Die Kolonie – Audrey Magee

AutorAudrey Magee
VerlagNagel & Kimche
Datum28. Januar 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinNicole Seifert
ISBN-13978-3312012893

„Hier geht es um Irland, sagte Masson. Um die irische Sprache. Und haben die Iren mitzureden, fragte Lloyd, bei ihrem großen Plan, die Sprache zu retten?“ (Zitat Seite 104)

Inhalt

Es ist das vierte Jahr, dass JP Masson, ein französischer Linguist, auf diese kleine irische Insel kommt, auf der zweiundneunzig Menschen in zwölf Familien leben. Bei einer dieser Familien verbringt JP den Sommer als zahlender Feriengast. Er schreibt an seiner Doktorarbeit über die Veränderungen der alten Irischen Sprache, verbissen in seinem Anliegen, diese Sprache unbedingt zu erhalten. In diesem Jahr jedoch hat die Familie einen zweiten Feriengast aufgenommen. Auch der Maler Mr. Lloyd wird hier die drei Sommermonate verbringen, um in der Einsamkeit zu malen. Er ist Engländer, aus London, und natürlich spricht er nur Englisch. Vom ersten Moment an ist er für JP ein weiterer Gefährder der ursprünglichen irischen Sprache, während sich Mr. Lloyd durch JP in seiner Sehnsucht nach Ruhe und Stille gestört fühlt. Beide sind Fremde auf der Insel und beide versuchen auf ihre Art, die Menschen für ihre Zwecke einzusetzen, bewusst oder unbewusst, machen Versprechungen und wecken Hoffnungen.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen des Kolonialismus für die Sprache und Kultur, für die Identität der Menschen, am Beispiel einer kleinen irish-gälischen Insel. Themen sind das raue und gefährliche Leben der Fischer, traditionelle Familiengefüge und die Situation der Frauen. Es geht um Kunst, Künstler und die wilde Schönheit der Natur, und natürlich auch um den Nordirlandkonflikt.

Erzählform und Sprache

Die Ereignisse dieses Sommers 1979 werden chronologisch von Tag zu Tag erzählt, Nachrichtenmeldungen geben das Datum an und bringen gleichzeitig das Wissen über die beinahe täglichen Anschläge auch zu den Menschen auf dieser entlegenen Insel. Der Kreis der handelnden Figuren ist bewusst klein gehalten, was dem Roman zusätzliche Tiefe gibt.

Die Autorin lotet alle Möglichkeiten aus, welche die Sprache bietet, um eine Geschichte zu schreiben. Oft setzt sie Dialoge ein, um Sachverhalte und Konflike zu präzisieren. Schilderungen von alltäglichen Verrichtungen und  innere Monologe  fließen ohne Punkt und Innehalten über mehr als eine Seite. Letztere sind für die Autorin eine Möglichkeit, viele zusätzliche Themen und Details zu erzählen, seien es Einblicke in die Vergangenheit einzelner Figuren, Erlebnisse, die sie geprägt haben, persönliche Hoffnungen und Träume für die Zukunft, aber auch ein ausführlicher Rückblick auf die Geschichte Irlands. Dazwischen entstehen überraschend knappe lyrische Wortsequenzen. Die neunundachtzigjährige Bean Uí Fhloinn erzählt JP ihre Geschichten und so wird auch die tief verwurzelte irische Tradition des Geschichtenerzählens eingebunden. Der Maler Lloyd dagegen erfasst jede Situation, jedes Naturschauspiel, detailgenaue Beschreibungen seines Umfeldes in Gedanken sofort als Bild und gibt allen Bildern auch entsprechende Titel. Trotz meiner Begeisterung für die Ausdruckskraft der Sprache verfing ich mich beim Lesen manchmal in den langen Gedankenströmen der Figuren, wenn sie gleich Mäander sich drehten und wendeten, sich wiederholten, vielleicht wäre weniger in manchen Abschnitten mehr gewesen.

Fazit

Ein facettenreicher Irland-Roman, ein mit Worten gemaltes Bild in vielen Nuancen, Schattierungen und Tönen zwischen kraftvoll-bunt und nebelgrau.

Die Abtrünnigen – Abdulrazak Gurnah

AutorAbdulrazak Gurnah
Verlag Pengiun Verlag
Erscheinungsdatum 26. April 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzungStefanie Schaffer-de Vries
ISBN-13978-3328602613

„Es ist eine Geschichte darüber, dass eine Geschichte viele Geschichten enthält und dass sie nicht nur uns gehören, sondern Teil der zufälligen Strömungen unserer Zeit sind. Und es ist eine Geschichte darüber, wie wir uns in Geschichten hineinverstricken und für alle Zeit darin gefangen bleiben.“ (Zitat Seite 182)

Inhalt

Ende des 19. Jahrhunderts findet in einer kleinen ostafrikanischen Stadt der Krämer Hassanali eines Tages im Morgengrauen einen stark geschwächten Mann. Martin Pearce ist Engländer und als er später zurückkommt, um sich für seine Rettung zu bedanken, verliebt er sich in Rehana, Hassanalis Schwester. Eine Liebe, die nicht nur ein Skandal, sondern auch streng verboten ist. Mitte des 20. Jahrhunderts verliebt sich der junge Amin in Jamila, einige Jahre älter als er, eine geschiedene Frau, die auf Grund ihrer Unabhängigkeit und ihrer angeblich zweifelhaften Herkunft im Mittelpunkt von Gerüchten steht.  Auch diese Liebe wäre ein Skandal, käme sie an die Öffentlichkeit. Amins Eltern bedrängen ihn wegen der drohenden Schande und der gesellschaftliche Ächtung, die er über die Familie bringen würde. Rashid, Amins jüngerer Bruder, will der Enge der Heimat entfliehen und plant zu dieser Zeit bereits seine Reise nach London, wo er bereits an einer Universität aufgenommen wurde. Trotz der Ablehung und Ausgrenzung, mit der man ihm begegnet, bleibt er nach dem Abschluss seines Studiums in England. Doch die Geschichte von Amin und Jamila beschäftigt ihn auch noch viele Jahre später, und er beginnt mit Nachforschungen.

Thema und Genre

Dieser außergewöhnlich facettenreiche Roman spielt in Ostafrika und England, und ist sowohl ein Familienroman, als auch ein Generationenroman. Themen sind Kolonialismus, Unterdrückung, Ausgrenzung, gesellschaftliche Traditionen, Politik, Heimat und Fremde, Liebe und Trennung.

Charaktere

Es sind unterschiedliche Charaktere und ebenso unterschiedlich ist ihre Art, mit äußeren Zwängen und dem Druck gesellschaftlicher Regeln und Wertvorstellungen umzugehen, und trotz aller Widerstände ihren Platz im Leben zu suchen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung wird in neun Abschnitten erzählt, wobei jeweils eine Person im Mittelpunkt steht, die dem jeweiligen Abschnitt den Titel gibt und wo es vor allem um die jeweilige persönliche Lebenssituation, die Vergangenheit, Erfahrungen und Konflikte geht. Der Autor nimmt sich Zeit und schildert nicht nur die Ereignisse und das Leben der einzelnen Protagonisten, sondern auch das Umfeld, das Alltagsleben der Menschen, die politische Situation dieses Teiles von Ostafrika unter den Engländern, und später während der Umstürze, nachdem Sansabar Ende 1963 unabhängig geworden war. Es ist Rashid, der die Geschichte erzählt, doch er präzisiert: „Es gibt, wie Sie sehen, ein Ich in dieser Geschichte, aber es ist keine Geschichte über mich. Es ist eine Geschichte über uns alle, über Farida und Amin, über unsere Eltern und über Jamila.“ (Zitat Seite 182). So folgen wir fasziniert und gespannt einem Zeitrahmen  etwa einhundert Jahren, pendeln zwischen Afrika und England und sind keine einzige Minute gelangweilt.

Fazit

Abdulrazak Gurnah ist ein leiser, aber eindrücklicher Erzähler, er klagt nicht an, sondern beleuchtet alle Graubereiche der Geschichte und der Menschen, und dies alles in einer wunderbar zu lesenden Erzählsprache.