mann. Zuhause ist, wo er schreiben kann.“ (Zitat Pos. 44)

Inhalt

Schon mehrmals hatten Thomas und Katia Mann die USA besucht, wo Thomas Mann als prominenter Schriftsteller geschätzt wird. 1938 fällt dann die endgültige Entscheidung und am 21. Februar 1938 treffen sie in New York ein. Im Februar 1942 beziehen sie das nach ihren Wünschen gebaute Haus in Los Angeles, eine Villa mit Blick auf den Ozean, umgeben von einem großzügigen Anwesen  im noblen Stadtteil Pacific Palisades, Sehnsuchtsort für vieler Künstler im Exil. Dort arbeitet Thomas Mann an seinem Roman Doktor Faustus, engagiert sich politisch in Texten, Vorträgen und verfasst Radioansprachen, die über die BBC auch in Deutschland ausgestrahlt werden. Die deutschsprachigen Exilanten sind eine bunte Gruppe mit einem lebhaften Gesellschaftsleben. Was sie eint, ist die Kunst, was sie verbindet, trotz unterschiedlicher Meinungen, ist der sorgenvolle Blick auf die Vorgänge in der alten Heimat, die Haltung Amerikas und die Frage, wie die Zukunft Deutschlands aussehen könnte.

Thema und Genre

„Thomas Mann in Kalifornien“ lautet der Untertitel dieses biografischen Romans und darum geht es, um das Leben der Familie Mann und anderer bekannter deutschsprachiger Künstler im kalifornischen Exil. Themen sind Literatur und Musik, Philosophie, Verlust der Heimat, internationale Politik und natürlich der Krieg.

Erzählform und Sprache

Martin Mittelmeier schildert die Jahre der Familie Mann in Amerika chronologisch von 1938 bis zum Jahr 1952, als die Stimmung in Amerika kippt und die Manns von einem Aufenthalt in der Schweiz nicht mehr nach Amerika zurückkehren. Basierend auf intensive Recherche, Tagebuchberichte, Erinnerungen und das schriftstellerische Werk von Thomas Mann, geht der Inhalt doch weit über eine Biografie hinaus und überzeugt durch eine Vielfalt an Themen, Eindrücken, Schilderungen und eine leichte, angenehm zu lesende Erzählsprache.

Fazit

Ein interessantes, facettenreiches Lesevergnügen, nicht nur im Thomas Mann Jubiläumsjahr 2025.

Vor dem großen Meer – Lorraine Fouchet

AutorLorraine Fouchet
VerlagThiele & Brandstätter Verlag
Datum27. Februar 2025
Ausgabe Gebundene Ausgabe
Seiten 240 Seiten
SpracheDeutsch
ÜbersetzungRenée Legrand
ISBN-13978-3851795592

„Ein Buch ist wie eine Insel. Ich gehe auf ihr spazieren, stelle meine Tasche ab, treffe die Einwohner und höre ihnen beim Reden zu.“ (Zitat Pos. 1641)

Inhalt

Merlin Zannino ist seit drei Jahren Witwer. Mit seiner vierzehnjährigen Tochter Coline und dem Kater Newton lebt er seit drei Monaten in einer neuen Wohnung in Rouen. Kater Newton erkundet die neue Umgebung und es gefällt ihm in der benachbarten Wohnung der geschiedenen Fleur eindeutig besser, als in Merlins Wohnung. So bringen der Kater Newton und ein Roman der Schriftstellerin Prune Baud die beiden zusammen. Prune schildert in ihrem Buch die Île de Groix so lebhaft und beeindruckend, dass Merlin Fleur mit einer Reise auf diese bretonische Insel überrascht. Natürlich wird die Hochzeit der beiden auf der Île de Groix stattfinden und auch die Schriftstellerin ist eingeladen. Prune will absagen, denn sie hat die Insel vor achtzehn Jahren für immer verlassen, zu schmerzlich sind die Erinnerungen. Doch dann entscheidet sie sich, an der Hochzeit teilzunehmen. „Die Antwort ist unterwegs. Sie kann im Augenblick noch nicht ahnen, dass sie gerade ihr Leben verändert hat.“ (Zitat Pos. 376)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es nicht um Patchwork-Familien, sondern sogar um Patchwork-Generationen in teilweise eigenwilligen Zusammenstellungen. Es geht um Beziehungen, Eltern und Kinder, Familienkonflikte, Verlust und Trauer, aber auch um Lebensfreude und Neubeginn. Wichtige Themen sind die Liebe und die romantische bretonische Insel.

Erzählform und Sprache

Lorraine Fouchet lässt abwechselnd Merlin und Fleur in der Ich-Form die Geschichte selbst erzählen, beide stellen sich zu Beginn der Handlung durch kurze Schilderungen ihres bisherigen Lebens und prägender Ereignisse vor. Im Gegensatz dazu steht Prune im personalen Mittelpunkt der dritten Geschichte, die in parallelen und zeitgleichen Abschnitten mit der Handlung verknüpft wird. Diese Erzählvarianten, in Verbindung mit bildintensiven Schilderungen der Île de Groix und ihrer beeindruckenden Natur, ergeben die Leichtigkeit der Handlung. Interessante Familienstrukturen der geladenen Gäste, nachvollziehbare Charaktere, teilweise sehr speziell und skurril und dennoch auf ihre Art liebenswert, sorgen mit ihren ernsten Konflikten, Problemen und Themen dafür, dass die Geschichte niemals oberflächlich wird.

Fazit

Dieser Roman garantiert unterhaltsames Lesevergnügen mit Charme und Tiefgang bis zur letzten Seite.

Von hier aus weiter – Susann Pásztor

AutorSusann Pásztor
VerlagKiepenheuer & Witsch GmbH
Datum13. Februar 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462005684

„Auf jeden Fall würde sie mit etwas beginnen, das irgendwann irgendwohin führte, vielleicht sogar schon bald.“ (Zitat Pos. 211)

Inhalt

Die pensionierte Grundschullehrerin Marlene Hansen braucht dringend einen Klempner, der die Dusche in ihrem Haus repariert. Als Jack Habermann vor ihr steht, erkennt dieser seine ehemalige Lehrerin sofort. Er sieht jedoch noch mehr, er sieht eine Frau, die sich in ihrer wütenden, zornigen Trauer um ihren kürzlich verstorbenen Ehemann Rolf völlig aus dem Leben zurückgezogen hat, niemanden an sich heranlässt und sich antriebslos mühsam durch die Tage quält. „Und morgen würde sie dann weitersehen. Das machte sie schließlich seit Wochen so.“ (Zitat Seite 455). Zuerst räumt Jack ihre Küche auf und zieht, da er ohnedies eine Wohnung braucht, in das Gästezimmer des großen Hauses. Als Marlene beginnt, sich wieder um Anrufe und ihre Post zu kümmern, findet sie einen Brief ihrer ehemals besten Freundin Valerie „Wally“, die in Wien lebt. Vor ihrem Tod hat der bereits unheilbar kranke Rolf einen Brief an Wally geschickt, mit genauen Weisungen, diesen Brief Marlene nur persönlich und in Wien zu übergeben. Zuerst lehnt sie ab, doch dann beschließt sie, mit dem Auto nach Wien zu fahren. Natürlich lässt Jack sie nicht alleine fahren und auch ihre Hausärztin Ida, die vor Jahren Rolfs Praxis übernommen hat, kommt mit.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um eine Frau, die aus Wut über den Tod ihres Mannes völlig aus der Bahn geworfen wird und keinen Grund mehr in ihrem Leben sieht. Themen sind Verlust, Trauer, Familiengefüge, Freundschaft und Veränderungen.

Erzählform und Sprache

Im personalen Mittelpunkt der Geschichte steht Marlene, seit wenigen Wochen Witwe. Die Handlung wird chronologisch erzählt, ergänzt durch Erinnerungen. So ergibt sich langsam ein Bild und wir erfahren, warum Marlene so wütend auf ihren verstorbenen Mann Rolf ist. Es sind die sympathischen, mit ihren Stärken, Schwächen, Problemen überzeugenden Figuren, welche die Handlung tragen. Vor allem Marlene bleibt trotz des Stillstands in ihrem Leben in ihrer wütenden Trauer aktiv, sie zieht sich bewusst zurück, verweigert sich, aber ohne Selbstmitleid. Dies macht die Handlung spannend, man ist neugierig auf mögliche Überraschungen und Wendungen. Auch kleine, magische Momente und Begegnungen fehlen nicht, nicht alles ist erklärbar, aber durchaus möglich.

Fazit

Eine Geschichte über Verlust, Trauer und Veränderungen im Leben, einfühlsam und mit leisem Humor erzählt, aber niemals kitschig. Es macht Freude, diesen Roman zu lesen. 

Wackelkontakt – Wolf Haas

AutorWolf Haas
VerlagCarl Hanser Verlag
Datum9. Januar 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3446282728

„Sie vermutete, Madrisa hätte ihr sagen wollen, man weiß nie, was geschrieben steht, bevor man den letzten Satz gelesen hat. Bevor man am Ende des Buches angekommen ist.“ (Zitat Pos. 2474)

Inhalt

Seit Franz Escher, von Beruf Trauerredner, zu seinem neunzehnten Geburtstag sein erstes Puzzle bekommen hat, tausend Teile, kamen viele weitere dazu. An diesem Tag, über dreißig Jahre später, wartet er auf den Elektriker. Die Wartezeit vertreibt er sich mit dem Puzzle „Die große Welle“, fünfhundert Teile. Das Puzzle ist fertig, der Elektriker noch nicht da, also greift er zu dem Roman, den er am Vorabend zu lesen begonnen hat, ein Mafia-Roman, sein bevorzugtes Genre. Elio Russo, ein junges Mitglied der Mafia, wurde zum Kronzeugen. In einigen Tagen soll Russo mit einer neuen Identität in ein neues Leben in Deutschland entlassen werden, doch er ist überzeugt, nicht vor der Rache der Mafia sicher zu sein. Er kann nicht schlafen und liest weiter in einem Buch über einen Mann namens Escher, der auf den Elektriker wartet.

Thema und Genre

Eine Roman im Roman im Roman, parallel und gleichzeitig gespiegelt, spielt er mit den Möglichkeiten des Erzählens, OFF-ON, diffus wie ein Wackelkontakt.

Erzählform und Sprache

Was mit zwei parallelen Handlungssträngen beginnt, die Geschichte des Puzzle-begeisterten Eigenbrötlers Franz Escher und die Geschichte des jungen Kriminellen Elio Russo, entwickelt sich rasch zu einem spannenden, genialen Verwirrspiel, je weiter Escher und Elio lesen, desto mehr verwischen die Grenzen zur Realität, kommen sie einander im Gelesenen näher, bis sie rasant durch die aktuellen Ereignisse gleiten. Franz Escher denkt über die Formulierungen seiner Trauerreden nach: „Es ging darum, mit seinen Worten den Übergangsbereich zu berühren. Die unsichtbare Nahtstelle zwischen den Welten des tatsächlich Geschehenen und des möglich Gewesenen.“ (Zitat Pos. 1725) Genau darum geht es auch in diesem Roman.

Fazit

Dieser Roman ist eine Wundertüte aus vielen Geschichten, Kriminalroman, Lebensgeschichte, Liebesgeschichte und ein spannendes, amüsantes Verwirrspiel zwischen Romanfiguren und  Erzählebenen, überraschend bis zum letzten Satz.

Im Schnee – Tommie Goerz

AutorTommie Goerz
VerlagPiper Verlag
Datum10. Januar 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten176
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3492073486

„Und er saß noch hier und ließ seine Gedanken im Halbschlaf treiben, hierhin und dorthin, vor und zurück, nein, eigentlich nur zurück.“ (Zitat Pos. 830)

Inhalt

Max ist über achtzig Jahre alt, er ist in Austhal geboren, aufgewachsen und hier geblieben. Die Läden haben längst für immer zugesperrt, es sind kaum mehr Höfe bewirtschaftet. Max steht am Fenster und schaut dem Schnee beim Herabfallen zu, denkt an seine Apfelbäume, die im Frühjahr wieder blühen werden und im Herbst Äpfel tragen. Es hätte wieder ein schöner Tag werden können, wenn nicht plötzlich das Totenglöckchen für Georg geläutet hätte, für Schorsch, seinen bester Freund, und Max weiß, dass für ihn ohne diese besondere Freundschaft die Welt eine andere geworden ist.

Thema und Genre

In dieser Geschichte geht es um das Erinnern, um das einfache Dorfleben zwischen Vergangenheit und Gegenwart, um Verlust, Trauer und Freundschaft.

Erzählform und Sprache

Die Handlung schildert die kurze Zeit zwischen dem Tod von Schorsch und dem Begräbnis, die Nacht der Totenwache und den Tag danach. Ein chronologischer Rahmen, in dessen Mittelpunkt der ruhige, beschauliche Alltag von Max steht, und seine Gedanken. In seinen Erinnerungen und durch die Geschichten, die von den Alten während der Totenwache erzählt werden, wird das einfache Leben in diesem Dorf lebendig, die Veränderungen zwischen damals und heute, der Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft, wenn bei er Kartoffelernte alle zusammenhalfen, und auch, wenn es darum ging, über welche Vorkommnisse beharrlich geschwiegen wird.

Fazit

Es ist eine Geschichte der leisen Töne, mit einer besonderen Erzählsprache, die durch ihre schnörkellose, eindringliche Tiefe die perfekte Ergänzung zum Inhalt bildet, ein beeindruckendes Leseerlebnis.

Über allen Bergen – Valentine Goby

AutorValentine Goby
VerlagList Hardcover
Datum28. November 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten352
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinMarlene Frucht
ISBN-13978-3471360699

„Ein Sonnenstrahl, die Sonne, die draußen auf den Schnee schien, der Schnee, der gleich von den Skiern zur Seite gedrückt werden würde, er musste die ganze Zeit daran denken.“ (Zitat Pos. 963)

Inhalt

Als Vadim verlässt er mit dem Zug Paris, als Vincent Dorselles trifft er in dem kleinen, abgelegenen Ort Vallorcine ein. Die klare, frische Luft der Natur zwischen den hohen, ihn tief beeindruckenden  Bergspitzen der Aiguilles Rouges lässt das Asthma des zwölfjährigen Jungen rasch verschwinden. Als er ankommt, ist das Bergdorf durch hohe Schneemassen von der Außenwelt getrennt. In der zehnjährigen Moinelle findet er bald eine Freundin, die ihn mit dem Alltag des einfachen Lebens in und mit der Natur vertraut macht. Bald fühlt er sich in der ruhigen Freundlichkeit seiner Gastfamilie zu Hause, das Weiß des Winters wird langsam zum Grün des Frühlings und zum Gelb des Sommers. Dann kommt der Herbst und die Realität erreicht auch diese kleine, abgeschiedene Gemeinde.

Thema und Genre

Dieser Coming-of-Age Roman spielt während des Zweiten Weltkriegs in einem zwischen hohen Bergspitzen versteckten Dorf nahe der Schweizer Grenze. Themen sind Familie, Freundschaft, Flucht, Erinnerungen, Einsamkeit und Phantasie, Landleben und die Natur im Laufe der Jahreszeiten.

Erzählform und Sprache

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen der zwölfjährige Vincent und die Menschen in diesem abgelegenen, von hohen Gipfeln umgebenen Bergdorf. Chronologisch führt uns die Autorin durch die Wochen und Monate, indem Vadim-Vincent als Ich-Erzähler uns seine Erlebnisse und Eindrücke schildert. Er lässt uns an seiner Gedankenwelt teilhaben, an seiner Phantasie, die alle Eindrücke und Gefühle in Farbe umsetzt. Als stiller Beobachter denkt er über die Menschen in dieser kleinen Dorfgemeinschaft nach, vor allem jedoch ist er tief beeindruckt von den bizarren, hohen Gipfeln, die das kleine Tal zwischen den bewaldeten Hängen umgeben und die mit den klaren Frühlingstagen immer sichtbarer werden. Auch wenn das eigentliche Thema, der Krieg und die Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten, im Hintergrund immer präsent ist, prägt es diese Geschichte nicht. Hier geht es tatsächlich um die Eindrücke eines zwölfjährigen Jungen aus der Großstadt Paris, der heimlich und mit einer neuen Identität in ein entlegenes Dorf in den Bergen gebracht wird, um in Sicherheit zu sein. Die schnörkellos-klare Ausdrucksform der Sprache ist angenehm zu lesen und passt zum Alter des Ich-Erzählers.

Fazit

Es sind die einfühlsamen und eindrücklichen Beschreibungen der Menschen und die beeindruckenden, anschaulichen Stimmungsbilder der großartigen Natur dieser Bergwelt, die den besonderen Charme und Sog dieses Romans ausmachen.

Über nichts schreiben, als was meine Augen sehen – Aurelia Wyleżyńska

AutorAurelia Wyleżyńska
Verlag Ch. Links Verlag
HerausgeberBernhard Hartmann
Erscheinungsdatum 15. Oktober 2024
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
ÜbersetzerBernhard Hartmann
SpracheDeutsch
ISBN-13 978-3962892258

„Erst schien es mir meine Aufgabe zu sein, Material zu sammeln, um ein Zeugnis der Zeit, der traurigen Wahrheit zu schaffen, dann suchte ich im Schreiben Halt, inzwischen ist es mir zur Gewohnheit geworden.“ (Zitat Pos. 1160)

Thema und Inhalt

Die polnische Schriftstellerin und Journalistin fühlt sich verpflichtet, diese Tagebuch-Aufzeichnungen als Chronistin des Besetzungsalltags in Warschau zu führen.

Als die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939  Polen überfällt, macht Aurelia Wyleżyńska gerade Urlaub in der malerischen Landschaft am Fluss Dnister, nahe der rumänischen Grenze, weit weg von der Hauptstadt. Doch während die Menschen aus dem besetzten Warschau fliehen, entscheidet sie sich für das Gegenteil. Sie kehrt am 3. September 1939 bewusst in ihre Warschauer Wohnung zurück und beginnt, Tagebuch über ihre täglichen Eindrücke in der besetzten Stadt zu führen. Wiederholt besucht sie nun auch wieder das Landgut der Familie in Wielgolas, genießt die Ruhe, um zu schreiben, sich zu erholen. Die Aufzeichnungen in der vorliegenden deutschsprachigen Ausgabe beginnen am 10. August 1939 und enden mit einem letzten Eintrag am 29. Juni 1944. Aurelia Wyleżyńska erlebt die Vorbereitungen zum Warschauer Aufstand noch mit und stirbt am 3. August 1944 an einer Schussverletzung.

Umsetzung

Aurelia Wyleżyńska berichtet von ihren täglichen Spaziergängen und Streifzügen durch Warschau, erlebt die Entstehung des Warschauer Ghettos mit, die Verfolgung und Deportationen. Sie hilft, furchtlos, unermüdlich und wo sie kann, bleibt Anlaufstelle für alle, die Hilfe benötigen, stellt aber die wachsende Angst im Bekanntenkreis fest, wenn es darum geht, zu helfen und Menschen zu verstecken. Sie schreibt über ihre Erfahrungen und Eindrücke, beobachtet auch, wie sich die nicht-jüdische polnische Bevölkerung mit den Monaten verändert, den polnischen Antisemitismus, Denunziantentum und die gegenseitige Hetze. Immer wieder fragt sie sich, wie dieses Polen aussehen wird, wenn der Krieg zu Ende ist. Für Ereignisse, von denen sie gehört oder gelesen, die sie jedoch nicht selbst erlebt hat, verwendet sie bewusst so viele unterschiedliche Quellen wie möglich und spricht mit verschiedenen Personen.

Aurelia Wyleżyńska führt ihre Notizen und Aufzeichnungen handschriftlich und zunächst ungeordnet, um sie für mögliche spätere Artikel festzuhalten. Auch wenn ein Teil der Texte bereits mit der Schreibmaschine abgetippt wurde, hat sie eine Fülle von handschriftlichen Notizen und Artikeln hinterlassen, teilweise unleserlich. Die Aufzeichnungen mussten zunächst in mühevoller Kleinarbeit gesichtet, geordnet und, soweit möglich, in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden. Die vorliegende, gekürzte Ausgabe ist eine Übersetzung auf Basis der 2022 erschienenen zweibändigen polnischen Ausgabe.

Fazit

Ein auf Grund der Authentizität der Berichte und Erfahrungen, der Einfühlsamkeit, der genauen Beobachtungsgabe und auch der sprachlichen Ausdruckskraft der Schriftstellerin und Reporterin Aurelia Wyleżyńska ein beeindruckendes, packendes Zeitdokument.

Vierundsiebzig – Ronya Othmann

AutorRonya Othmann
VerlagRowohlt Buchverlag
Datum12. März 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-349800361

„Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist. Die Sprachlosigkeit ist das Unbeschreibliche, und sie ist selbst Teil des Textes.“ (Zitat Pos. 93)

Inhalt

Die Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann ist in Deutschland aufgewachsen, als Tochter eines êzîdischen Vaters und einer deutschen Mutter. Im August 2014 ist sie einundzwanzig Jahre alt, als sie vor dem Fernsehgerät sitzt und versucht, in Gedanken und Worte zu fassen, was an diesem 3. August 2014 in Shingal geschehen ist, der vierundsiebzigste Ferman, ein Massaker durch IS-Kämpfer an den andersgläubigen Jesiden. Menschen, die fliehen konnten, kommen in den Bergen von Shingal um, die Männer, die im Vertrauen auf ihre arabischen Nachbarn geblieben sind, werden getötet, junge Frauen und Kinder werden auf Sklavenmärkten verkauft. Nach und nach ergibt sich das Bild dieser Ereignisse und der Verbrechen während der Besatzungszeit durch den IS aus den vielen Gesprächen, die sie führt, Camps, die sie besucht, in denen auch Familien leben, die vor dem IS aus Shingal geflohen sind, Fragen, die sie stellt und die doch keine Fragen sind, als sie 2018 in den Irak fliegt und ihre Familie in Silêmanî in der Region Kurdistan besucht. Am ersten Oktober 2022 fliegt sie mit ihrem Vater wieder nach Erbil und gelangt auf abenteuerlichen Wegen von Bagdad über Mossul nach Shingal und damit findet dieser Roman ein formales Ende, auch wenn die Geschichte nicht abgeschlossen werden kann.

Thema und Genre

In dieser literarischen Form eines dokumentarischen Romans zwischen Fakten, Autobiografie, Erinnerungen und tagebuchartigen Aufzeichnungen geht es um den Genozid an den Jesiden, den Versuch, die Ereignisse in einen Text zu fassen, das unvorstellbare Leid, welches der IS über die Menschen in dieser Region gebracht hat und das sich für die Autorin nicht in Worte fassen lässt, aber auch um die karge Schönheit des Landes, um die gelebte Gastfreundschaft und darüber, was Familie bedeutet.

Erzählform und Sprache

Die Texte sind Fragmente, Ronya Othmann schreibt, fügt Worte zu Sätzen zusammen, die Gedanken und Eindrücke kommen und gehen. Wiederholt nähert sie sich und ihre Texte dem Jahr 2014 an, recherchiert in der Bibliothek, liest die Berichte, liest und hört ihre Aufzeichnungen, ergänzt mit ihren persönlichen Erinnerungen, nicht immer chronologisch, aber durch Jahreszahlen und Datumsangaben zuordenbar. Immer wieder die Frage an sich selbst als Schriftstellerin, wie sie über all das Unfassbare schreiben soll, das passiert ist. Sie bezweifelt das erzählerische „Ich“, da sie dies nicht persönlich erlebt hat, die Alltäglichkeiten, die sie beschreibt, eingebunden in die Texte über die Verbrechen an den Êzîden, über die sie aber schreiben muss, damit sie nicht vergessen werden. „Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt. Die verborgenen und aufklaffenden Lücken, nicht unter dem Text, sondern darin.“ (Zitat Pos. 5965)

Fazit

Vielfältig, literarisch ungewöhnlich, eine tief beeindruckende Leseerfahrung.

Pi mal Daumen – Alina Bronsky

AutorAlina Bronsky
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Datum15. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004250

„Moni saß neben mir, nachdem sie ihre Ikea-Tasche in den Gang gestellt hatte. Daraus lugten ein kleiner, bunter Gummistiefel und mehrere Stangen Lauch hervor.“ (Zitat Pos. 91)

Inhalt

Semesterbeginn, die erste Vorlesung Analysis hat schon begonnen, als Moni Kosinsky in den Hörsaal kommt und sich auf den freien Sitz neben Oscar setzt. Oscar, Graf von Ebersdorff, ist erst sechzehn Jahre alt, hochbegabt und sagt immer, was er denkt, da soziales Verhalten und das Knüpfen von Kontakten definitiv kein Thema für den leicht autistischen Einzelgänger sind. Moni, dreiundfünfzig, als Großmutter von drei Enkeln und Inhaberin mehrerer Nebenjobs immer unter Zeitdruck, will sich endlich den Traum vom Mathematik-Studium erfüllen. Da sie in einigen Fächern Zweiergruppen bilden müssen, für Oscar ein notwendiges Übel, das er gerne umgangen hätte, denn „Gut bin ich selber“ (Zitat Pos.134) scheint ihm Moni die beste Lösung zu sein. Womit er Recht hat, denn bald stellt sich heraus, wie gut sie als Zweiergruppe auch die nicht immer einfachen Anforderungen des Alltags meistern.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um zwei Menschen aus unterschiedlichen Generationen und Gesellschaftsschichten, beide sind auf ihre Art Außenseiter. Themen sind Familie, Freundschaft, Vorurteile, Träume und Wünsche an das eigene Leben und natürlich die Mathematik.

Erzählform und Sprache

Oscar ist der Ich-Erzähler der Geschichte und schildert die Ereignisse chronologisch. Da er ein extrem guter Beobachter ist und gewohnt ist, alle Ereignisse, auch die alltäglichsten Kleinigkeiten, in seinen Gedanken genau zu analysieren, erfahren wir nicht nur viel über ihn selbst, sondern auch über Moni und deren Familie. Spannend sind Oscars innere Gedankenströme, denn so können wir besser nachvollziehen, wie einfach für ihn auch sehr komplexe mathematische Fragen zu lösen sind, aber wie herausfordernd es für ihn wird, wenn es um menschliches Miteinander und emotionale Empathie geht. Diese völlig gegensätzlichen Charaktere und ihr ebenso unterschiedliches persönliches Umfeld funktionieren großartig, füllen die Geschichte mit Leben und Spannung. Die mit der Handlung vernetzten mathematischen Themen werden interessant und allgemeinverständlich erklärt. Die Erzählsprache ist eine überzeugend ausgewogene Mischung zwischen einfühlsam, nachdenklich, frech und sehr witzig.

Fazit

Zwei liebenswerte Hauptfiguren und eine unterhaltsame, aber keineswegs triviale Geschichte, die man mit großem Vergnügen liest.

Reichskanzlerplatz – Nora Bossong

AutorNora Bossong
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum12. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten296
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518431900

„Sie war nicht einfach nur verliebt in diesen Mann, und ich habe erst später Worte dafür gefunden: Mit ihm glaubte sie in den Himmel aufzusteigen und alles darunter überließ sie der Hölle.“ (Zitat Pos. 1552)

Inhalt

1919 ist Hans Kesselbach zwölf Jahre alt, als er von seinem gleichaltrigen Schulfreund Hellmut Quandt in die Villa der Industriellenfamilie eingeladen wird und dessen Stiefmutter kennenlernt. Magda Quandt ist damals erst neunzehn Jahre alt, und obwohl Hans heimlich in Hellmut verliebt ist, beeindruckt ihn auch dessen junge, schöne Mutter. Als er diese nach beinahe zehn Jahren auf Grund eines schweren persönlichen Verlustes, der sie beide betrifft, wieder besucht, beginnen sie eine Affäre. Zwischen Hans und Magda entsteht eine Verbindung, die trotz aller Konflikte auch bestehen bleibt, als aus Magda Quandt Frau Magda Goebbels geworden ist und Hans diese Verbindung und die völlig veränderte Magda nicht verstehen kann. Hans verlässt Deutschland im Herbst 1938 und ist als deutscher Diplomat im Mailänder Generalkonsulat tätig. Er passt sich an, ist vorsichtig und versucht, sie möglichst unauffällig zu verhalten. „Weniges wollen wir so sehr wie betrogen werden, und Meisterschaft bedeutet ja nichts anderes, als zu wissen, wie man täuscht.“ (Zitat Pos. 2362)

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Roman, Fiktion mit zeitgeschichtlichem Hintergrund, stehen die Menschen, Familiengefüge, Konflikte, zwischenmenschliche Beziehungen, Freundschaft und die Facetten der Liebe. Die Kernthemen persönliche Entscheidungen, die Möglichkeit, dass eine andere Wahl des Lebensweges das gesamte nachfolgende Leben vielleicht hätte verändern können, Schuld, Mitschuld und Mitwissen ziehen sich durch den gesamten Roman. „Es war ja nicht so, dass wir nichts sahen oder hörten oder wussten.“ (Zitat Pos. 1923)

Erzählform und Sprache

Die Handlung dieser Geschichte umfasst die Jahre 1919 bis 1945, doch es geht nicht um historisch bekannte Ereignisse und Fakten, sondern Nora Bossong will mit diesem Roman die Entwicklungen dieser Jahre aus der Sicht der Menschen, besonders ihrer beiden Hauptfiguren Hans und Magda, nachvollziehen und legt ihren präzise beobachtenden Blick auf die persönliche Haltung der Menschen. Magda Goebbels aus unterschiedlichen, nuancierten Blickwinkeln darzustellen, nahe an den bekannten Fakten, aber mit erzählerischer Freiheit, die sich aus einigen vagen Einträgen in Goebbels privaten Tagebüchern ergab, wonach Magda bereits während ihrer Ehe mit Quandt eine Affäre mit einem jungen Studenten hatte und diese Beziehung weiterführte, als sie bereits mit Joseph Goebbels zusammen war. Daraus entstand die fiktive Figur Hans Kesselbach, der die Ereignisse als Ich-Erzähler schildert, ergänzt durch seine Erinnerungen, seine Beobachtungen und die eigenen Gedanken, mit denen er sein Verhalten und auch das seiner Umgebung hinterfragt und die Entscheidungen, die sie treffen. Somit ist er die eigentliche Hauptfigur dieses Romans. Die Handlung verläuft chronologisch und die einzelnen Kapitel sind in übergeordneten Abschnitten zusammengefasst, die den jeweiligen Zeitrahmen angeben und die teilweise einige Jahre überspringen, da es kein historischer Roman ist. Auch die nachdenkliche, präzise Sprache, mit der Nora Bossong auf ihre Figuren blickt und ihnen folgt, ist interessant und packend zu lesen.

Fazit

Ein sehr kluger, vielschichtiger und auf Grund der Erzählform und der Figuren überzeugender Roman zwischen Fakten und Fiktion, in dessen Mittelpunkt die Menschen stehen, ihr Verhalten und die Entscheidungen, die sie treffen. Die Konflikte, Fragenstellungen und Themen sind gerade heute wieder von brisanter Aktualität und regen zum weiteren Nachdenken an. „ … und man entkommt nicht der Geschichte, die man selbst schreibt.“ (Pos. 3231)

Daniel Kehlmann über Leo Perutz – Daniel Kehlmann

AutorDaniel Kehlmann
HerausgeberVolker Weidermann
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 5. September 2024
FormatGebundene Ausgabe
Seiten112
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004069

„Handlung ist das, was in einer Geschichte passiert – nicht Sprache, nicht Form, nicht Gestaltung, sondern das, was tatsächlich vor sich geht. Handlung ist also das in der Literatur, was selbst nicht Literatur ist.“ (Zitat Pos. 83)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist das sechste Buch aus der Serie „Bücher meines Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann. Daniel Kehlmann schreibt über den österreichischen Schriftsteller Leo Perutz, der ihn begeistert und geprägt hat. Im Vorwort, verfasst von Volker Weidermann, erfahren wir, dass Daniel Kehlmann in seinem Roman „Ruhm“ einer seiner Figuren bewusst den Namen Leo gegeben hat und diesen Roman in der Form des Werkes „Nachts unter der steinernen Brücke“ von Leo Perutz verfasst hat.

Umsetzung

Leo Perutz wollte nicht durch die Biografie seines Lebens bekannt sein, sondern durch sein literarisches Werk. Dieser Einstellung folgt Daniel Kehlmann auch in diesem Buch. In neun Kapiteln bringt er uns Leo Perutz über vier seiner Romane wie „Der schwedische Reiter“ und vor allem „Nachts unter der steinernen Brücke“ näher, ein Roman, den Daniel Kehlmann als metaphysisches Puzzle bezeichnet. Daniel Kehlmann schildert, wie Leo Perutz an den einzelnen Romanen gearbeitet hat, definiert dessen Herangehensweise an die Stoffe, Handlung, Erzählformen und sprachliche Umsetzung. Punktuelle Besprechungen und Erläuterungen der Inhalte werden durch kurze Auszüge präzisiert und ergänzt. Eine Aufstellung der Lebensdaten von Leo Perutz, das Quellenverzeichnis und die Angaben zu den Fußnoten im Text finden sich am Ende dieses Buches.

Fazit

Ein Schriftsteller schreibt über einen Schriftsteller. Dies bedeutet nicht nur viel interessantes, neues Wissen, das dazu anregt, die Romane von Leo Perutz zu lesen, sondern auch sprachliches Lesevergnügen.

Die Projektoren – Clemens Meyer

AutorClemens Meyer
VerlagS. FISCHER
Datum28. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten1056
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3100022462

„Viele Jahre später, als der Cowboy mit seinem Wanderkino in einem alten roten Lastwagen durch endlose Steppen und fremde Berge fuhr, erinnerte er sich falsch, und er sah, wie Negosava und der Mann mit dem karierten Halstuch, der Cowboy der frühen Jahre, der er einmal gewesen war, im Bioskop von Split saßen und einen deutschen Indianerfilm sahen, doch was sind schon die richtigen Erinnerungen, und wo beginnen die Träume und wo die Märchen?“ (Zitat Pos. 2950)

Inhalt

Ein Mann, wegen seines karierten Halstuchs Cowboy genannt, der die Originalverfilmungen der Bücher von Karl May im Velebitgebirge 1962 miterlebte, kleine Rollen als Komparse hatte, schreibt ab 1970 selbst unter dem Pseudonym Fallmer erfolgreiche Westernromane. Viele Jahre später reist er bis in den Irak. So wie dem Cowboy folgen wir auch einem Hadschi, der seinen Sihdi sucht, durch die Zeiten der DDR, durch Titos Jugoslawien, die Jahre danach und durch die brutalen Kriege, die ab 1992 das Land Jugoslawien zerrissen. „Ich bin der, der ich bin. Der Hadschi, wie er im Buche steht, der den sucht der ihn einst ins Buch geschrieben hat.“ (Zitat Pos. 12851) Denn damit hat im Grunde alles begonnen, mit Karl May und seinen Geschichten, in der Indianer und Deutsche Blutsbrüder waren, dem wilden Kudistan geholfen wurde und Araber als edle Wüstensöhne auftraten.

Thema und Genre

Dieser epische Roman ist vieles, die Geschichte Europas zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert, ein spannender Abenteuerroman, eine Geschichte des Films, darin eingebettet Familien- und Generationengeschichten. Es geht um Zeitgeschichte, um politische Strömungen und um die grausame Zerstörung durch Kriege und vor allem deren Auswirkungen auf die Menschen, die davon betroffen sind.

Erzählform und Sprache

Im Hintergrund besteht eine chronologische Abfolge der Ereignisse, doch führen die einzelnen Episoden durch die Zeiten und die Kriege, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und zurück in eine andere Vergangenheit, ein Sprung über Jahre in eine wieder andere Jetztzeit. Man folgt den einzelnen Figuren, fiktiven und auch realen wie Lex Barker. Mit den Jahren tritt auch die nächste Generation der fiktiven Figuren auf, die völlig andere Wege gehen. Man blättert manchmal verwirrt einige Kapitel zurück, wer ist jetzt wer, bis man sich einfach auf diese weite, facettenreiche, oft surreale Geschichte einlässt, sich von ihr weitertragen lässt, staunend, Kopfschüttelnd-erheitert,und dann wieder zutiefst erschüttert durch die brutale Realität der Schilderungen der Kampf- und Kriegshandlungen. Im Roman tritt mehrmals die Figur des Fragmentaristen auf, der erzählt und erzählt, ganze Geschichten zwischen gestern, heute und morgen auf Wände schreibt und so liest sich auch dieser Roman. Die Sprache ist vielfältig, schildert ruhig fließend, poetisch, um dann, wenn es um den raschen Ablauf von Szenen geht, atemlos Wort um Wort, Wortgruppe um Wortgruppe zu einem einzigen Satz in Seitenlänge aneinanderzureihen.

Fazit

Ein roter LKW mit einem Wanderkino, ein uralter Mann am Steuer, so ziehen sich Filmrollen, Projektoren, Erinnerungen, Romane und Filme nicht nur durch Jugoslawien, sondern durch diese Jahrhundertgeschichte Europas. Eine literarische Achterbahnfahrt, auf die man sich bald einlässt, ohne viel zu fragen, sich beim Lesen von den Ereignissen weitertreiben lässt, neugierig dieser ungewöhnlichen, kreativen und auch sprachlich großartigen Mischung folgend, die uns Clemens Meyer hier vorsetzt.

Dorf ohne Franz – Verena Dolovai

AutorVerena Dolovai
VerlagSeptime Verlag
Datum12. Februar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten168
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3991200352

„Ich bin kein hübsches, zartes Pflänzchen, das fürsorglicher Pflege bedarf. Eher der robuste Dornenbusch, der kaum Wasser braucht und selten Blüten trägt.“ (Zitat Pos. 319)

Inhalt

Maria ist das mittlere Kind zwischen dem fünf Jahre älteren Bruder Josef und dem vier Jahre jüngeren Bruder Franz. Josef erbt den Hof und die Grundstücke, der als Kind zarte, von der Mutter deshalb verwöhnte Franz erhält Geld und verlässt das Dorf, so bald er kann. Von Maria, die ja nur ein Mädchen ist, wird erwartet, dass sie den Erbverzicht unterschreibt, möglichst rasch einen Ehemann im Dorf findet und fleißig für alle arbeitet. Während ihre Freundin Theresa auf ein Internat gehen darf und dadurch für immer der beklemmenden Enge des Dorfes und der ebenso eng denkenden Dorfgemeinschaft entflieht, bleibt Maria und führt ein Leben als pflichtbewusst mitarbeitende Hilfskraft, Pflegerin, Ehefrau und Mutter einer Tochter. „Ich habe der Rolle entsprochen, die erwartet wurde. Weil ich nicht auffallen wollte, weil ich es nicht konnte?“ (Zitat Pos. 963)

Thema und Genre

n diesem Roman geht es um Erinnerungen an ein hartes Leben voller Entbehrungen und Verzicht auf dem Land, in einer Familiestruktur mit dem beklemmend traditionellen Frauenbild, um unerfüllte Träume eines Mädchens, später Frau, das Dorf zu verlassen und ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen.

Erzählform und Sprache

Maria, die Hauptfigur, erinnert sich im Heute an ihr Leben zurück. Sie erzählt von ihrer harten Kindheit in den 1960er Jahren, von fehlender Mutterliebe, von der unerfüllten Sehnsucht nach einer Ausbildung. Sie schildert ihren Alltag in einem engen, von den Männern dominierten Familiengefüge und starren Dorfleben. Chronologisch folgen wir ihrem Weg als Kind, als junge Frau, als Ehefrau und Mutter. Langsam enthüllen sich einige Familiengeheimnisse, es wird klar, warum der jüngere Bruder Franz das Dorf verlassen hat, denn in Marias Erinnerungen taucht er trotz seiner Abwesenheit immer wieder auf. Die knappe und dadurch eindringliche Erzählsprache verstärkt in ihrer Ausdrucksweise die Hauptfigur und das Genre.

Fazit

Landleben ohne falsche Romantik, Frauenleben in einer Welt der Väter, Brüder und Ehemänner, fern jeder Freiheit und Gleichstellung. Man möchte die Hauptfigur abwechselnd mitfühlend in Gedanken umarmen, dann wieder eindringlich auf sie einreden, sie metaphorisch anschreien, dass es nicht so sein muss, dass sie die Dinge ändern könnte, ihr Leben selbst in die Hand nehmen, so wie sie es sich in all den Jahren wünscht. Eine beklemmende, gleichzeitig beeindruckende Geschichte.

Österreichischer Buchpreis 2024

RedaktionRamona Geng
HerausgeberHauptverbund des
Österreichischen Buchhandels
Erscheinungsdatum 5. September 2024
Broschüre
Seitenca. 135
SpracheDeutsch

„Er verfolgt das Ziel, die Qualität und die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur zu würdigen und ihr im deutschsprachigen Raum erhöhte Aufmerksamkeit zu verschaffen.“ (Zitat Pos. 1055, über den Österreichischen Buchpreis)

Thema und Inhalt

Der Österreichische Buchpreis wurde 2016 zum ersten Mal vergeben. 2024 wurden für den Österreichischen Buchpreis von 56 Verlagen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz 84 Titel eingereicht, für den Debütpreis waren es 21 Verlage mit 26 Titeln. Es sind Werke aus den Bereichen Belletristik, Lyrik, Drama und Essay mit einem Erscheinungsdatum zwischen 11. Oktober 2023 und 9. Oktober 2024. Die Longlist umfasst 20 Titel, die Shortlist Debüt 3 Titel.

Umsetzung

Die Broschüre, die ich in der elektronischen Ausgabe auf dem Kindle lesen konnte, beginnt mit umfangreichen Leseproben aus allen nominierten Büchern. Es folgen ab Seite 114 Informationen über die Nominierten, die Jury, und ab Seite 130 die Coverabbildungen der Bücher mit nochmaliger Angabe von Autorin oder Autor, Titel, Verlag, Seitenzahl und Preis. Die jeweilige Einteilung erfolgt in alphabetischer Reihenfolge der Namen der Nominierten, beginnt immer mit der Longlist, daran schließt jeweils die Shortlist Debüt an.

Fazit

Auch 2024 ist es wieder eine interessante, spannende Mischung, die Leseproben machen neugierig auf die nominierten Bücher.

Das Wohlbefinden – Ulla Lenze

AutorUlla Lenze
VerlagKlett-Cotta
Datum17. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608986853

„Wenn sie an damals zurückdachte, schien ihr eigentlich alles wie ein seltsamer Traum, der auch anders hätte geträumt werden können.“ (Zitat Pos. 2360)

Inhalt

Die Content-Managerin Vanessa Schellmann wohnt im Wedding, doch gerade wurde ihre Wohnung gekündigt, dies bedeutet Wohnungssuche in Berlin. Sie besichtigt auch ein aufstrebendes Neubauprojekt auf dem Areal der ehemaligen Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz. Dort, im ehemaligen Postgebäude, hatte sich 1908 ihre Urgroßmutter eingemietet, die Schriftstellerin Johanna Schellmann, denn sie wollte ein Buch über die Heilstätten Beelik schreiben. Als Vanessas Makler hört, wer sie ist, übergibt er ihr einen alten, mit Schreibmaschine geschriebenen Text, den Johanna Schellmann verfasst hatte, der jedoch nie veröffentlicht wurde. So erfährt Vanessa nicht nur, wer ihre Urgroßmutter war, sondern auch deren besondere Beziehung und von Spiritualität geprägte Verbindung zu der Arbeiterin Anna Brenner, eine Patientin, die Johanna in den Heilstätten kennengelernt hat und die wegen ihrer Hellsichtigkeit und philosophischen Ansichten bewundert, aber auch gefürchtet wird.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um die für den Beginn des 20. Jahrhunderts moderne und besonders unter sozialen Aspekten fortschrittliche Einrichtung Lungenheilstätten Beelitz der Arbeiterwohlfahrt. Wetere Themen sind schreibende Frauen, sowie der zu dieser Zeit im Bürgertum beliebte Okkultismus mit Séancen und Medien. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Frauen auf der Suche nach Selbstbestimmung und ihrem eigenen Weg im Leben.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte spielt in Berlin auf drei unterschiedlichen Zeitebenen, die jeweils chronologisch geschildert werden, Johanna und Anna 1907 – 1909, Johanna 1967 und Vanessa 2020. Die Abschnitte, die in den Heilstätten Beelitz spielen, zeigen ein eindrucksvolles, lebendiges Bild dieser weitläufigen sozialen Einrichtung und der damit verbundenen Problematiken. Das Jahr 2020 beschreibt die reale Situation einer modernen Stadtentwicklung und Bebauung von nicht museal genutzten Teilen des Areals. Im gesellschaftspolitischen Mittelpunkt stehen jedoch die Frauen. Durch Generationen getrennt sind Johanna, Anna und Vanessa auf der Suche nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Die Sprache schildert ruhig und präzise, die Wechsel zwischen den Zeitebenen unterbrechen teilweise den Erzählfluss, Ortsangabe und Jahreszahl in der Überschrift erleichtern die Zuordnung.

Fazit

Ein interessanter gesellschaftspolitischer Generationenroman, ein anschauliches Bild der Entwicklungen und Bestrebungen jener Zeit. Das Wohlbefinden, Heilung durch Selbstheilung, ist nicht nur der medizinische Ansatz jener Jahre zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern wird durch unterschiedliche Blickwinkel des Erzählens auf die jeweilige Lebenssituation der Hauptfiguren zur Metapher für das Streben der Frauen unterschiedlicher Generationen nach Eigenständigkeit und persönlicher Freiheit.

Wo der Wind wohnt – Samar Yazbek

AutorSamar Yazbek
VerlagUnionsverlag
Datum19. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten192
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3293006089

„Der Wind hat einen Platz in seiner Seele, er glaubt, dass er ihn besser kennt als die Wolken, den Regen und den Schnee.“ (Zitat Pos. 1106)

Inhalt

Ali ist ein verträumter Junge, der Bäume über alles liebt und am liebsten mit dem Wind fliegen würde. Als er neunzehn Jahre alt ist, wird er eines Tages während der Feldarbeit von einer Patrouille aufgegriffen und zur Armee verschleppt. Nach einem Granateneinschlag liegt er in der Nähe eines großen Baumes irgendwo in den Bergen von Latakia und er spürt, dass etwas mit seinem Körper nicht in Ordnung ist. Der Blick auf den Baum führt ihn zurück in die Erinnerungen an seine Kindheit, an seine Mutter, seine Familie und an seinen geliebten Rückzugsort, sein Baumhaus in einer großen Eiche.

Thema und Genre

In dieser Episodengeschichte geht es um die grausame Sinnlosigkeit von Kriegen, und eine Reise durch die Erinnerungen eines jungen Mannes, ein verträumter Außenseiter, der sich nur ein ruhiges Leben gewünscht hatte.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte wird in Episoden erzählt und die Handlung ergibt sich aus den Gedanken und Erinnerungen der Hauptfigur. Ali versucht einerseits zu ergründen, was mit ihm geschehen ist, wobei sich mögliche Varianten der Realität mit Phantasievorstellungen mischen. Seine Erinnerungen verlaufen nicht unbedingt chronologisch, ergeben jedoch durch die genauen Schilderungen von vielen prägenden Details und Gefühlen nicht nur ein umfassendes Bild des Protagonisten, sondern zeigen auch das von Angst und Unterdrückung geprägte Leben in einem von Kriegen gespaltenen Land. Die Kraft der poetischen Sprache malt sofort Gedankenbilder und führt mitten in das Geschehen.

Fazit

Eine poetische, leise Geschichte zwischen Gegenwart und Erinnerung, die durch die tief beeindruckende Erzählsprache zu einem in den Gedanken umso lauteren Plädoyer und Aufschrei gegen Kriege und die sinnlose Gewalt und Machtgier wird, die unschuldige Menschenleben zerstört.

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