Simón – Miqui Otero

AutorMiqui Otero
Verlag Verlag Klett-Cotta
Erscheinungsdatum 20. August 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten448
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMatthias Strobel
ISBN-13978-3608980745

„Du kannst sein, wer immer du sein willst, aber vergiss nie, wer du bist.“ (Zitat Position 4524)

Inhalt

Rico, Simóns Cousin, ist zehn Jahre älter und wie ein Bruder für Simón, sein Beschützer und großes Vorbild, so lange er denken kann. Der beste Tag für den jungen Simón ist immer der Sonntag, denn an diesem Tag bringt ihm Rico ein Buch mit, das Simón suchen muss, bevor er sich in die spannenden Abenteuer von neuen Helden vertiefen kann. Bis Rico eines Tages im Sommer 1992 spurlos verschwindet und Simón nach Jahren des Suchens lernen muss, seinen eigenen Weg zu finden und dass die Abenteuer seiner edlen Romanhelden nicht immer den Weg in das wirkliche Leben finden. „Manchmal muss man fortgehen, um nach Hause zurückkehren zu können. Manchmal kann man vielleicht nicht an einen Ort zurückkehren, aber sehr wohl zu einem Menschen.“ (Zitat Pos. 4808)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben und Schicksal einer großen Familie in Barcelona, um das Aufwachsen am Stadtrand in bescheidenen Verhältnissen. Vor allem jedoch geht es um Träume, Hoffnungen, Freundschaft, Liebe und um die Kraft der Literatur. Ein wichtiges Thema sind auch die politisch wechselvollen Jahre der lebhaften Stadt Barcelona, die sich 1992 euphorisch als Austragungsort der olympischen Sommerspiele präsentiert, und mehr als zwanzig Jahre später heftige Krisenjahre durchlebt.

Charaktere

Die Hauptfigur in dieser Geschichte ist Simón, dessen Leben wir von seiner Kindheit bis in seine Erwachsenenjahre Mitte dreißig folgen. Er ist ein Träumer, der sich mit den Helden seiner Abenteuerromane identifiziert, sie ins eigene Leben holt. „Der Zufall bringt das Leben durcheinander, die Fiktion hingegen ordnet es“ (Zitat Pos. 5461) Genau solche Zufälle bringen auch Simóns Pläne und Leben öfter als nur ein Mal durcheinander, und es sind die Frauen, besonders seine Lebensfreundin Estela, die ihn erden. Es ist eine Geschichte von Helden, die auch manchmal scheitern dürfen, und von den starken Frauen an ihrer Seite.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte umfasst, ergänzt durch Rückblenden und Erinnerungen, die Jahre zwischen 1992 und 2018 und wird chronologisch erzählt. Die Handlung ist facettenreich und von der ersten Seite an packend. Der Autor wählt, was in modernen Romanen inzwischen eher selten geworden ist, die Erzählstimme eines allwissenden Erzählers, was mit die sprachliche Faszination dieses Buches ausmacht. Diese Erzählform unterstützt die poetische, bildintensive Sprache, erlaubt dem Autor, auch tief in die Gedanken und Gefühle seiner Figuren einzudringen und künftige Entwicklungen anzudeuten, was die Handlung manchmal in Magie hüllt, die dennoch in der Realität besteht.

Fazit

Ein wunderbar dichter, intensiver und auch magischer Roman, eine Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte, Familienroman und Roman der Stadt Barcelona, in dem auch die Kraft der Literatur eine wichtige Rolle spielt.

Violeta – Isabel Allende

AutorIsabel Allende
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 18. Juli 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinSvenja Becker
ISBN-13978-3518430163

„Verteidige deine Unabhängigkeit, lass nicht zu, dass jemand anders für dich entscheidet. Du musst lernen, alleine klarzukommen.“ (Zitat Seite 127)

Inhalt

Am Ende eines langen, nicht immer einfachen, aber in allen Facetten sehr intensiv gelebten Lebens, schreibt Violeta del Valle ihr Leben für ihren Enkel Camilo auf, chronologisch, als Ergänzung zu ihren zahlreichen spontanen und emotionalen Briefen an Camilo. 1920 während der Pandemie geboren, damals war es die Spanische Grippe, wird ihr Leben in diesen Tagen des Jahres 2020 enden, wieder während einer Pandemie, wie sie es selbst formuliert, diesmal ist es Corona. Violeta hat fünf ältere Brüder und als Jüngste und vom Vater ersehntes Mädchen wird sie während ihrer ersten Lebensjahre nicht nur vom Vater, sondern auch von den ebenfalls im Haushalt lebenden Tanten Pía und Pilar verwöhnt. Violeta ist eigenwillig, wild und störrisch, bis Miss Taylor als englisches Kindermädchen in die Familie kommt, mit der Violeta eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Josephine Taylor fördert ihre Wissbegierde, setzt ihr Grenzen, ohne jedoch ihren widerspenstigen Charakter einzuengen und bestätigt sie in ihrem Wunsch nach Freiheit und Eigenständigkeit, die Violetas späteres Leben prägen werden.

Thema und Genre

Dieses Familien- und Generationenepos ist gleichzeitig ein Bericht über einhundert Jahre der wechselvollen Geschichte Südamerikas mit Schwerpunkt Chile.

Charaktere

Im Laufe der Jahre begegnen wir unterschiedlichen Mitgliedern der Familie del Valle und ihren Freunden. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Violeta del Valle, eigenwillig, unangepasst, leidenschaftlich. Eine starke, gemeinsam mit ihrem ältesten Bruder auch geschäftlich sehr erfolgreiche Frau, die in ihren Aufzeichnungen auch offen über ihre Fehler, Schwächen und Zweifel schreibt.

Handlung und Schreibstil

Violeta verfasst diese Geschichte ihres Lebens für ihren Enkel Camilo und tut dies als Ich-Erzählerin. Daher schwingen in allen Schilderungen ihre persönlichen Gefühle mit, auch  dann, wenn sie über die wichtigen gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen dieser langen Zeitperiode schreibt, besonders über die auch für die Familie gefährliche Zeit der Diktatur, wo jeder Schritt und jedes Wort genau beobachtet wurden. Die Handlung wird chronologisch geschildert, mit einigen erklärenden Erinnerungen und ist in übergeordnete Kapitel eingeteilt, die jeweils zwanzig Jahre umfassen. Zusammen mit den besonders prägenden Erlebnissen, die immer auch mit jenen wichtigen Frauen und Männern verbunden sind, die sie über viele Jahre ihres Lebens begleitet haben, ergibt dies ein großartig zu lesendes Generationenepos, von der ersten bis zur letzten Seite interessant, spannend und überzeugend.

Fazit

Die Bücher der Schriftstellerin Isabel Allende haben eines gemeinsam: von der ersten Seite an folgt man gebannt der Geschichte ihrer Figuren, nicht gewillt, die Lektüre zu unterbrechen, bevor man den letzten Satz gelesen hat. Andererseits möchte man innehalten und wünscht sich, das Buch möge nicht so rasch zu Ende sein – doch dies ist mir auch diesmal nicht gelungen, einmal begonnen, konnte ich diesen packenden, vielschichtigen Roman nicht aus der Hand legen.

Töchter des Nordlichts – Christine Kabus

AutorChristine Kabus
Verlag Bastei Lübbe
Erscheinungsdatum 14. Februar 2014
FormatKindle-Ausgabe
Seiten558 (Taschenbuch)
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3404168842

„Es beruhigte sie, nicht allein mit ihrer Aufregung zu sein. Für ihre Mutter war es vermutlich viel schwerer, an dieser Tür zu klingeln und in wenigen Augenblicken den Mann zu sehen, der sie einst ohne Abschied verlassen hatte.“ (Zitat Seite 137)

Inhalt

2011: Nora Nybol, Mitte dreißig, lebt in Oslo und ist Erzieherin in einer Kita. Erst jetzt erfährt sie von ihrer Mutter Bente endlich die Wahrheit über ihren Vater, den Sami Ánok Kraik, Bentes große Liebe. Sie überredet ihre Mutter, mit ihr nach Tromsø zu fliegen, denn dort ist ihre Mutter aufgewachsen. Sie will endlich ihren Vater kennenlernen und wissen, was damals wirklich passiert ist. Es ist einfach, vor Ort die Adresse der Arztpraxis von Ánok in Alta zu finden.

1915: Das Sami-Mädchen Áilu ist neun Jahre alt und lebt glücklich ein Leben mit der Natur. Doch es ist die Bestrebung Norwegens, die Kinder der Sami norwegisch zu erziehen und so werden sie im Auftrag der Behörde den Eltern weggenommen und landen in weit entfernten Internaten, wo sie norwegische Namen erhalten. So auch Áilu, nun Helga, die sich von ihrer Familie im Stich gelassen fühlt und lernt, ihre wahre Herkunft zu verleugnen.

Thema und Genre

In diesem Norwegenroman geht es um Familie, Liebe, aber auch um die Unterdrückung der Samen durch die Norweger in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts und das immer noch problematische politische Verhältnis zu den traditionell mit ihren Rentierherden lebenden Samen.

Charaktere

Beinahe einhundert Jahre trennen Áilu und Nora und beides sind auf eine eigene Art selbstbewusste Frauen, die aber noch auf der Suche nach dem Platz in ihrem Leben sind.

Handlung und Schreibstil

Es sind zwei Geschichten, die uns die Autorin in diesem Roman abwechselnd erzählt. In der aktuellen Zeit sucht Nora nach ihren Wurzeln. Sie lernt ein ihr völlig fremdes Leben kennen, denn zu ihrer Herkunft gehört plötzlich auch eine samische Familie. Nicht alle neuen Verwandten empfangen sie mit offenen Armen, es gibt auch Vorurteile und Ablehnung. Áilus Erfahrungen sind genau umgekehrt, sie kommt ein ein neues Leben, wo sie ihre samischen Wurzeln vergessen sollte, sie aber auf jeden Fall geheim halten. Sehr interessant sind auch in diesem Roman die eindrücklichen Schilderungen der Landschaft, der Tiere und Menschen und der 1915 und auch 2011 immer noch brisante politische Hintergrund. Hier zeigt sich die genaue Recherche der Autorin. Die Sprache ist angenehm und flüssig zu lesen.

Fazit

Ein unterhaltsamer, spannender Generationenroman, der in Norwegen spielt.

Auf der Straße heißen wir anders – Laura Cwiertnia

AutorLaura Cwiertnia
Verlag Klett-Cotta
Erscheinungsdatum 19. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608981988

„Seit ihrer Kindheit legte sie ihren Vornamen an der Türschwelle ab wie einen Mantel. Zuhause hieß sie Maryam, draußen, Meryem.“ (Zitat Pos. 2369)

Inhalt

Karlotta wächst in Bremen-Nord als Kind einer deutschen Mutter und eines armenischen Vaters auf. Heute nennt sie sich längst Karla, studiert, schreibt an ihrer Dissertation. Als ihre Großmutter stirbt, hinterlässt sie eine Liste mit genauen Anweisungen über den Ablauf ihres Begräbnisses, sie will eine traditionelle armenische Beerdigung. Die Großmutter hinterlässt Karla Ohrringe, doch in einer Ecke der Kommode finden sie einen Armreif aus Gold mit einem Zettel. „Lilit Kuyumcyan, Yerevan, Armenien. In Karlas Familie wurde nie über die Vergangenheit gesprochen, doch nun reist sie nach Armenien, auf der Suche nach ihren Wurzeln und nach Lilit. Ihr Vater Avi, aufgewachsen in Istanbul, bevor er mit siebzehn Jahren nach Deutschland kam, begleitet sie.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Heimat, Fremde, Familie, Zusammengehörigkeit und die Geschichte der Armenier in der Türkei.

Charaktere

Als Kind gehörte Karla nie dazu, so sehr sie sich auch bemüht, und weiß nicht, warum. Sie und ihr Vater Avi sind die Hauptfiguren, doch es sind die Frauen dieser großen Familie, die Großmütter, Mütter, Töchter, die diese Geschichte mehrerer Generationen tragen.

Handlung und Schreibstil

Die Haupthandlung beginnt mit dem Tod der Großmutter. Im Mittelpunkt steht die Reise durch Armenien und sie wird chronologisch von Karla als Ich-Erzählerin geschildert. Kindheits- und Jugenderinnerungen Karlas an die Zeit, als sie noch Karlotta war, ergänzen diesen Handlungsstrang. Unterbrochen wird die aktuelle Handlung durch die Geschichten von Avi, seiner Mutter Maryam und deren Mutter Armine, Karlas Urgroßmutter. Diese Geschichten werden abwechselnd und in Episoden personal erzählt und ergeben so langsam die Geschichte dieser Familie.

Fazit

Ein einfühlsamer Generationenroman mit auf ihre unterschiedliche Art starken Frauen, der interessante Einblicke in das Leben einer Familie mit armenischen Wurzeln gibt.

Serge – Yasmina Reza

AutorYasmina Reza
Verlag Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsdatum 24. Januar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten208
SpracheDeutsch
ÜbersetzerFrank Heibert
Hinrich Schmidt-Henkel
ISBN-13978-3446272927

„Ich weiß gar nicht, wie wir Geschwister es geschafft haben, diese ursprüngliche Komplizenschaft zu bewahren, wir waren uns nie besonders ähnlich oder besonders nah. Geschwisterbeziehungen zerfasern, leben sich auseinander, hängen nur noch am seidenen Faden von Sentimentalität oder Konvention.“ (Zitat Seite 23)

Inhalt

Bis zuletzt hält Marta Popper die chaotische Familie zusammen, zum sonntäglichen Mittagessen haben sich alle einzufinden, ihre Kinder und Enkelkinder. Serge, sechzig Jahre alt und der älteste Sohn, Jean, immer noch das mittlere Kind und Nana, die Tochter und jüngste der drei Geschwister. Nun ist Marta tot und nach dem Begräbnis teilt Joséphine, Serges Tochter, ihrem Vater mit, dass sie nach Auschwitz fahren will, auf der Suche nach der Geschichte der ungarischen Verwandten, über die Marta nie gesprochen hatte. Serge soll seine Tochter begleiten, Nana will ebenfalls mitfahren und so kommt auch Jean mit.  Doch statt die Geschwister zu einen, brechen auf dieser Reise lang unterdrückte Konflikte auf.

Thema und Genre

In diesem Generationen- und Familienroman geht es um moderne Beziehungsgefüge, Alltagskonflikte unserer Zeit und Kritik an der touristischen Gedenkkultur am Beispiel Auschwitz. Kernthemen sind familiäre Bindungen, Patchworkstrukturen, Alter, Krankheit, Tod.

Charaktere

Jean, Experte für Materialleitfähigkeit, ist das typische mittlere Kind und der Vermittler zwischen Serge und Nana, denn Familie ist für ihn wichtig, obwohl oder gerade weil er keine eigene Familie will. Serge ist der kreative Lebenskünstler und Frauenheld und beide, Serge und Jean, pflegen seit Jahren ihre Vorurteile gegenüber Ramos, Franzose mit spanischen Wurzeln, Nanas Ehemann. Es ist eine weit verzweigte Großfamilie mit eigenwilligen Charakteren, die alle Facetten der menschlichen Eigenheiten zeigen.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman besteht aus Momentaufnahmen, kurzen Episoden in der Gegenwart, unterbrochen von Erinnerungen und Fragmenten. Es sind die Dialoge, welche die Geschichte tragen, denn hier treten die Konflikte auf, zeigt sich die Problematik, die Suche der einzelnen Figuren, ihre Alltag zu bewältigen. Man diskutiert heftig, wirft Sätze, Meinungen und Themen durcheinander und Jean, der Ich-Erzähler, ergänzt mit vielen eigenen Gedanken, Überlegungen und auch Schilderungen des Umfeldes. Die Sprache ist leicht, flüssig zu lesen, die „herzzerreißende Komik“, von der der Klappentext spricht, blieb mir mit Ausnahme einiger skurril-witziger Szenen allerdings verborgen.

Fazit

Eine Mischung aus Familien-, Generationen- und Beziehungsroman, in dem es um Alltagsprobleme und Konflikte unserer Zeit geht.

Die Enkelin – Bernhard Schlink

AutorBernhard Schlink
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 27. Oktober 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257071818

„Ich will keines dieser nicht gelebten Leben. Aber ich kann sie nicht von mir abtun. Meine nicht gelebten Leben sind mein wie mein gelebtes.“ (Zitat Seite 58)

Inhalt

Am 17. Mai 1964 lernen sie einander in Ostberlin kennen, Birgit aus dem Osten und Kaspar aus dem Westen, der für dieses Sommersemester nach Berlin gezogen ist. Sie verlieben sich, Kaspar ist bereit, nach Ostberlin zu ziehen, doch Birgit will in den Westen. Am 16. Januar 1965 landet sie in Tempelhof. Nun, nach fünfzig Jahren Ehe, ist Birgit tot und in ihren Entwürfen für einen Roman über ihr Leben entdeckt Kaspar eine völlig andere Frau, als er gekannt hat. Bei ihrer Flucht hat sie ihre kleine Tochter zurückgelassen, wollte sie suchen, hat es immer wieder hinausgeschoben. Kaspar begibt sich auf diese Reise in die Vergangenheit und findet die vierzehnjährige Sigrun, Birgits Enkelin. Können eine Vierzehnjährige, die in einem Dorf nach der Ideologie einer völkischen Gemeinschaft aufgewachsen ist und der ruhige, introvertierte Buchhändler eine gemeinsame Basis finden, einander kennenzulernen?

Thema und Genre

In diesem Generationenroman, Coming-of-Age-Roman, Beziehungsroman, geht es um drei Frauen aus drei Generationen, prägende Entscheidungen, die das Leben eines Menschen beeinflussen, zeitgeschichtliche und politische Themen wie Ostdeutschland-Westdeutschland, nationalistische, völkische Lebensformen in Deutschland heute. Auch die unterschiedlichen Ideen, beinahe verlassene ländliche Gebiete und Dörfer wieder mit Leben und Zukunftsperspektiven zu füllen, ist ein Thema.

Charaktere

Im Mittelpunkt dieses Romans stehen die Menschen. Birgit, die eine Entscheidung getroffen hat, ihr Leben mit immer präsenten Schuldgefühlen, ihr Schweigen darüber. Kaspar, der ruhige, intellektuelle Buchhändler, dessen ganzes Leben nach dem Tod seiner Frau Birgit durch ihre Aufzeichnungen plötzlich zu einem „Vielleicht“ wird. Auf der anderen Seite Birgits Tochter Svenja und deren Tochter Sigrun, die Kinder und Enkel der ehemaligen DDR-Bürger, ihre Träume, ihre Werte, manchmal ihr Scheitern.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in drei Teilen erzählt. Im ersten Teil wird die Beziehung zwischen Kaspar und Birgit kurz personal mit Kaspar als Mittelpunkt geschildert, daran anschließend wird Birgits Leben ausführlich erzählt, in Ich-Form, da es sich um ihre persönlichen Aufzeichnungen und Unterlagen zu ihrem geplanten Roman handelt. Der zweite Teil ist zugleich der Hauptteil. Kaspar begibt sich auf die Spurensuche, trifft unterschiedliche Personen aus Birgits früherem Leben und schließlich Sigrun, Birgits Enkelin, die auch für ihn zur Enkelin wird. Vorsichtig nähern sich die beiden so unterschiedlichen Personen und Generationen einander an. Der dritte, abschließende Teil spielt zwei Jahre später. Die Sprache erzählt leise und schildert eindrücklich.

Fazit

Ein facettenreicher Roman mit zeitlos aktuellen Themen. Die Konflikte und Suche nach Lösungen und Wendungen der einfühlsam geschilderten Figuren geben der Geschichte Intensität und Spannung und regen zum Nachdenken an.

So war’s eben – Gabriele Tergit

AutorGabriele Tergit
Verlag Schöffling & Co.
Erscheinungsdatum 24. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten624
NachwortNicole Henneberg
UmschlagbildLesser Ury
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3895614743

„Der Bürger erlebte den Zusammenbruch seiner Ideale, Besitz und Bildung, und fand im Felde seinen Kameraden, den Arbeiter. Das Nationale löste sich aus seiner Verflechtung mit dem Kapitalismus, der Sozialismus entschied sich für die nationale Idee.“ (Zitat Seite 346)

Inhalt

Sie treffen einander zum Damentee, die Frauen der jüdischen Familien, die im Zentrum dieses Generationenromans stehen. Ende der 1890 Jahre sind dies die Gastgeberin Franziska Stern, geborene Kollmann, Roserl, die Frau von Amtsrichter Julius Mayer, Sabine Gutmann, die Schwester des Amtsrichters, Adelina Markus, die Frau des Fabrikanten Manfred Markus. Immer wieder treffen sie einander in diesen Jahren, später sind es ihre Kinder und Enkelkinder. Ihre Schicksale und Beziehungen verbinden sich mit weiteren Familien und Personen, mit der reichen Familie Jacoby und der Bankiersfamilie Beer, aber auch mit der Familie v. Rumke, die zur militärischen deutschen Oberschicht gehört, und mit überzeugten Kommunisten, Künstlern und Journalisten. Am 30. Januar 1933 treffen sie alle nochmals bei einer Wohnungseinweihungsfeier zusammen, dann trennen sich ihre Wege. Mehr als zwanzig Jahre später besucht Grete Jacoby, geborene Mayer, die nun in London lebt, die früheren Freunde und Bekannten in New York, nun ein sehr kleiner Kreis von Menschen, die überlebt haben. „ … und langsam würde dieser Kinderkreis von fünf Menschen aufhören.“ (Zitat Seite 558)

Thema und Genre

Dieser Generationenroman ist ein authentisches Zeitbild der Geschichte Deutschlands zwischen 1890 und den fünfziger Jahren, erzählt durch das Leben und Schicksal der Menschen, die damals gelebt haben.

Charaktere

Es sind die Personen mit ihren Eigenheiten, ihrer Zugehörigkeit, ihrer Erziehung, Tradition, Gefühlen, Träumen und Schicksalen, deren Geschichte erzählt wird, ihr Alltag in diesen für immer die Geschichte prägenden Jahren Deutschlands. Eine der wichtigsten Romanfiguren, Grete Jacoby, ist autobiografisch geprägt.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung ist in fünf Abschnitte eingeteilt, die der Chronologie der geschichtlichen Abläufe entsprechen: Kaiserreich, Krieg, Weimarer Republik, Drittes Reich, Nachkrieg. Die Ereignisse werden nicht erzählt, sondern in langen Gesprächen zwischen den vielen unterschiedlichen Personen der Handlung  geschildert. Ergänzt werden diese politischen, gesellschaftskritischen und tagesaktuellen Dialoge durch ausführliche Beschreibungen des Lebensumfeldes, des alltäglichen Lebens der verschiedenen Gesellschaftsschichten in einer Zeit der Kriege, politischen Umstürze, der Wohnungsnot, der Arbeitslosigkeit, des Hungers, der Verfolgung. Hilfreich ist die Aufstellung aller Personen als entnehmbare Liste in Form eines Lesezeichens, denn es sind insgesamt über siebzig Personen, die einander bei unterschiedlichen Ereignissen treffen bzw. familiär verbunden sind. Die Sprache der auktorialen Erzählform entspricht der Zeit, in der dieser Roman geschrieben wurde. Verlegt wurde nun die ursprüngliche, ungekürzte Fassung, wodurch der Text mit den langen Dialogen und sich wiederholenden Schilderungen der persönlichen Lebens- und Wohnumstände manchmal etwas langatmig wirkt. Andererseits ergibt sich gerade daraus ein lebendiges Bild dieser Zeit, lässt uns nachempfinden, wie es damals eben war.

Fazit

Dieses Buch ist ein umfassendes Zeitbild, geschrieben als Generationenroman, in dessen Mittelpunkt Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stehen und ihr Leben in Deutschland in den Jahren zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

Der brennende See – John von Düffel

AutorJohn von Düffel
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 18. Februar 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten320
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832181222

 „Neu sind nicht die Erkenntnisse, sondern unser Wille zu handeln, das Ende der Geduld meiner Generation mit deiner und die des Planeten mit uns. Die letzte Chance, etwas zu verändern, ist jetzt.“ (Zitat Seite 241)

Inhalt

Hannah reist mit leichtem Gepäck, wie schon ihr Vater, ein bekannter Schriftsteller. Nach seinem Tod kehrt Hannah ein letztes Mal an den Ort ihrer Kindheit zurück, um seine Wohnung zu räumen. Neben dem Bett liegt sein zuletzt erschienenes Buch, darin ein Foto von einer jungen Frau. Hannah will wissen, wer diese Unbekannte ist und als der Anwalt ihres Vaters sie vorab informiert, dass ihr Vater kurz vor seinem Tod sein Testament geändert hat, beginnt sie nachzuforschen. Obwohl sie, die einzige Tochter, ohnedies erwogen hatte, das Erbe auszuschlagen, will sie nun den Grund für die Entscheidung ihres Vaters wissen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Generationenkonflikte, die Eltern-Kind-Problematik und aktuelle Umweltthemen.

Charaktere

Hannah ist stolz darauf, unabhängig und mit kleinem Gepäck zu reisen, wie schon ihr Vater. In ihrem Verhalten jedoch dient dies eher der Möglichkeit, rasch aus einer unangenehmen Situation fliehen zu können, sie ist labil und versucht wiederholt, trotz aller guten Vorsätze, auftretende Probleme mit Alkohol zu lösen, insgesamt keine besonders sympathische Hauptfigur.

Die junge Umwelt-Aktivistin Julia ist typisch für die Fridays-for-Future-Generation. Engagiert und überzeugt davon, dass die Elterngeneration an allem schuld sei, ist sie doch froh, dass immer, wenn sie erwischt wird, der Familienanwalt ihr zu Hilfe eilt, wenn ihre auf Grund ihrer Jugend ohnedies nur bedingte Strafmündigkeit sie nicht ausreichend schützt.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt innerhalb von wenigen Tagen zwischen dem 21. und 24. April. Jedes Kapitel berichtet als Einleitung über das aktuelle Wetter in diesen extrem warmen, sehr trockenen Vorsommertage. Im Mittelpunkt der personalen Erzählform steht Hannah, im Mittelpunkt der Ereignisse steht ein Baggersee.

Der Roman überzeugt durch seine eindringliche, leise Erzählsprache, nicht jedoch durch die Handlung und das Verhalten der einzelnen Figuren, denn viele Szenen sind weder logisch noch nachvollziehbar.

Fazit

Ein Roman über die Kernthemen unserer Zeit: Generationenkonflikt, Gesellschaftsstrukturen und Umwelt. Leider sind sowohl die Handlung, als auch das eigenartige Verhalten der einzelnen Figuren teilweise nicht stimmig und unglaubwürdig. Dies ist schade, denn der Autor ist ein genauer Beobachter und erzählt in einer eindrücklichen, klaren Sprache, die sehr angenehm zu lesen ist.

Das Jahrhundert der Martha Jacoby – Maria Charlotte Wulff

AutorMaria Charlotte Wulff
Verlag Mövenort Verlag
Erscheinungsdatum 1. Mai 2021
FormatTaschenbuch
Seiten306
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3981895551

„Das Haus wurde Mittelpunkt einer in der Welt verzweigten Familie, in der sich alles um sie drehte. Keiner hat länger hier gelacht und geweint und geprägt.“ (Zitat Seite 296)

Inhalt

Am 1. April 2020 feiert Martha Jacoby Geburtstag, geboren am 1. April 1920 ist sie jetzt hundert Jahre alt. Damals, als ihr Urgroßvater 1825 ein einfaches Fachwerkhaus erreichtet hatte, nicht weit vom Lankower See entfernt, lag dieses noch außerhalb von Schwerin, inzwischen ist das zuletzt von ihrem Vater weiter ausgebaute „Haus Jacoby“ ein Stadthaus in Schwerin. Martha hat ihr ganzes Leben in diesem Haus verbracht und beide, Martha und das Haus, haben wechselvolle Jahre, den zweiten Weltkrieg, Besatzung, die DDR und den Neubeginn nach dem Mauerfall überdauert. Längst ist Martha Urgroßmutter und im Dezember 2020 ist sie der Meinung, dass es mit hundert Jahren auch einmal genug ist.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um die Geschichte und Schicksale einer inzwischen weit verzweigten Familie, gleichzeitig ist es ein interessanter geschichtlicher Streifzug durch einhundert Jahre Zeitgeschehen in Deutschland. Ein wichtiges Thema ist das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben bis zum letzten Tag.

Charaktere

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Martha Jacoby, eine optisch zierliche, aber geistig umso stärkere, kluge Frau. Den unterschiedlichen politischen Strömungen unterwirft sie sich nicht, agiert aber überlegt und im Sinne ihrer Familie. Rückschläge bleiben in so einem langen Menschenleben nicht aus, aber Martha behält ihre positive Lebenseinstellung und Freude am Leben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte von Martha Jacoby wird in mehreren Erzählsträngen geschildert, die einander abwechseln. Wir erleben Martha und ihre Tochter Annegret in diesem Dezember 2020, parallel dazu erfahren wir die Geschichte der Familie, beginnend mit Marthas Geburt und mit Rückblicken auf das Leben ihrer Eltern, ergänzt durch Ereignisse im Leben von Marthas Geschwistern, ihrer Tochter, Enkel, Urenkel. Im Laufe der Handlung erweitert sich die Handlung um neue Erzählstränge, in deren Mittelpunkt neue und vorerst unbekannte Personen stehen, die sich dann mit einzelnen Mitgliedern der Familie zu verbinden. Damit ergibt sich ein lebhaftes und vielschichtiges Bild der Familie Jacoby, gleich einem sich immer weiter verzweigenden Baum, dessen einzelne Zweige auch Länder und Meere überqueren. Die Autorin ist eine großartige Erzählerin mit Erfahrung, Wissen, Empathie und einem feinen Humor, es ist, als ob man neben Martha säße und ihr zuhört wie einer seit Jahren lieben Freundin.

Fazit

Ein einfühlsam erzählter, facettenreicher Generationenroman, der zugleich auch ein Ausflug in die deutsche Vergangenheit der letzten hundert Jahre ist. Die auch mit hundert Jahren noch verschmitzte, zierliche aber charmant-willensstarke Hauptfigur Martha schließt man sofort ins Herz und verfolgt mit großem Vergnügen die Geschichte ihres Lebens.

Viktor – Judith Fanto

AutorJudith Fanto
Verlag Verlag Urachhaus
Erscheinungsdatum 18. Mai 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten415
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinEva Schweikart
ISBN-13978-3825152574

„Tief in mir keimte die Hoffnung, dass ich durch ein Missverständnis – auf welche Weise auch immer – im falschen Leben gelandet war und dass mein eigentliches, mein echtes Leben irgendwo unberührt geduldig auf mich wartete.“ (Zitat Seite 73)

Inhalt

Geertje van den Berg studiert 1994 in Nimwegen Jura. Obwohl ihre Mutter Pauline aus einer wohlhabenden wienerisch-jüdischen Familie stammt, werden in der Familie keine jüdischen Traditionen mehr gepflegt. Für Geertje bedeutet dieses bewusste Verheimlichen des Judentums einen Konflikt, denn sie fühlt sich nicht als Geertje. Andererseits kennt sie auch ihre Wurzeln nicht, die Vergangenheit ihrer Familie, in der es einige sehr gut gehütete Geheimnisse gibt, über die nie gesprochen wird. Geertje ändert bewusst ihren Vornamen in Judith und begibt sich auf die Suche, die sie zurückführt in die Stadt Wien nach dem ersten Weltkrieg, wo ihr Großvater aufgewachsen ist, und besonders zu seinem geheimnisvollen, unkonventionellen Bruder Viktor.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um die Nachkommen einer wohlhabenden jüdischen Wiener Familie, um die Schuldgefühle jener jüdischen Menschen, die überlebt haben, ihr Schweigen und die sich aus diesem Schweigen ergebenden Identitätsprobleme der heutigen Generation. Ein sehr interessantes Thema, das in dieser Form selten so eindrücklich geschildert wird.

Charaktere

Die einzelnen Personen der Handlung, die Mitglieder der Familie Rosenbaum und ihre Nachkommen, sind mit Humor und großem Einfühlungsvermögen für ihre Eigenheiten und ihre Verhaltensweisen beschrieben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte der Familie wird in zwei Handlungssträngen erzählt, die einander abwechseln. Geertje-Judith schildert als Ich-Erzählerin ihr Leben im Jahr 1994, ihre Familie, ihr Studium in Nimhagen und ihre Recherchen. Parallel dazu erfahren wir die Geschichte ihrer Vorfahren in Wien, beginnend im Jahr 1914, bis zur Flucht von Geertje-Judiths Großeltern Felix und Trude im Jahr 1939 nach Belgien. Notizen über spätere Ereignisse schließen diesen historischen Teil ab, in dessen personalem Mittelpunkt Viktor steht, der Bruder von Felix. Die Sprache erzählt packend und die Handlung und Personen haben mich sofort in ihren Bann gezogen. Besonders beeindruckt mich die Mischung aus Ernst, Tiefgang und gleichzeitig lebhafter Leichtigkeit, mit der diese Geschichte geschrieben ist.

Fazit

Ein großartiger Familienroman mit einer interessanten Problematik, klug, eindrücklich und humorvoll. 

Drei Sommer – Margarita Liberaki

AutorMargarita Liberaki
Verlag Arche Literatur Verlag AG
Erscheinungsdatum 18.März 2021
Format Gebundene Ausgabe
Seiten388
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMichaela Prinzinger
ISBN-13978-3716027981

„Abends vorm Einschlafen denke ich über dich und Infanta, über Mutter und Vater und sogar über Tante Tereza nach. Ich frage mich, wie unser Leben später mal aussehen wird, was wir erreichen werden. Wir müssen doch etwas erreichen, Maria, oder?“ (Zitat Seite 80)

Inhalt

Maria, Infanta und Katerina gehören zu einer angesehenen, begüterten Familie und leben mit ihrer geschiedenen Mutter Anna und Tante Tereza auf dem großen Landgut des Großvaters, in Kilissi, der noblen Wohngegend außerhalb Athens. Dieser erste von drei aufeinander folgenden Sommern in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg ist für Katerina etwas Besonderes. Denn in diesem Sommer lassen ihre beiden älteren Schwestern, Maria ist zwanzig Jahre alt, Infanta achtzehn, die sechzehnjährige Katerina erstmals an ihren Gesprächen teilhaben, teilen ihre Geheimnisse mit ihr, während sie versuchen, die Welt um sich herum und sich selbst zu verstehen. Aus den früheren Freunden der Kindheit sind junge Männer geworden und mit diesen Veränderungen kommt auch die erste Liebe. Im zweiten Sommer verliebt sich Katerina, doch gleichzeitig träumt sie von einem Leben als Schriftstellerin, ungebunden und frei.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine Frauen-, Familien- und Coming-of-Age-Geschichte. Es geht um das enge, traditionelle Frauenbild im Griechenland der 1930er Jahre. In Griechenland zählt dieser 1946 erschienene Roman heute zu den modernen Klassikern.

Charaktere

Katerina ist ein eigenwilliges Mädchen, neugierig, aber auch verträumt. Sie überlegt, ob sie wirklich ein Leben als Ehefrau und Mutter führen will, träumt von fernen Ländern und Freiheit. Sie beobachtet und beschreibt die unterschiedlichen Menschen aus mehreren Generationen in ihrem Umfeld, Frauen, Männer, Familie, Freunde, versucht, ihre Geheimnisse zu ergründen, ihr Leben und ihr Verhalten zu verstehen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung umfasst hauptsächlich die Sommermonate in drei aufeinanderfolgenden Jahren, wird ergänzt durch dazwischenliegende Ereignisse, Kindheitserinnerungen von Katerina und Episoden aus dem Leben der Großeltern- und Elterngeneration. Die gesamte Geschichte wird nachträglich aus der Erinnerung erzählt, mit Katerina als Ich-Erzählerin, jedoch unterbrochen und ergänzt durch weitere Erzählstimmen, zwischen denen die Autorin wechselt. So erfahren wir beim Lesen auch Geschichten, die Katerina nicht wissen kann. Inhalt der Handlung sind die alltäglichen kleinen Erlebnisse und Erfahrungen dieser Zeit, der häusliche, weibliche Tagesablauf in vielen kleinen Momenten, die einzigartige Üppigkeit der griechischen Frühlings- und Sommermonate, eine Zeit voll von Wärme, Düften und Gefühlen. Die Sprache der Übersetzung liest sich angenehm und fließend.

Fazit

Ein Klassiker der modernen griechischen Literatur, es sind die Schilderungen der kleinen alltäglichen Momente im Leben der Frauen in den 1930er Jahren in Griechenland, die den Roman interessant und lesenswert machen.

Nächstes Jahr in Berlin – Astrid Seeberger

AutorAstrid Seeberger
Verlag Urachhaus
Erscheinungsdatum 10. Februar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten252
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinGisela Kosubek
ISBN-13978-3825152611

„Großvater wusste, was ich wollte, er wusste es, bevor ich es selber wusste. Schreiben war mein Leben.“ (Zitat Pos. 2471)

Inhalt

Nach dem Erscheinen ihres Buches „Goodbye Bukarest“ in Deutschland, meldet sich der Priester Alois, ein alter, enger Freund ihres Vaters, über den Verlag bei der Ich-Erzählerin, um ihr etwas über ihre Mutter zu erzählen. Fünf Jahre sind seit dem Tod ihrer Mutter vergangen und nun schreibt die Tochter die Geschichten über die Familie nieder, die ihre Mutter ihr erzählt hatte. Gleichzeitig denkt sie über die Zeit kurz vor und nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 2007 nach, über ihre eigenen Erinnerungen an die Eltern und die Großeltern und verbindet diese mit ihrem aktuellen Leben, die Zeit des Schreibens zwischen Dezember 2012 und Dezember 2013.

Thema und Genre

Dieser autobiografische Roman ist eher ein Erzählband, mit einer Familiengeschichte durch bewegte Jahre einer glücklichen Zeit in Ostpreußen, Vertreibung, Flucht, Krieg, das geteilte Deutschland und einer problematischen Mutter-Tochter-Beziehung als Verbindung  der einzelnen Fragmente aus Geschichten und Erinnerungen.

Charaktere

Durch den dichten, autobiografischen Hintergrund dieses Romans sind die handelnden Personen sehr realistisch und präzise beschrieben, ihr Verhalten im Rahmen der Ereignisse verständlich und nachvollziehbar. Andererseits bleiben sie gerade wegen dieser Realität auf Distanz zum Leser.

Handlung und Schreibstil

Es ist ein Roman in Fragmenten. Im ersten, sehr beklemmenden Teil wechseln die Erinnerungen an die Tage vor und nach dem Tod der Mutter im Jahr 2007 mit dem aktuellen Jahr zwischen Dezember 2012 und Dezember 2013, in welchem die Tochter als Ich-Erzählerin in ihrem Haus auf einer Insel in einem See in Schweden an dem Buch über ihre Mutter schreibt. Den zweiten Teil bilden viele einzelne Erzählungen, nicht immer chronologisch, die in vier großen Kapiteln mit je einem übergeordneten Thema zusammengefasst sind. Es sind die Familiengeschichten, die ihre Mutter ihr erzählt hat, beginnend mit der Kindheit und Jugend der Mutter in Ostpreußen. Daran schließen die eigenen Kindheitserinnerungen der Tochter an. Das letzte dieser vier Kapitel hat jene der Ich-Erzählerin bisher unbekannte Geschichte über ein Ereignis aus dem Leben der Mutter zum Inhalt, die ihr der alte Freund ihres Vaters erzählt, und die den Übergang bildet zum nachfolgenden Roman „Goodbye Bukarest“, der aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen in deutscher Übersetzung jedoch als erstes Buch erschienen ist.

Fazit

Ein stark autobiografischer Roman, der sich aus vielen unterschiedlichen Geschichten aus dem Leben von insgesamt drei Generationen der Familie der Ich-Erzählerin zusammensetzt. Es sind beklemmende Ereignisse, aber auch glückliche Kindheitserinnerungen, insgesamt eine sehr persönliche Aufarbeitung der schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung, geschrieben in einer poetischen, dichten Sprache. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt, mich aber etwas ratlos zurücklässt. „Ich weiß es nicht. Er ist so schwer, alles in Einklang zu bringen.“ Dies schreibt die Ich-Erzählerin (Zitat Pos. 3164) und so geht es auch mir mit diesem Buch.

Das Flüstern der Bienen – Sofia Segovia

AutorSofia Segovia
Verlag List Hardcover
Erscheinungsdatum 1. März 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten480
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3471360354

„Wenn er gekonnt hätte, hätte er ihnen von der Musik erzählt, die ihm die Bienen in sein lauschendes Ohr sangen: über die Blumen in den Bergen, Begegnungen in der Ferne und Freundinnen, die den weiten Weg nach Hause nicht geschafft hatten, über die Sonne, die heute vom Himmel strahlte, aber morgen hinter Gewitterwolken verschwinden würde.“ (Zitat Pos. 775)

Inhalt

Im Oktober 1910 findet die alte Nana Reja ein Baby. Ausgesetzt, um zu sterben, doch eingehüllt in einen Bienenschwarm, hat der kleine Simonopio überlebt. Die vermögenden Plantagenbesitzer Francisco und Beatriz Morales nehmen ihn als Patensohn an und er wächst auf ihrer Hazienda La Amistand auf, zusammen mit seinen Bienen, von denen er den Kreislauf der Natur lernt. Als im April 1923 Beatriz, schon neununddreißig Jahre alt, nochmals Mutter wird, kümmert sich Simonopio wie ein Bruder um den kleinen Francisco. Alle halten Simonopio auf Grund eines Geburtsfehlers, eine Oberlippenspalte, für beinahe stumm, doch Francisco lernt seine Sprache und er liebt die vielen Geschichten, die ihm Simonopio erzählt – nur eine nicht, die vom Kojoten, denn er spürt, dass diese Geschichte auch Simonopio Angst macht.

Thema und Genre

Dieser Familien- und Generationenroman spielt in Mexiko, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Den Hintergrund bildet die wechselvolle Geschichte Mexikos in dieser Zeit, Krieg, Revolutionen, politische Umstürze und die Spanische Grippe, doch im Vordergrund stehen die Menschen, die auf der Hazienda La Amistand nahe der Stadt Linares leben.

Charaktere

Simonopio ist ein besonderer Junge, er hat eine enge, magische Bindung zu seinen Bienen, scheint in Gedanken mit ihnen zu reden. Ungebunden lebt er den Jahreslauf mit der Natur und mit seinen Bienen. Sein Wissen setzt er zum Wohle der Hazienda ein, denn früh erkennt man seine besondere Gabe und hört auf ihn. Der kleine Francisco ist ein ungestümer Wildfang, doch seinem Bruder Simonopio hört er zu und bei ihm kommt er zur Ruhe. Beatriz Cortés de Morales ist, obwohl ihrer Erziehung und den gesellschaftlichen Konventionen der mexikanischen Oberschicht verpflichtet, eine starke, selbstbewusste Frau, bereit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird von Francisco erzählt, der inzwischen längst ein alter Mann ist. Dies erfolgt, mit einigen Vorgriffen und Rückblicken, chronologisch. Dort, wo es Francisco selbst betrifft, in der Ich-Form, die anderen Teile als personaler Erzähler. Seit vielen Jahren lebt er schon in Monterrey, doch ein Mal will er noch zurück nach Linares, das Haus seiner Kindheit sehen und während der Fahrt schildert er dem Taxifahrer die Geschichte seiner Familie und die damaligen Ereignisse. Geschrieben in einer eindrücklichen, poetischen Sprache, geht die Autorin einfühlsam mit ihren Figuren um, gibt ihnen Freiraum, sich zu entwickeln und vertieft die Handlung mit einer Art positiver Magie. Damit gewinnt sie von den ersten Seiten an die Aufmerksamkeit der Lesenden und die vielen Hinweise und Andeutungen auf kommende Ereignisse, die in der Mitte des Buches auf beinahe jeder Seite auftauchen und wohl den Spannungsbogen steigern sollen, sind in meinen Augen unnötig. Es sind die eindrücklichen Hauptfiguren, welche die Geschichte tragen und denen man auch ohne diese Stilmittel gespannt und neugierig folgt.

Fazit

Eine faszinierende Geschichte, poetisch, einfühlsam und mit einem Hauch Magie erzählt.

Wo wir Kinder waren – Kati Naumann

AutorKati Naumann
Verlag HarperCollins
Erscheinungsdatum 26. Januar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten496
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3749900008

„Ich frage mich: Wie weit darf man gehen, um eine Tradition aufrechtzuerhalten?“ (Zitat Seite 317)

Inhalt

Eva, gelernte Spielzeuggestalterin, hat schon als Kind begeistert Spielzeug getestet, als sie zwischen fünf und dreizehn Jahre alt war. Dies war in Sonneberg, damals DDR. Heute ist Eva zweiundfünfzig Jahre alt und lebt immer noch in Sonneberg. Gemeinsam mit ihrem Cousin Jan und ihrer Cousine Iris gehört sie zur Erbengemeinschaft der ehemaligen Spielzeugfabrik Langbein, gegründet von ihrem Urgroßvater Albert Langbein. Als Jan das alte Haus der Familie räumen muss, da es vermietet werden soll, wollen Eva und Iris helfen. Sie tauchen tief in ihre gemeinsamen Kindheitserinnerungen an dieses Haus und besonders an ihre Großmutter Flora ein, entdecken die abwechslungsreiche Geschichte der Familie und einige alte Familiengeheimnisse, gleichzeitig wächst das gegenseitige Verständnis und langsam formt sich eine Idee.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um die wechselvolle, reale Geschichte der Spielwarenerzeugung in der Spielwarenstadt Sonneberg von 1910 bis nach der Wende, am Beispiel eines fiktiven Familienunternehmens.

Charaktere

In der Buchinnenseite findet sich ein Stammbaum der fiktiven Familie Langbein. Alle Charaktere sind sehr lebensnah, stimmig und authentisch geschildert, ihre Handlungen und Entscheidungen sind nachvollziehbar. Es ist ein bunter Reigen an Figuren, die uns in dieser Geschichte begegnen und alle haben eines gemeinsam: sie sorgen sich um die Familie und das Familienunternehmen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung wird in zwei Zeitebenen erzählt und der Aufbau ist sehr kreativ und originell, auch sprachlich macht es richtig Freude, diese Geschichte zu lesen und die Spannung kommt nicht zu kurz. Die drei Cousins finden im alten Familienhaus einen besonderen Gegenstand, oder sie entdecken Unterlagen, bisher unbekannte Dokumente, und im nachfolgenden Kapitel wir genau jenes Ereignis in der Vergangenheit geschildert, in dem jeweils dieses gerade entdeckte Objekt eine Rolle spielt. Dadurch erfahren wir beim Lesen auch alle Hintergründe, welche die Erben nicht wissen können. So entsteht langsam ein großartiger Familienroman, ergänzt durch sehr lebendige, interessante Schilderungen des Handwerks der Spielzeugherstellung, besonders von Puppen und Plüschtieren, im Wandel der Zeit, von der Handarbeit zur Industrialisierung. Auch der Alltag und die täglichen Probleme der Menschen in jener Zeitspanne, in der Sonneberg zur DDR gehörte, sind sehr eindrücklich geschildert.

Fazit

Ein großartiger Familien- und Generationenroman, ein lebhaftes, vielschichtiges Zeitbild. Reale Vorbilder und eine intensive Recherche ergänzen die packende Geschichte mit interessanten Informationen und ergeben in Summe ein überzeugendes Leseerlebnis.

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid – Alena Schröder

AutorAlena Schröder
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum 20. Januar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423282734

„Evelyn fixierte Hannah für einen kurzen Moment, prüfend, abwägend, müde. Sie hätte ihn einfach wegwerfen sollen, diesen Brief, nun war es zu spät.“ (Zitat Seite 13)

Inhalt

1942 fertigt Senta für ihren Schwiegervater Itzig Goldmann eine Inventurliste aller Kunstgegenstände an, die er den Nationalsozialisten übergeben muss. Seither sind die Liste und auch die Kunstwerke verschwunden. In der Jetztzeit erhält Dr. Evelyn Borowski, vierundneunzig Jahre alt, die einzige Tochter von Senta Goldmann, einen Brief von einem israelischen Anwaltsbüro, die auf diesen Tatbestand gestoßen sind und weiter Recherchen anbieten. Hannah, Germanistin, schreibt an ihrer Doktorarbeit und besucht ihre Großmutter Evelyn jede Woche. Da entdeckt sie durch Zufall diesen Brief. Warum hat man ihr nie etwas von diesem Teil ihrer Familiengeschichte erzählt und warum schweigt ihre Großmutter auch weiterhin? Hannah beginnt mit eigenen Nachforschungen.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um die Vergangenheit und Raubkunst, vor allem jedoch um Mütter und ihre Töchter, um die Probleme von Frauen, die schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein eigenständiges, beruflich erfolgreiches Leben führen wollten, was nur schwer mit ihrer Mutterrolle vereinbar war.

Charaktere

Evelyn hat mit ihrem langen Leben schon abgeschlossen, vor allem jedoch mit der Vergangenheit. Hannah ist für ihre siebenundzwanzig Jahre erstaunlich orientierungslos, weiß nicht, was sie will. Doch während sie sich nur sehr halbherzig ihrer Dissertation widmet, lässt sie bei ihrer Suche nach der Vergangenheit ihrer Familie nicht locker. Senta, Evelyn, Silvia, Hannah, vier Generationen, vier im Grunde nicht so unterschiedliche Frauen, die versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen.

Handlung und Schreibstil

Die aktuelle Handlung spielt in der Gegenwart, im Mittelpunkt steht Hannah, ihr Leben und ihre Suche nach den Bildern und nach ihrer Familiengeschichte. Diese wird parallel in einem zweiten Handlungsstrang erzählt, der 1922 beginnt und 1950 endet und der das Leben von Senta und Evelyn zum Inhalt hat. Eine weitere Rückblende führt in das Jahr 2007, zu Evelyn und Silvia. Die Geschichte, in deren Mittelpunkt weniger die Ereignisse, als die Entscheidungen, Konflikte, Probleme und Beziehungen der vier Frauen stehen, ist dicht und stimmig entwickelt, beginnt intensiv und spannend, flacht jedoch im letzten Viertel etwas ab.

Fazit

Eine interessante, angenehm zu lesende Familien- und Generationengeschichte.

Scherbentanz – Chris Kraus

AutorChris Kraus
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 20. Oktober 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257071351

„Seit Jahren leben wir in dieser geflügelten Bitterkeit, die im Rhythmus der Zugvögel verlässlich entkommt, in südlichen Gestaden überwinternd, und wenn sie fast vergessen ist, verdüstert sich der Himmel, sie kehrt zurück und baut sich in unseren Herzen Nester.“ (Zitat Seite 59)

Inhalt

Jesko Solm, ein eigenwilliger Modedesigner, ist das schwarze Schaf einer ohnedies sehr dunklen Familie voller Geheimnisse, die vehement unter dem schönen, öffentlichen Schein der erfolgreichen Unternehmerfamilie verborgen gehalten werden. Nun wird Jesko dringend in die protzige Familienvilla gerufen, ohne den wahren Grund zu kennen. Er leidet unter Leukämie. Die letzte Hoffnung als mögliche Knochenmarksspenderin ist die leibliche, psychisch kranke Mutter. Eine Frau, die  Jesko und sein Bruder Ansgar seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen haben und mit der sie nie wieder etwas zu tun haben wollten. Diese wurde nun vom Vater aufgefunden und heimlich ebenfalls in den Sitz der Familie gebracht. Sieben lange Tage bis zum operativen Eingriff zur medizinischen Abklärung liegen vor Jesko, und seine Krankheit ist das bei weitem geringste Problem.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um tiefe Schatten der Vergangenheit, Familiengeheimnisse, über die niemals gesprochen wird und die dadurch auch die Gegenwart belasten, zusammen mit traumatischen Kindheitserfahrungen. Themen sind Krankheit, Konflikte und die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen.  

Charaktere

Jesko ist Modedesigner, er fühlt sich in Röcken am wohlsten und bevor ihn seine Krankheit aus der Bahn werfen kann, hat dies längst seine Familie getan. Auch Seneca hilft da nicht immer. Beinahe abgeklärt beobachtet und kommentiert er spöttisch-ironisch-böse und immer punktgenau die Menschen in und außerhalb der Familienvilla, die er Festung nennt. Eine Figur, die man von der ersten Zeile an ins Leser*innenherz schließt.

Handlung und Schreibstil

Jesko berichtet als Ich-Erzähler über die Ereignisse dieser Tage, gibt manchen Personen im familiären Kreis eigene Namen, die er aus den für ihn sichtbaren Eigenschaften ableitet. Rückblicke in Form eigener Erinnerungen und aus den Erzählungen anderer ergänzen und füllen die zunächst diffuse, mit offenen Fragen gefüllte Gegenwart mit Erklärungen. Zusätzliche Spannung ergibt sich aus der Frage, wer diese Renate und ihr Sohn sind, von denen die stark verwirrte Mutter immer wieder faselt. Der Klappentext lässt eine nachdenkliche, traurige Geschichte erwarten, doch die Sprache des Autors, seine einmalige Art, seine Figuren auszuwählen und dann zu erzählen, auf einem schmalen Grat zwischen sarkastisch, sehr böse und sehr liebevoll, machen diesen Roman definitiv zu einem Leseerlebnis.

Fazit

Eine zerrüttete Familie, konsequent dirigiert vom starken Willen des Vaters. Das hohe öffentliche Ansehen der erfolgreichen Unternehmerdynastie muss um jeden Preis gewahrt werden. Wie passt der todkranke zweitälteste Sohn, der sich längst aus allen Zwängen befreit hat, in dieses Bild? Der Autor lässt uns an einer bitterbösen und dennoch überaus positiven, mit feinem Humor erzählten Geschichte teilhaben, einem einfühlsam und facettenreich gemalten Bild unserer Zeit.

Das Glück der kalten Jahre – Martyna Bunda

AutorMartyna Bunda
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 29. September 2019
FormatGebundene Ausgabe
Seiten317
SpracheDeutsch
ÜbersetzungBernhard Hartmann
ISBN-13978-3518428870

„Drei Schwestern, aber ohne die Blautöne, ohne den See, den Himmel und die mal aus dem Wasser, mal aus den Wolken springenden Fische, ohne die seltsam fahlen Blumensträuße und den Namen Astrida. Ohne all die frappanten und schönen Details. Mithin kein bisschen so wie im Leben.“ (Zitat Seite 317)

Inhalt

Es ist ein solides Haus, das erste gemauerte Haus in Dziewcza Góra, einem Dorf im polnischen Teil von Pommern, das Rozela 1932 für sich und ihre drei Töchter baut. Es wird zum Zentrum der Familie, Heimat für diese vier Frauen, Rozela, Gerta, Truda und Ilda. Auch wenn das Leben sie teilweise an andere Orte führt, so kehren die drei Schwestern immer wieder in dieses Haus zurück, um schwierige Situationen und Schicksalsschläge im Gleichschritt, Arm in Arm, und mit dem Blick nach vorne zu bewältigen.

Thema und Genre

Ein Familien- und Generationenroman, in dessen Mittelpunkt die Frauen stehen. Es geht um das alltägliche Leben auf dem Land in einem sich ständig wiederholenden Wechsel der Jahreszeiten, durch Kriegs-, Nachkriegsjahre und die nachfolgenden Jahrzehnte. Das Kernthema ist jedoch der Zusammenhalt innerhalb dieser Familie.

Charaktere

Es sind keine starken Frauenfiguren, aber sie sind unbeugsam und hartnäckig. Die Schwestern sind oft unterschiedlicher Meinung, doch wenn es darauf ankommt, halten sie zusammen. So lange sie lebt, hat die Mutter Rozela das letzte Wort im Haus. „In ihrem ganzen Leben war es so wie an diesem Herbsttag. Drei Töchter hatte sie, die liebte sie alle gleich, aber sie konnte sie nicht alle gleich behandeln.“ (Zitat Seite 260)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte dieser Frauen wird abwechselnd erzählt, entweder aus Sicht der Mutter, oder es steht eine der drei Töchter im Mittelpunkt. Manche Ereignisse werden daher aus unterschiedlichen Blickwinkeln geschildert. Die Handlung verläuft großteils chronologisch, greift jedoch auch manchmal vor oder ergänzt mit Rückblenden, und folgt den unterschiedlichen Lebenswegen der Töchter durch Beziehungen, Mutterschaft, Schicksalsschläge und immer wieder auch das kleine Glück guter Zeiten. Wir erleben skurril-humorvolle Episoden, als Ilda im Zorn von ihrem Lebensgefährten, dem Bildhauer, wegläuft, sich auf ihr geliebtes Motorrad schwingt und, ohne es geplant zu haben, ein Motorradrennen gewinnt. Auch Schweine spielen eine Rolle in diesem Roman, wegen der besonderen Kreuzung, die ebenfalls zufällig passiert ist, verboten, dann viele Jahre später als besondere Rasse entdeckt. Die Sprache schildert unaufgeregt, auch die für mich persönlich entbehrlichen Schilderungen des Schlachtens von diversen Tieren erfolgen in einem beinahe zärtlichen Stil.

Fazit

Es ist die Geschichte über den Werdegang von Frauen im einfachen, ländlichen Umfeld im wechselvollen 20. Jahrhundert, ihr Leben zwischen Tradition und dem Wunsch nach mehr Freiheit. Ein interessantes Beispiel polnischer Gegenwartsliteratur.

Zorn und Stille – Sandra Gugić

AutorSandra Gugić
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 5. August 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3455009767

„Wenn du mittendrin in einer Geschichte steckst, ist es noch keine Geschichte, mehr ein Getöse, ein Rauschen. Es beginnt erst eine Geschichte zu werden, wenn du sie jemandem erzählst. (Zitat Pos. 49)

Inhalt

Biljana Banadinović, Künstlername Billy Bana, ist vierzig Jahre alt und eine bekannte Fotografin. Im Grunde hasst sie das Reisen, hält es jedoch nie lange an einem Ort aus. Als Kind einer Gastarbeiterfamilie wächst sie in Wien auf. Schon seit sie siebzehn Jahre alt ist, führt sie ihr eigenes Leben und hat wenig Kontakt zu ihrer Familie. Nun ist der Vater verstorben und seine Anordnungen sind klar: er will in seinem alten Heimat in Serbien begraben werden. Die Reise nach Belgrad wird für Billy eine Erinnerungsreise in die Vergangenheit, denn ihr jüngerer Bruder Jonas Neven ist 2003 während einer Reise durch die neuen Länder Jugoslawiens spurlos verschwunden.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um Heimat, Herkunft, Identität, Kindheitserinnerungen, um die Problematik, in mehreren Ländern zu Hause und gerade deshalb nicht wirklich zu Hause zu sein, um Verlust, Trauer, um Familie und Beziehungen und um die Suche nach dem eigenen Platz in diesem Gefüge. Themen sind auch die Situation der frühen Gastarbeiterfamilien und der Zerfall des ehemaligen Staates Jugoslawien.

Charaktere

Als der Vater Billy seine Leica schenkt, weiß sie, dass sie Fotografin werden will. Sie sieht Momente und Situationen immer in Bildern, nicht alle fotografiert sie, sondern speichert sie in ihren Erinnerungen. In einer lockeren Beziehung mit der Galeristin Ira Goldfarb, ist Billy eine rastlos Reisende, die nie sesshaft wurde und von sich selbst vermutet, immer gerade dort glücklich zu sein, wo sie nicht ist. Eine gerade wegen ihrer Ecken und Kanten sehr sympathische Hauptfigur.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in vier großen Abschnitten erzählt, wobei Billy in Teil I und IV die Ich-Erzählerin ist, während in Teil II ihre Mutter Azra im Mittelpunkt steht und in Teil III ihr Vater Sima. Die jeweils aktuellen Handlungsstränge umfassen unterschiedliche Zeitpunkte, Billy 2016 und 2018, Azra 2008 und Sima 1999 und werden nochmals von Erinnerungen unterbrochen und durch Rückblicke ergänzt. Der Prolog am Anfang des Buches schließt den Kreis in die Jetztzeit. Durch diese Schreibweise ergibt sich eine interessante, abwechslungsreiche und vielschichtige Familiengeschichte, die man gespannt miterlebt. Die in diesen Jahren wichtigen Ereignisse und die politischen Hintergründe ergänzen die Handlung. Die Sprache beschreibt lebhaft, schildert einfühlsam, die Bilder vor Billys Augen haben auch wir beim Lesen sofort vor Augen.

Fazit

Ein intensiver, großartig erzählter Roman einer Familie, der die wichtigen Fragen der heutigen Zeit aufgreift, die Träume jeder Generation und die Suche nach dem eigenen Platz im Leben. Ein beeindruckendes Leseerlebnis, das mich begeistert hat.

Die Unschärfe der Welt – Iris Wolff

AutorIris Wolff
Verlag Klett-Cotta
Erscheinungsdatum 22. August 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten216
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608983265

„Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr als ein einzelner Augenblick.“ (Zitat Pos. 390)

Inhalt

Der junge Pfarrer Hannes erhält seine erste eigene Pfarrstelle und so zieht er mit Florentine, seiner Frau, in ein Dorf im Banat, wo auch ihr Sohn Samuel geboren wird. Das Leben der deutschsprachigen Bevölkerung im kommunistisch regierten Rumänien ist schwierig. Misstrauisch wird beobachtet, wer die Gastfreundschaft des Pfarrhofes für Übernachtungen in Anspruch nimmt, besonders, wenn es Reisende aus der DDR sind. Samuel beginnt spät zu sprechen und ist wie seine Mutter nachdenklich und schweigsam, ein Außenseiter. Nika, die sehr jung gestorben ist, war die beste Freundin von Florentine und Nikas Sohn Oswald „Oz“ ist jetzt der beste Freund von Samuel. Nach den Erfahrungen im Militärdienst will Oz Rumänien verlassen, doch er bekommt keine Ausreisegenehmigung. Was bedeuten seine Visionen von Drachen, die ihn immer wieder heimsuchen? Samuel erklärt es ihm, denn er hat die Lösung – Drachen fliegen…

Thema und Genre

In diesem zeitgeschichtlichen Generationenroman geht es um eine Familie und ihre Freunde und Bekannten, um das Leben und Schicksal von vier Generationen in einer politisch unsicheren Zeit, die geprägt ist von der Diktatur und Unterdrückung unter Nicolae Ceaușescu, und von den nachfolgenden Veränderungen. Es geht um Entscheidungen, Zufälle, und um die Liebe, vor allem aber um den  uneingeschränkten Zusammenhalt einer Familie.

Charaktere

Im Mittelpunkt stehen die Mitglieder der Familie um Hannes und Florentine, das sind Karline und Johann, die Eltern von Hannes, sowie Samuel, der Sohn von Hannes und Florentine. Sie alle versuchen auf unterschiedliche Art, das Leben mit allen Höhen und Tiefen zu meistern.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung spielt in Rumänien und Deutschland, in den Jahren vor und nach dem Fall der Berliner Mauer und der Grenzöffnung. Die Ereignisse im Leben der Familienmitglieder werden episodenhaft erzählt. Neue Begegnungen erweitern den Personenkreis, manche bleiben als Freunde, andere entfernen sich wieder, bis sich mit den Jahren und den Erinnerungen langsam der Kreis schließt. Teilweise fühlte die Handlung sich für mich zu bruchstückhaft an, wie Momentaufnahmen, die rasch vorbeiziehen. Was mich jedoch beeindruckte und immer wieder in die Geschichte zurückholte, war die auf eine leise Art sehr intensive, eindringliche Erzählsprache.

Fazit

Ein Roman von der Suche nach dem Platz im Leben, vom Aufbruch und von Menschen, die zwischen Heimat, Freiheit und Fremde entscheiden müssen, bevor die Grenzen fallen und sich der Kreis der Generationen wieder schließt. Ein Zeitbild, eindrücklich erzählt.

Kein Ort ist fern genug – Santiago Amigorena

AutorSantiago Amigorena
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 21. Juli 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten184
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3351038311

„Mit am schlimmsten am Antisemitismus ist die Tatsache, dass die Juden sich zwangsläufig als Juden zu fühlen haben, dass man sie auf eine Identität jenseits ihres Willens festlegt und kurzerhand für sie beschließt, wer sie wirklich sind.“ (Zitat Pos. 572)

Inhalt

1928 verlässt der junge Pole Vicente Rosenberg Europa und wandert nach Argentinien aus. Fünf Jahre später begegnet er Rosita Szapire, die er heiratet. 1940 haben die beiden drei Kinder und Vicente hat gerade sein Möbelhaus eröffnet. Als er im Oktober 1941 einen Brief von seiner Mutter erhält, in dem sie ihm das Leben im Warschauer Ghetto schildert, fühlt er sich schuldig, weil er sie und seinen Bruder nicht schon längst zu sich nach Argentinien geholt hat. Um die Stimme des eigenen Gewissens nicht mehr hören zu müssen, spricht auch er nicht mehr, er zieht sich völlig in sein Schweigen zurück.

Thema und Genre

Das Hauptthema dieses biografischen Romans ist eine andere Perspektive des Völkermordes an den Juden im WKII, es geht um die Schuldgefühle jener, die überlebt haben, ihre Fassungslosigkeit, Scham und Ohnmacht, nichts tun zu können. Weitere Themen sind die Frage nach den eigenen Wurzeln und Identität, und die Familie.

Charaktere

Vicente Rosenberg war der Großvater des Autors, der sich als Pole, später als Argentinier, aber nie als Jude fühlte. Die Ungewissheit über das Schicksal seiner Mutter und seines Bruders stürzen ihn in tiefe Schuldgefühle, gefolgt von Depressionen und Spielsucht. Er hüllt sich buchstäblich in ein umfassendes Schweigen.

Handlung und Schreibstil

Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Jahre 1940 bis 1945, ergänzt durch Rückblenden und sachliche Berichte über geschichtliche Tatsachen. Die bewegende Geschichte beginnt voll Hoffnung, Vicente ist dabei, sich ein erfolgreiches Leben aufzubauen, ist ein romantischer Ehemann und liebevoller Vater. Dies alles ändert sich schlagartig, als die ersten kurzen Meldungen über die Situation der Juden in Europa nach Argentinien gelangen. Nun stehen Vicente und seine Befindlichkeiten und Schuldgefühle  im Mittelpunkt der weiteren Geschichte und die bisherige Intensität der Handlung und die eindrückliche Sprache verlieren etwas von der ursprünglichen Aussagekraft.

Fazit

Eine ergreifende Geschichte, beklemmend in ihrer Hoffnungslosigkeit. Irgendwann jedoch mündest sie in eine ständige Wiederholung der Metaphern und Schilderungen der Befindlichkeit des Hauptprotagonisten, als ob auch dem Autor weitere Worte fehlten. Ich vermute, dass dies Absicht ist, mich konnte es jedoch nicht vollkommen überzeugen.    

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