Vor dem großen Meer – Lorraine Fouchet

AutorLorraine Fouchet
VerlagThiele & Brandstätter Verlag
Datum27. Februar 2025
Ausgabe Gebundene Ausgabe
Seiten 240 Seiten
SpracheDeutsch
ÜbersetzungRenée Legrand
ISBN-13978-3851795592

„Ein Buch ist wie eine Insel. Ich gehe auf ihr spazieren, stelle meine Tasche ab, treffe die Einwohner und höre ihnen beim Reden zu.“ (Zitat Pos. 1641)

Inhalt

Merlin Zannino ist seit drei Jahren Witwer. Mit seiner vierzehnjährigen Tochter Coline und dem Kater Newton lebt er seit drei Monaten in einer neuen Wohnung in Rouen. Kater Newton erkundet die neue Umgebung und es gefällt ihm in der benachbarten Wohnung der geschiedenen Fleur eindeutig besser, als in Merlins Wohnung. So bringen der Kater Newton und ein Roman der Schriftstellerin Prune Baud die beiden zusammen. Prune schildert in ihrem Buch die Île de Groix so lebhaft und beeindruckend, dass Merlin Fleur mit einer Reise auf diese bretonische Insel überrascht. Natürlich wird die Hochzeit der beiden auf der Île de Groix stattfinden und auch die Schriftstellerin ist eingeladen. Prune will absagen, denn sie hat die Insel vor achtzehn Jahren für immer verlassen, zu schmerzlich sind die Erinnerungen. Doch dann entscheidet sie sich, an der Hochzeit teilzunehmen. „Die Antwort ist unterwegs. Sie kann im Augenblick noch nicht ahnen, dass sie gerade ihr Leben verändert hat.“ (Zitat Pos. 376)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es nicht um Patchwork-Familien, sondern sogar um Patchwork-Generationen in teilweise eigenwilligen Zusammenstellungen. Es geht um Beziehungen, Eltern und Kinder, Familienkonflikte, Verlust und Trauer, aber auch um Lebensfreude und Neubeginn. Wichtige Themen sind die Liebe und die romantische bretonische Insel.

Erzählform und Sprache

Lorraine Fouchet lässt abwechselnd Merlin und Fleur in der Ich-Form die Geschichte selbst erzählen, beide stellen sich zu Beginn der Handlung durch kurze Schilderungen ihres bisherigen Lebens und prägender Ereignisse vor. Im Gegensatz dazu steht Prune im personalen Mittelpunkt der dritten Geschichte, die in parallelen und zeitgleichen Abschnitten mit der Handlung verknüpft wird. Diese Erzählvarianten, in Verbindung mit bildintensiven Schilderungen der Île de Groix und ihrer beeindruckenden Natur, ergeben die Leichtigkeit der Handlung. Interessante Familienstrukturen der geladenen Gäste, nachvollziehbare Charaktere, teilweise sehr speziell und skurril und dennoch auf ihre Art liebenswert, sorgen mit ihren ernsten Konflikten, Problemen und Themen dafür, dass die Geschichte niemals oberflächlich wird.

Fazit

Dieser Roman garantiert unterhaltsames Lesevergnügen mit Charme und Tiefgang bis zur letzten Seite.

Die Wirtinnen“  von Silvia Pistotnig

AutorSilvia Pistotnig
VerlagElster & Salis Verlag
Datum9. Mai 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten360
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3039300464

„Nur nicht an das Orgelspielen und die Musik denken. Das war nichts, womit sich ein Essen auf den Tisch stellen oder ein Mann finden ließ.“ (Zitat Seite 62)

Inhalt

Es sind die Arbeit und die Verantwortung für das familieneigene Gasthaus in einem Kärntner Dorf, welche das Leben der beiden Frauen, Johanna und Marianne, ihre Tochter, prägen. Sowohl die hochbegabte Johanna mit ihrer Liebe zur Musik und zu den Tasteninstrumenten, als auch Marianne mit ihrer Affinität für Zahlen und Mathematik, haben keine Chance, ihre Träume und Wünsche an das Leben verwirklichen zu können. Mariannes Tochter, die junge, rebellische Getrud „Trudi“, schämt sich für ihr Zuhause in diesem in die Jahre gekommenen Familiengasthof und plant, dieses sofort nach der Matura verlassen, nach Wien zu gehen und dort zu studieren. Dieser Wunsch kann sich erfüllen, denn ihr älterer Bruder Thomas studiert bereits, nicht jedoch ihr Traum von einer Fußball-Karriere als Mädchen in diesen frühen 1990er Jahren. Noch aber lebt Trudi bei ihrer altmodischen, verschlossenen Großmutter Johanna und ihrer Mutter Marianne, die auf Grund der Arbeit im Gasthaus kaum Zeit für sie hat, und versucht, sich in dem eigenartigen, komplizierten Gefüge der Generationen ihrer Familie zurechtzufinden. „Kann mir irgendwer irgendwas erklären?“ (Zitat Seite 309)

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um traditionelle Rollen der Frau, Gehorsam und Pflichtgefühl. Diese starren Gefüge lassen keine Veränderungen und schon gar kein Ausbrechen zu, Begabungen und eigene Lebensträume sind unerfüllbare Wünsche, geopfert der Verantwortung für die Familie.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte erstreckt sich über die Jahre 1936 bis 2022 und ist in Kapitel eingeteilt, wobei jeweils eine der drei Frauen, Johanna, Marianne oder Gertrud, im personalen Mittelpunkt steht. Die einzelnen Erzählstränge der drei Hauptfiguren verlaufen in sich chronologisch, jedes Kapitel trägt als Überschrift den entsprechenden Namen und die Jahreszahl. Dadurch ergibt sich eine vielschichtige Handlung, sehr klar strukturiert und nachvollziehbar. Gleichzeitig wird die Geschichte dadurch packend, da sich Details, die wir als Leser bereits aus den Schilderungen der Geschehnisse in Johannas Vergangenheit kennen und über die in der Familie geschwiegen wird, für Marianne und Getrud erst viel später durch Antworten auf ihre Fragen zumindest teilweise enthüllen. Doch wichtige Ereignisse, besonders in Johannas Leben, bleiben ungesagt, dadurch können wir Johannas Verhalten besser verstehen, als ihre Tochter und Enkelin. Die Autorin verändert auch ihre Erzählsprache passend zur jeweiligen Zeit und Figur. So sehen wir mit Johannas Augen die Großstadt Wien im Jahr 1938, wo sie eine Stelle als Dienstmädchen antritt, und Trudi, oder wie sie genannt werden will, Geri, wird 1994 durch ihre Sprache sofort zur erfrischend unangepassten Jugendlichen, die sie ja auch ist.

Fazit

Eine facettenreiche Familien- und Generationengeschichte, in deren Mittelpunkt drei Frauen stehen, von denen jede auf ihre Art besonders ist, die sich jedoch auf Grund des Umfeldes und der Lebensumstände nicht so entfalten können, wie es ihren Begabungen und Wünschen entspricht. Skurrile Momente und die genaue, aber dennoch einfühlsame, liebevolle Zuwendung, mit der die Autorin auf ihre Figuren blickt, machen diese Geschichte zu einem überzeugenden Leseerlebnis.

Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre – Monika Zeiner

AutorMonika Zeiner
Verlagdtv Verlagsgesellschaft
Datum12. September 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten672
SpracheDeutsch
ISBN-13ISBN-13: 978-3423284240

„Ich war lange Zeit nicht mehr in der Villa Sternbald gewesen, aber ich hatte sie mir oft vergegenwärtigt, als müsste mir die Erinnerung etwas zeigen, das bisher verborgen gewesen ist.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt

Seit Generationen stellt das Familienunternehmen Finck Schulmöbel her. Gegründet von Ferdinand „Ferry“ Heinrich Finck, ging es auf seinen Sohn Johann „Jean“ Finck über, obwohl dieser viel lieber Insektenforscher geworden wäre. Jeans Sohn Heinrich „Henry“ jedoch ist der geborene Unternehmer. Die Beziehungen der jeweiligen Söhne zu ihren Vätern ist in dieser Familie immer problematisch, es sind die Großväter, die sich um die Enkel kümmern. Daher entscheidet sich der schon als Junge phantasievolle Drehbuchautor Nikolas Finck, der vor vielen Jahren den Familiensitz, die Villa Sternbald, verlassen und seither nicht mehr betreten hat, nun doch an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren, zum 103. Geburtstag seines Großvaters Henry. Obwohl es das Verhalten und die Entscheidungen seines Großvaters waren, die dazu geführt hatten, dass es zum Bruch kam, als Nikolas ein Jugendlicher war, der viele Fragen stellte, Fragen, die nicht oder ausweichend beantwortet wurden. Konkret ging es um die Übernahme des Unternehmens der Familie Stein, das ebenfalls Schulmöbel herstellte, im Jahr 1935. Aus den geplanten Tagen werden Wochen und Monate, in denen Nikolas in die Vergangenheit der Familie, in die Familiengeheimnisse und in seine eigenen Erinnerungen eintaucht. „Ist es, dachte ich, das Gedächtnis, das die Sanduhr umdreht und die Zeit immer wieder verrieseln lässt?“ (Zitat Seite 53)

Thema und Genre

In diesem deutschen Generationen- und Familienroman, geht es um Familiengefüge, Familiengeheimnisse, Halbwahrheiten, Erinnerungen, Kindheit, Erziehung, Gesellschaftsnormen, Philosophie, Religion, Konflikte und Gefühle – und Insekten in vielen Varianten. Ein wichtiges Kernthema ist das Verhalten der Familie während der Jahre des Nationalsozialismus.

Erzählform und Sprache

Monika Zeiner passt die gewählte Erzählform dieses Romans, der aus aneinandergereihten Episoden besteht, den Personen an, Nikolas Finck, die Hauptfigur, ist der Ich-Erzähler in der aktuellen Zeit. Die Geschichte seines Großvaters, Urgroßvaters, Ururgroßvaters wird in der personalen Form geschildert, mit jeweils einer der Figuren im Mittelpunkt. Die Rahmenhandlung, der Besuch von Nikolas in seinem Elternhaus, verläuft chronologisch, wird jedoch von eigenen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, und von den zahlreichen Episoden aus dem Leben seiner Vorfahren unterbrochen. Die Erzählform ordnet die Handlung den Figuren und Anliegen unter, schildert nicht so sehr die Ereignisse, sondern vielmehr die Hintergründe, Konflikte und Befindlichkeiten der einzelnen Figuren, wodurch sich neben Dialogen, die nicht unbedingt mit einem realen Gegenüber geführt werden, es kann auch Gisberta, eine tote Feuerwanze sein, viele innere Monologe und Gedankenströme ergeben. Die Kernthemen der Autorin, Familiengefüge, Väter und Söhne, fehlende Mütter, Literaturverweise, Philosophische Abhandlungen, Religion, Kindheit und Erziehung im Wandel der Zeit, die Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus, ergänzt durch umfassendes Wissen über Insekten, füllen die Seiten. Sprachlich hat mich dieser Roman sehr angesprochen, die gekonnten Sätze, Formulierungen und die brillanten Vergleiche machen Freude beim Lesen.

Fazit

„Von fließender Zeit kann in der Villa Sternbald keine Rede sein. Sie hat es nicht eilig, sie hat sich hier eingerichtet wie die Schnecke in ihrem Haus.“ (Zitat Seite 345)

Diese Aussage beschreibt meiner Meinung nach auch perfekt den vorliegenden Roman, eine Geschichte, die sich breit und behäbig fließend statt packend über sechshundertfünfzig Seiten ergießt. Für mich nicht das richtige Buch, andere Leser begeistert es, wie die positiven Fachbewertungen zeigen.

Vaterländer – Sabin Tambrea

AutorSabin Tambrea
VerlagGutkind Verlag
Datum29. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3989410008

„Ein Mosaik aus seinen Farben ergoss sich durch das Zimmer, als wir die Kleidung ausräumten, schließlich der Kalender mit der Gravur 1990 aus der oberen Ablage herunterfiel, jeden Tag des Jahres bis zur letzten Seite mit der Zeichnung seiner Handschrift ausgefüllt, überschrieben mit den Worten: Memoiren, Horea Sava.“ (Zitat Seite 163)

Inhalt

In der Schule sitzt Béla Tambrea neben Rodica, beide sind ehrgeizig, abwechselnd Klassenbeste und beide wollen Violinisten werden. Später, als Ehepaar, kommen sie auf einer gemeinsamen Orchesterreise 1984 in die westdeutsche Stadt Marl. Erstmals spricht Béla es aus, dass er zuhause in Târgu Mureș in Rumänien keine Zukunft sieht und ein Jahr später trifft er während einer Konzerttournee in Frankreich im Juli 1985 eine Entscheidung. Es folgen schwierige Jahre der Trennung, bis am 19. März 1987 Rodica mit dem dreijährigen Sabin „Nuku“ und seiner acht Jahre alten Schwester Ai nach einer Reise über Ungarn und Wien in Köln eintrifft, wo Béla sie abholt und das neue Leben der Familie in Marl, Deutschland, beginnt.

Thema und Genre

Vaterländer ist ein autobiografischer Generationen- und Familienroman, gleichzeitig jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik in Rumänien, eine Schilderung des Alltagslebens der Menschen unter dem Druck und der Willkür der Securitate unter Gheorghiu-Dej, und anschließend im Ceauceșcu-Regime. Ein Thema sind Flucht und die Probleme eines Neubeginns in einem fremden Land, der teilweise Verlust der Heimat und das Leben in einem neuen Kulturraum, wo jedoch die Musik alle Grenzen überwindet. Es ist eine Geschichte über Familie, Mut, Zusammenhalt, Verzweiflung, Hoffnung und die Kraft der Liebe.

Erzählform und Sprache

Sabin Tambrea teilt seinen Roman in drei Abschnitte, im ersten Teil schildert der junge Sabin als Ich-Erzähler seine Kindheit und Jugend ab seiner Ankunft in Deutschland, den zweiten Teil bilden die persönlichen Aufzeichnungen seines Großvaters Horea Sava über die Jahre seiner Inhaftierung durch die Securitate. Der letzte Teil ergänzt den ersten Teil, nun erzählt Sabins Vater Béla die Geschichte der Familie aus seiner Sicht. Alle drei Teile verlaufen in sich chronologisch, um sich am Ende zu treffen und den Kreis zu schließen. Sabin Tambrea schreibt einfühlsam, poetisch, aber gleichzeitig lebhaft, packend und präzise.

Fazit

Ein beeindruckender, authentischer Generationenroman, spannend, interessant zu lesen und auch sprachlich überzeugend.

Das Wohlbefinden – Ulla Lenze

AutorUlla Lenze
VerlagKlett-Cotta
Datum17. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608986853

„Wenn sie an damals zurückdachte, schien ihr eigentlich alles wie ein seltsamer Traum, der auch anders hätte geträumt werden können.“ (Zitat Pos. 2360)

Inhalt

Die Content-Managerin Vanessa Schellmann wohnt im Wedding, doch gerade wurde ihre Wohnung gekündigt, dies bedeutet Wohnungssuche in Berlin. Sie besichtigt auch ein aufstrebendes Neubauprojekt auf dem Areal der ehemaligen Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz. Dort, im ehemaligen Postgebäude, hatte sich 1908 ihre Urgroßmutter eingemietet, die Schriftstellerin Johanna Schellmann, denn sie wollte ein Buch über die Heilstätten Beelik schreiben. Als Vanessas Makler hört, wer sie ist, übergibt er ihr einen alten, mit Schreibmaschine geschriebenen Text, den Johanna Schellmann verfasst hatte, der jedoch nie veröffentlicht wurde. So erfährt Vanessa nicht nur, wer ihre Urgroßmutter war, sondern auch deren besondere Beziehung und von Spiritualität geprägte Verbindung zu der Arbeiterin Anna Brenner, eine Patientin, die Johanna in den Heilstätten kennengelernt hat und die wegen ihrer Hellsichtigkeit und philosophischen Ansichten bewundert, aber auch gefürchtet wird.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um die für den Beginn des 20. Jahrhunderts moderne und besonders unter sozialen Aspekten fortschrittliche Einrichtung Lungenheilstätten Beelitz der Arbeiterwohlfahrt. Wetere Themen sind schreibende Frauen, sowie der zu dieser Zeit im Bürgertum beliebte Okkultismus mit Séancen und Medien. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Frauen auf der Suche nach Selbstbestimmung und ihrem eigenen Weg im Leben.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte spielt in Berlin auf drei unterschiedlichen Zeitebenen, die jeweils chronologisch geschildert werden, Johanna und Anna 1907 – 1909, Johanna 1967 und Vanessa 2020. Die Abschnitte, die in den Heilstätten Beelitz spielen, zeigen ein eindrucksvolles, lebendiges Bild dieser weitläufigen sozialen Einrichtung und der damit verbundenen Problematiken. Das Jahr 2020 beschreibt die reale Situation einer modernen Stadtentwicklung und Bebauung von nicht museal genutzten Teilen des Areals. Im gesellschaftspolitischen Mittelpunkt stehen jedoch die Frauen. Durch Generationen getrennt sind Johanna, Anna und Vanessa auf der Suche nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Die Sprache schildert ruhig und präzise, die Wechsel zwischen den Zeitebenen unterbrechen teilweise den Erzählfluss, Ortsangabe und Jahreszahl in der Überschrift erleichtern die Zuordnung.

Fazit

Ein interessanter gesellschaftspolitischer Generationenroman, ein anschauliches Bild der Entwicklungen und Bestrebungen jener Zeit. Das Wohlbefinden, Heilung durch Selbstheilung, ist nicht nur der medizinische Ansatz jener Jahre zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern wird durch unterschiedliche Blickwinkel des Erzählens auf die jeweilige Lebenssituation der Hauptfiguren zur Metapher für das Streben der Frauen unterschiedlicher Generationen nach Eigenständigkeit und persönlicher Freiheit.

Der Sommer, in dem alles begann – Claire Léost

AutorClaire Léost
VerlagKiepenheuer&Witsch
Datum11. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ÜbersetzungStefanie Jacobs, Jan Schönherr
ISBN-13978-3462003871

„In diesem magischen Jahr entdeckt Hélène ein neues Land, bevölkert von Schriftstellern und Worten. Jedes Buch ist eine Schatzkiste.“ (Zitat Pos. 173)

Inhalt

Marguerite Renaud, eine erfolgreiche Dozentin für Literaturwissenschaften in Paris, ist mit dem erfolgreichen Krimi-Schriftsteller Raymond Berger verheiratet. Als Raymond vorschlägt, für einige Zeit in die Bretagne zu ziehen, in der Hoffnung, in der wilden Einsamkeit seine Schreibblockade überwinden zu können, sagt sie zu. Sie verschweigt Raymond, dass auch sie einen Grund hat, ausgerechnet in die Finistère zu ziehen. Marguerite ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie nach der Geburt zur Adoption freigegeben hat und aus dieser Gegend stammte. Marguerite nimmt eine Vertretungsstelle als Französischlehrerin am Gymnasium in Bois d‘en Haut an. Dort trifft sie auf die sechzehn Jahre alte Hélène und sie erkennt rasch die Begabung des Mädchens. Während Hélène sich begeistert der Literatur zuwendet, entsinnt sich ihr Freund Yannik plötzlich seiner bretonischen Wurzeln. Die Ereignisse dieses Sommers werden genau beobachtet von der druidischen Kräuterfrau Mamie Alexine, Hélènes Großmutter, und deren bester Freundin Émile Tanguy, Inhaberin des Dorfladens.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Gesellschaftsstrukturen, Familie, Frauenleben, Literatur, Nationalismus und alte Traditionen in der Bretagne.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte beginnt mit einem kurzen Einstieg in der Gegenwart, führt dann zwanzig Jahre zurück zu einem bestimmten Tag im Jahr 1994 und beginnt von dort an, in einem umgekehrten, rückwärtsgerichteten Zeitablauf, die Ereignisse aufzurollen. Parallel dazu führt ein zweiter Erzählstrang weitere fünfzig Jahre zurück und bietet dadurch auch Hinweise auf die bretonische Geschichte. Erinnerungen und Gedanken vertiefen die Erlebnisse und Charaktere der einzelnen Figuren. Es sind unterschiedliche Figuren, deren Verhalten nicht immer nachvollziehbar ist, da sich die Geschichte aus den Konflikten und den Handlungen der einzelnen Figuren ergibt. Die Sprache entspricht dem Genre Unterhaltungsroman und ist leicht zu lesen.

Fazit

Dieser Frauen- und Generationenroman konnte meine Erwartungen nicht ganz erfüllen. Die Geschichte wirkt auf mich zu bewusst konstruiert und die Figuren zu klischeehaft. Die abwechslungsreiche Erzählform macht diesen Roman dennoch zu einer angenehm zu lesende Unterhaltungslektüre, die sicher andere Leserinnen begeistern wird.

Die Zeit im Sommerlicht – Ann-Helén Laestadius

AutorAnn-Helén Laestadius
VerlagHOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Datum4. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten480
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMaike Barth, Dagmar Mißfeldt
ISBN-13978-3455017083

„Als sie das Internat betrat, hatten sich die Betreuerinnen in einer Reihe aufgestellt und die Kinder angelächelt, in deren Gesichtern die Tränen Spuren hinterlassen hatten. Vor allen stand die Heimleiterin Rita Olsson, die sie Hausmutter nennen sollten. Sie lächelte nicht.“ (Zitat Pos. 49)

Inhalt

Vor zwei Wochen war auch die siebenjährige Else-Maj in dem Bus gesessen, der die Kinder aus den Sami-Dörfern einsammelte und in die Nomadenschule brachte, ein Internat in Láttevárri, wo sie die schwedische Sprache und Kultur lernen sollen. Wer von der gefürchteten Hausmutter Rita Olssen dabei erwischt wird, samisch zu sprechen, wird streng bestraft. Hilfe und Unterstützung finden sie bei der jungen Erzieherin Anna, doch diese verlässt eines Tages plötzlich das Internat. Die Jahre in der Nomadenschule, fern von ihren Heimatdörfern und ihren Familien, traumatisieren und prägen die Kinder wie Else-Maj, Jon-Ante, Nilsa, Marge und Anne-Risten für ihr weiteres Leben. Auch wenn sie nicht über diese schlimme Zeit reden, die Erinnerungen lassen sie auch nicht los, als sie längst erwachsen und selbst Eltern sind.

Thema und Genre

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Sami auch in Schweden diskriminiert und unterdrückt, man zwang die Eltern, ihre Kinder auf sogenannte Nomadenschulen zu schicken, wo der Unterricht ausschließlich in schwedischer Sprache stattfand. Es war verboten, samisch zu sprechen und die Zustände in diesen Schulen haben die betroffenen Menschen über Generationen traumatisiert. Obwohl es sich hier um einen Roman handelt, sind viele reale Erinnerungen von Schülerinnen und Schülern der Nomadenschulen in die Handlung eingeflossen.

Erzählform und Sprache

Die Autorin folgt ihren Hauptfiguren in einzelnen Abschnitten und mit einigen Zeitsprüngen über mehr als dreißig Jahre, beginnend 1950. Durch den jeweiligen Namen und auch das Jahr in den Kapitelüberschriften ist die Handlung jedoch sehr klar strukturiert und nachvollziehbar. Gerade diese Art des Erzählens macht die Geschichte packend, lebhaft und vielschichtig auf Grund der Entwicklung der einzelnen Charaktere als Folge der Kindheitserlebnisse. In Verbindung mit der präzise schildernden, empathischen Erzählsprache ergibt sich ein eindrucksvolles, berührendes Gesamtbild.

Fazit

Eine fiktive Geschichte mit realem geschichtlichen Hintergrund, ein beeindruckender Roman über die Sami, ihre Kultur, ihr freies Leben in der Natur und die Schicksale ihrer Kinder, die mit etwa sieben Jahren aus diesem Leben gerissen und in strenge Internate gebracht wurden, wo man versucht hat, sie mit Zwang umzuerziehen. Eine Lektüre, die nachhallt und die man noch lange in den Gedanken behält.

Nachtfrauen – Maja Haderlap

AutorMaja Haderlap
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum11. September 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten294
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518431337

„Es waren gewissermaßen Expeditionen im eigenen Land, Reisen ins Innere ihrer Kindheit, die Mira mehr anstrengten als längere Aufenthalte im Ausland oder tagelange Fußmärsche mit schwerem Gepäck. Sie konnte nicht einmal behaupten, in die Fremde zu reisen, wenn sie nach Hause fuhr, das würde ihr niemand glauben.“ (Zitat Seite 11)

Inhalt

Mira lebt seit ihrer Studienzeit in Wien, das sind nun schon mehr als dreißig Jahre. Aufgewachsen ist sie mit ihrer Mutter Anni und ihrem Bruder Stanko in Jaundorf, einem Ort in Südkärnten. Die alte Anni wohnt noch immer in dem kleinen, einfachen Haus, einem Nebengebäude auf dem Bauernhof ihres Bruders,  in dem sie nach dem frühen Tod ihres Mannes die beiden Kinder großgezogen hat. „Weggehen kann jeder. Das Schwierige ist doch, zu bleiben, auch wenn die Mehrzahl der Bewohner das Weite gesucht hat.“ (Zitat Seite 14) Inzwischen hat Annis Neffe Franz das gesamte Anwesen geerbt und jetzt will er das Häuschen abreißen und dort eine Tischlerwerkstatt bauen. Mira muss nach Jaundorf fahren, sie soll Anni von der Notwendigkeit der Übersiedlung überzeugen und mit ihr Entscheidungen treffen, wie und wo Anni nun wohnen soll. Mira spricht mit ihrer Mutter immer noch slowenischen Dialekt, die Sprache ihrer Kindheit, und jede Reise nach Südkärnten ist für Mira auch eine Reise zurück in die Erinnerungen einer problematischen Vergangenheit.  

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um drei Frauen, Mira, ihre Mutter Anni und deren Mutter, Miras Großmutter Agnes. Themen sind Heimat, enges Dorfleben, Verluste, problematische Mutter-Tochter-Beziehungen, die vom Schweigen über die Vergangenheit und Verschweigen geprägt sind. Es geht auch um Schuldgefühle, die den Verlauf von Menschenleben beeinflussen, um Beziehungen und Liebe.

Erzählform und Sprache

Im ersten Teil des Romans steht Mira im personalen Mittelpunkt der Geschichte, wir sehen die Ereignisse aus ihrem Blickwinkel, tauchen in ihre Gefühle und Gedanken ein. Wir erfahren Details aus der Vergangenheit, an die sie sich während dieser aktuellen Tage mit ihrer Mutter erinnert. Durch Zufall trifft sie ihre Jugendliebe Jurij wieder, was dazu führt, dass sie über ihre Ehe mit dem Mittelschullehrer Martin nachdenkt. Im zweiten Teil der Geschichte steht dann Miras Mutter Anni im Mittelpunkt. Die bevorstehende Übersiedlung aus dem alten Häuschen, in dem sie einundvierzig Jahre ihres Lebens verbracht hat, nützt Anni, um ihre Erinnerungen zu sichten, Kartons mit alten Unterlagen, Briefen, Zeitungsausschnitten und Fotos, mit denen sie einzelne Ereignisse verbindet. So reisen ihre Gedanken zurück in ihre eigene Kindheit und als sie die Schachtel mit der Hinterlassenschaft ihrer Mutter Agnes durchsieht, öffnet sich vor uns auch das Leben von Agnes und ihrer unangepassten Schwester, der Partisanin Dragica. Es sind von Entbehrungen, harter Arbeit und dem Druck auf die slowenische Minderheitsbevölkerung im südlichen Kärnten geprägte Frauenschicksale. Sowohl die eindrucksvolle Geschichte selbst, als auch die intensive Sprache ziehen uns sofort in ihren Bann.

Fazit

Eine packende, vielschichtige Generationengeschichte, in deren Mittelpunkt drei Frauen, Großmutter, Mutter, Tochter, stehen. Dieser Roman war für den Österreichischen Buchpreis 2023 nominiert und ist ein überzeugendes Leseerlebnis.

Kantika – Elizabeth Graver

AutorElizabeth Graver
Verlagmareverlag
Datum20. Februar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten386
SpracheDeutsch
ÜbersetzungJuliane Zaubitzer
ISBN-13978-3866487109

„Es ist die schöne Zeit, die Zeit der ausgebreiteten Flügel, der Freudensprünge und offenen Türen, das Leben ein haltloser Fluss von hier nach dort. Es ist die vorgedankliche Zeit, die Welt noch nicht als Listen wahrgenommen, nicht als Rückblick oder Futur, sondern als inbrünstige Musik – kantas, singen.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Rebecca wächst in Istanbul behütet und finanziell privilegiert auf, ohne dies wirklich zu bemerken. Bis sich am 14. November 1914 alles ändert. Die Familie wird gezwungen, nach Spanien auszuwandern, wo sie in Barcelona einen Neubeginn versuchen. Bisher Inhaber eines Textilunternehmens ist Alberto, Rebeccas Vater und das Familienoberhaupt nun Hausmeister der kleinen Synagoge. Rebecca ist bereits vierundzwanzig Jahre alt, als sie endlich den größten Wunsch ihrer Eltern erfüllt, sie heiratet. Bald darauf ist sie eine junge Witwe mit zwei Kindern. Auch die zweite Ehe wird von der Familie arrangiert und führt sie nach New York. Die Zeiten sind für Juden gefährlich geworden und diese Heirat ist die Hoffnung für die Familie auf eine Einreise in die sicheren Vereinigten Staaten.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um Kulturen, Religionen, Heimat und den Verlust der Heimat, Vertreibung, Familiengefüge, Frauenleben.

Erzählform und Sprache

Da dieser Roman fiktiv-biografisch ist und die Familiengeschichte der Autorin betrifft, gibt er wesentliche, interessante Einblicke in das Leben der jüdischen Familien in dieser Zeit. Im personalen Mittelpunkt der Geschichte steht Rebecca, der Großmutter der Autorin. Geschildert wird ihr wechselvolles Leben mit schicksalhaften Wendungen und großen Veränderungen. Sie ist beeindruckend, einerseits ist sie eine selbstbewusste Frau, die eigenständig für sich und ihre Kinder sorgt, andererseits wird sie durch den Vater als Oberhaupt der Familie zwei Mal in reine Zweckehen getrieben. Interessant werden die späteren Kapitel, wo der personale Mittelpunkt wechselt und Luna, die Tochter von Sam, Rebeccas zweitem Ehemann, Rebecca aus ihrer Sicht schildert. Es sind die Menschen, die im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen. Interessant sind die Schilderungen, die Geschichten und dieses leichte Wechseln zwischen den Religionen Judentum und Christentum am Beispiel von Rebecca in Konstantinopel. Leider rückt mit Barcelona die Situation der Familie immer mehr in den Vordergrund und wir erfahren  wenig über die allgemeine, gesellschaftspolitische Situation in Barcelona und noch weniger über das Leben in der lebhaften, interessanten Stadt New York der 1930er Jahre. Die Sprache ist angenehm zu lesen und passt zu diesem epischen Generationenroman

Fazit

In Generationenroman über Heimat und Verlust der Heimat, über Hoffnung und Neubeginn in fremden Ländern, anderen Kulturräumen und neuen Sprachen. Obwohl in den Traditionen im Familiengefüge die Männer, Väter und Ehemänner, die Entscheidungen treffen und bestimmen, was geschieht, sind es in dieser Geschichte die Frauen, jede auf ihre Art stark und mutig, die sich den immer wieder neuen Herausforderungen des Lebens stellen.

Die eigentümliche Vorliebe für das Meer – Gregor Hens

AutorGregor Hens
VerlagAufbau Digital
Datum15. August 2023
AusgabeKindle Ausgabe
Seiten257 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ASINB0C2ZH6PZ8

„Am liebsten würde sie die Routine zwischen Wohnung, Bibliothek und Klinik ewig fortführen. Ihr Leben ist ein Dreieckskurs, vorhersehbar und sicher, es gibt keine Überraschungen, alles hat seine Ordnung.“ (Zitat Seite 18)

Inhalt

Als sie achtzehn Jahre alt ist, verlässt Benedita „Dita“ Chou da Luz ihre Heimatstadt Nam Van und ihre Familie. Sie zieht nach Europa, nach Geest, in das Haus, das sie von ihrer Urgroßmutter Janne geerbt hat, und studiert Medizin. Sie will Ärztin werden. Jetzt, an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, kehrt sie nach Nam Van zurück. Ihr Onkel Gabriel, der das Luxushotel Majestic leitet, das der Familie gehört, hat sie eingeladen. Ein neunzehnstöckiges Luxushotel, ein goldener Turm, der wie ein Leuchtturm alles überstrahlt, wird dieses Haus auch Benedita ihren weiteren Weg weisen?

Thema und Genre

Dieser Generationenroman ist die Geschichte der Familie Chou da Luz. Es geht um das Leben in zwei völlig unterschiedlichen Welten und Kulturen, um Beziehungen, Kinder, Erinnerungen, Familiengeheimnisse, Liebe und Schuld – und immer geht es auch um das Meer.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte wird abwechselnd von Gabriel und Dita erzählt. Sie beginnt in der Jetztzeit und geht dann weit in die Vergangenheit zurück. „Es ist, als wollte Benedita die Familiengeschichte von hinten aufrollen. Als wollte sie selbst verstehen, an welchem Punkt die Dinge aus dem Ruder gelaufen sind.“ (Zitat Seite 242) So entsteht langsam ein buntes und bewegtes Bild einer Familie, beginnend mit den beiden sehr unterschiedlichen Urgroßmüttern, weiter zu Ditas Großeltern, bis zu den ebenso unterschiedlichen Brüdern Gabriel und Tovo, Ditas Vater. Diese Art des Erzählens fasziniert sofort durch die Vielfalt der dadurch immer deutlicher aus der Vergangenheit und den vielen verschwiegenen Lücken in der Familiengeschichte hervortretenden Figuren, ihrer Konflikte und Handlungen. Verbunden sind diese Ereignisse mit bildintensiven Beschreibungen der Entwicklung der Hafenstadt Nam Van, der Landschaften und der Natur. Die Sprache ist kraftvoll, einfühlsam und poetisch.

Fazit

Eine spannende Geschichte, deren Vielfalt und Figuren begeistern. Ein Roman, den man von der ersten bis zur letzten Seite mit Begeisterung und Vergnügen liest.

Lichtungen – Iris Wolff

AutorIris Wolff
VerlagKlett-Cotta
Datum13. Januar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608987706

„Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand.“ (Zitat Seite 76)

Inhalt

„Wann kommst du?“ Mehr steht nicht auf dieser Karte, die Lev eines Tages von Kato aus Zürich erhält. Kato, in der Schule die eigenwillige Außenseiterin, auch in seinen Gedanken zunächst nur „das Mädchen“, hat vor vielen Jahren dem elfjährigen Lev, der über viele Wochen krank im Bett lag, die Hausaufgaben gebracht. Rasch wurde sie zu seiner besten Freundin. Dennoch trennen sich ihre Wege, als Kato, sobald es endlich möglich ist, Rumänien zu verlassen und frei zu reisen, sich auf eine Reise durch Europa begibt, während Lev in Rumänien bleibt. Auch er beschließt zu reisen, doch seine Reise führt ihn nur auf den Spuren seiner Familie und Kindheit durch Rumänien. Nach dem Erhalt dieser Karte reist Lev nach Zürich und sie sehen einander nach vielen Jahren wieder. Es ist Sommer und die nächsten sechs Wochen lang reisen sie gemeinsam. „Für ihn war diese Reise ein Aufbruch, für sie in Übergang, vielleicht sogar Abschluss. Und doch hatten sie sich in diesen gegensätzlichen Bewegungen wiedergefunden.“ (Zitat Seite 10)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um eine tiefe Freundschaft zweier Menschen, die trotz der völlig gegenseitigen Entwicklung bestehen bleibt. Gleichzeitig ist es eine Geschichte über das Leben der Menschen im kommunistischen Rumänien, über die unterschiedlichen Identitäten, Herkunft, Sprache und Familiengefüge. „Seine Herkunft war in seinem Akzent, war ihm eingenäht in Kleidung und Schuhe.“ (Zitat Seite 22, 23) Damit verbunden ist die Frage, was Heimat bedeuten kann und wie das Aufwachsen in Unfreiheit unter einer Diktatur das spätere Leben prägt, ein wichtiges Thema.

Charactere

Die Künstlerin Kato ist gerne unterwegs, aber sie weiß nicht, was sie nach diesem Sommer tun wird, sie sehnt sich nach einer neuen Aufgabe. Levs Lebensmittelpunkt ist statisch und in Rumänien geblieben, in der dörflichen Umgebung seiner Heimat. Noch während des Ceaușescu-Regimes hätte er mit seinem Großvater Ferry nach Wien fliehen können, doch Lev bleibt in Rumänien. Ferry ist neben den beiden Hauptcharakteren eine der vielen weiteren Figuren, die jeweils für ihre unterschiedliche Herkunft, Wurzeln und persönliches Verhalten während und nach der Zeit der kommunistischen Diktatur stehen und so ein facettenreiches, intensives Bild Rumäniens bieten.

Erzählform und Sprache

Iris Wolff hat eine besondere Erzählform für ihren Roman gewählt, sie erzählt die Geschichte zeitlich chronologisch, jedoch rückwärtsgewandt, beginnend mit der Gegenwart und endend in Levs Kindheit. Damit ergeben sich beim Lesen nicht die Fragen, was wird als nächstes passieren, sondern, was ist damals passiert, wie erklären sich die unterschiedlichen Lebenswege und Entscheidungen von Lev und Kato. Neue Figuren tauchen auf und sind uns zunächst fremd, erst mit den nachfolgenden Kapiteln lernen wir sie kennen, ihre Geschichte und damit auch die Zusammenhänge. Eindrückliche Beschreibungen Rumäniens, seiner Dörfer und Städte, der Natur und vor allem auch der vielen unterschiedlichen Volksgruppen und der politischen Verhältnisse ergänzen die Handlung. Die Sprache ist leise, eindrücklich, poetisch und ist wunderbar zu lesen.

Fazit

Ein beeindruckender, lange nachhallender Roman, der durch die Erzählform und die Vielfalt wichtiger Themen überzeugt und dessen wunderbare Sprache das Lesevergnügen vollkommen macht.

The Summer Without Men – Siri Hustvedt

AutorSiri Hustvedt
VerlagSceptre
Datum3 March 2011
AusgabeKindle Edition
Seiten225 (print-version)
SpracheEnglish
ASINB004Q9TK7A

“I will report on that later. Chronology is sometimes overrated as a narrative device.” (Zitat Seite 198)

Inhalt

Die fünfundfünfzig Jahre alte New Yorker Dichterin und Universitätsprofessorin Mia Fredricksen schlittert in eine ernste persönliche Krise, als ihr Mann Boris nach dreißig gemeinsamen Ehejahren eine Pause braucht. Rasch findet sie heraus, dass diese Pause eine wesentlich jüngere Kollegin ist. Sie beschließt, diesen Sommer als eigene Auszeit im ländlichen Ort ihrer Kindheit in Minnesota zu verbringen, umgeben von Frauen unterschiedlicher Generationen. Da sind ihre Mutter und deren vier lesebegeisterte Freundinnen, die älteste ist einhundertzwei Jahre alt. Spontan übernimmt Mia die Aufgabe, einen Lyrikkurs für Mädchen im Teenageralter zu geben. Sie hat ein Haus über den Sommer gemietet und freundet sich auch mit ihrer Nachbarin an, eine junge Mutter. Inzwischen hält Mias Tochter Daisy in New York den Kontakt zu ihrem Vater aufrecht.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um unterschiedliche Frauen aus verschiedenen Generationen, ihre Probleme, Konflikte, Freundschaft, Beziehungen, Ehe, Familie und die Erkenntnis, dass es möglich ist, in jeder Lebensphase neue Wege gehen zu können.

Erzählform und Sprache

Siri Hustvedt wählt hier eine moderne Schreibform, durchbricht die chronologischen Abläufe oft durch eigene Bewusstseinsströme, gedankliche Ausflüge in die Literatur, Erinnerungen, um dann nach einigen Umwegen wieder über die Ereignisse dieses aktuellen Sommers zu berichten. Die Sprache bringt Ruhe in die facettenreichen Handlung und ist einfühlsam, ehrlich und übt durchaus humorvoll Selbstkritik. Ich habe das englische Original gelesen, im Juni 2024 wird bei Rowohlt Taschenbuch eine neue Sonderausgabe von „Der Sommer ohne Männer“ erscheinen.

Fazit

Die Geschichte eines Sommers, in deren Mittelpunkt Frauen aller Alters- und Lebensstufen stehen, mit zeitlos aktuellen Themen.

Warten auf den Anruf – Birgit Rabisch

AutorBirgit Rabisch
VerlagAchter Verlag
Datum12. Oktober 2009
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten504
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3981237214

„Es geht mir darum, mir eine Familie zu erschreiben. Keine Traumfamilie, keine Wunschfamilie … überhaupt eine Familie.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Die Schriftstellerin Verena will ihre Geschichte über die wichtigen Frauen ihrer Familie in der aktuellen Zeit beginnen, mit Irène Vonderwied, die darauf wartet, am nächsten Morgen einen besonderen Anruf zu erhalten. Doch ihre Agentin überzeugt sie, die Geschichte chronologisch zu beginnen, mit Verenas Urgroßmutter Emma Hartkopf, Gattin des Wissenschaftlers Erich Hartkopf, der bei der Entwicklung der Chemiewaffen im Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle spielte. Emmas Tochter Wilhelmine dagegen interessiert sich nicht für Chemie, sondern ist eine begeisterte Physikerin. Ihr Fachgebiet ist die Kernphysik und sie ist von den vielen Möglichkeiten einer friedlichen Nutzung der Atomenergie überzeugt, wenn nur erst der Zweite Weltkrieg zu Ende ist. Erst jetzt führt die Geschichte zu Wilhelmines Tochter Irène. Physik fand Irène schon immer langweilig. Sie ist eine international bekannte Biologin, Fachgebiet Stammzellenforschung.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um drei Generationen von Frauen und jede dieser Frauen ist mit einer in ihrer Zeit besonders wichtigen Wissenschaftssparte eng verbunden, Chemie, Physik und Biologie. Doch während Emma noch die traditionelle Ehefrau und Mutter ist, bestimmen Wissenschaft und Forschung das Leben von Wilhelmine und Irène, beide auf ihrem Fachgebiet hochbegabt, ehrgeizig und sehr erfolgreich. Themen sind Frauenleben, die Stellung der Frau im Gefüge der universitären Wissenschaften, Familie, Freundschaft, Liebe, und die mit den jeweiligen bahnbrechenden Forschungsergebnissen verbundenen ethischen Fragen nach persönlicher Verantwortung und über mögliche Grenzen der Wissenschaft.

Erzählform und Sprache

Dieser Roman ist ein drei große Abschnitte geteilt, Emma, Wilhelmine, Irène. Die Geschichte der im jeweiligen Mittelpunkt stehenden Frauenfigur wird chronologisch und personal erzählt. Erinnerungen greifen jedoch immer wieder in vorhergehende Abschnitte zurück und und ergänzen mit weiteren Details, besonderen Ereignissen, neuen Sichtweisen und Gedanken. Diese Erzählform sorgt für Spannung, während die präzisen, aber gut verständlichen Erklärungen der wissenschaftlichen und geschichtlichen Hintergründe, Fakten und Realität, die fiktive Handlung mit interessantem Wissen ergänzen. Die Autorin Verena als Ich-Erzählerin bespricht die einzelnen Schritte des Schreibprozesses an ihrer Geschichte mit ihrer Agentin und diese Gespräche umrahmen die drei Abschnitte, verbinden sie.

Fazit

Ein packender, interessanter Wissenschafts-, Frauen- und Generationenroman, eine spannende, gelungene Mischung, die man mit großem Vergnügen liest.

Mama Odessa- Maxim Biller

AutorMaxim Biller
VerlagKiepenheuer&Witsch
Datum17. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004861

„Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.“ (Zitat Pos. 55)

Inhalt

1971 durfte die jüdische Familie Grinbaum aus der Sowjetunion ausreisen, doch statt in Tel Aviv, wie sein Vater Gena es sich gewünscht und geplant hatte, landen sie in der Bieberstraße 7 im Hamburger Grindelviertel. Hätte Aljona Grinbaum Jahre später ihren Mann auf einer seiner Reisen nach Israel begleitet, hätte dieser vielleicht die junge Deutsche nicht kennengelernt, wegen der er nun seine Frau verlässt. Mischa Grinbaum, der Sohn, ist noch ein Kind, als sie Odessa verlassen, inzwischen ist er längst erwachsen und Schriftsteller. Die großen Lücken in der Geschichte seiner Familie füllen sich erst langsam, verbinden sich mit seinen plötzlich wieder auftauchenden Kindheitserinnerungen, als er nach dem Tod seiner Mutter neben den alten Unterlagen und Fotoalben auch das Manuskript für ihr zweites, nicht mehr veröffentlichtes, Buch findet, und ein Bündel Briefe, die sie im Laufe vieler Jahre an ihn geschrieben, aber nicht abgeschickt hatte.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Generationen- und Familienromans einer russisch-jüdischen Familie steht der Schriftsteller Mischa Grinbaum und natürlich sind Literatur und das Schreiben Themen, doch vor allem geht es um die Konflikte in Eltern-Kind-Beziehungen, um Familiengeheimnisse und der Geschichte der Juden in Russland.

Charactere

Im gedanklichen Hintergrund der Familie immer präsent ist Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, Aljonas Vater, Mischas Großvater, der in Odessa geblieben ist. Mischa beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller schon in jungen Jahren, während seine Mutter zwar ihr ganzes Leben lang ihre eigenen Erfahrungen als Erzählungen niederschreibt, doch als ihr erstes Buch herauskommt, ist sie weit über sechzig Jahre alt. Sie lieben einander, aber besonders Mischa braucht viel Abstand. Den Zugang zu seiner Mutter findet er, indem er über sie schreibt.

Erzählform und Sprache

Mischa schreibt die Geschichte seiner Familie in der ersten Person, in Kapiteln, doch es gibt keine chronologische, fortlaufende Handlung. Es sind, wie in der persönlichen Erinnerung, Episoden, die je nach Situation und Ereignis auftauchen, und daher auch lebhaft wiederholt zwischen den Zeiten wechseln, von der Gegenwart in unterschiedliche Jahre in der Vergangenheit, und wieder zurück. Erzählungen aus dem Buch der Mutter, jeweils ein eigenes Kapitel, vertiefen mit weiteren Details, die der Ich-Erzähler nicht wissen kann. Dennoch, und hier zeigt sich auch in diesem Roman das besondere Können des Autors, entsteht nie eine Unruhe in den Abläufen, es bleiben am Ende keine offenen Erzählstränge, sondern die Einzelteile füllen die Lücken eines im Hintergrund immer präsenten Gesamtbildes einer Familiengeschichte mit allen Höhen, Tiefen, Konflikten und Geheimnissen. Die Sprache ist einfühlsam, in den Beschreibungen präzise, bunt und lebhaft und man liest dieses Buch mit Vergnügen.

Fazit

Eine beeindruckende, vielseitige Familiengeschichte über den Verlust der Heimat, und die Suche nach dem Platz und Sinn im eigenen Leben, in deren Mittelpunkt eine von Konflikten und dennoch tiefer Zärtlichkeit füreinander geprägte Mutter-Sohn-Beziehung steht.

Die Glasschwestern – Franziska Hauser

AutorFranziska Hauser
Verlag Eichborn Verlag
Erscheinungsdatum 28. Februar 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten432
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3847900450

„Das Schicksal hat ihnen gleichzeitig denselben Schlag erteilt und gesagt: Seht zu, wie ihr klarkommt, wenn ihr einander nicht helfen könnt.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Dunja und Saphie, neununddreißig Jahre alt, sind Zwillingsschwestern, doch ihr Leben verläuft in unterschiedlichen Bahnen. Dunja war früh Mutter geworden und lebt in der Großstadt, der Sohn studiert bereits, die Tochter bereitet sich auf das Abitur vor, vom Vater ihrer Kinder hat sie sich vor kurzer Zeit endgültig getrennt. Ursprünglich war es Saphie, die möglichst schnell aus dem kleinen Dorf, ehemals DDR, in die Stadt ziehen wollte, doch sie bleibt und leitet gemeinsam mit ihrem Mann ein Hotel. Dann kommt dieser Wintermorgen, Dunjas Ex-Mann stürzt vom Dach und ist tot. Am selben Morgen kippt Saphies Mann tot vom Hometrainer. Nach der Beerdigung bleibt Dunja in Saphies Hotel, entdeckt das Dorf ihrer Kindheit neu. Die Schwestern kommen einander wieder näher, beide sind auf der Suche nach Antworten, wie es nun weitergehen soll. Durch Reporter stoßen sie auf ein Familiengeheimnis, das alle im Dorf schon längst zu kennen schienen, nur Dunja und Saphie nicht. Kann diese Aufarbeitung der Vergangenheit den beiden Frauen helfen, die jeweils für sie selbst passende Zukunft zu finden?

Thema und Genre

In diesem Generationen- und Familienroman geht es um Familienstrukturen und Familienbeziehungen, um ein Familiengeheimnis, Dorfleben, Verlust, Trauer und Neubeginn.

Charaktere

Nach zwanzig Jahren steht Dunja wieder am Beginn eines Lebens, in dem sie im Mittelpunkt steht, das ihr allein gehören wird, denn ihre Kinder wollen eigene Wege gehen, ihr eigenes Leben führen. Sie will nicht mehr Deutsch als Fremdsprache unterrichten, doch was will sie stattdessen? Bisher war es Saphie, die immer die Kontrolle hatte, nach vorne geschaut hat, den Blick auf die Zukunft gerichtet. Doch plötzlich fühlt sie sich in ihrem Dorf fremd.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, wie auch der Übergang der Natur vom Winter in den Frühling und weiter im Jahreslauf. Die kurzen Kapitel tragen jeweils einen Kalenderspruch als Überschrift und berichten abwechselnd, oder auch gleichzeitig, über die das Leben der Hauptfiguren. Handlungsbogen und Spannung ergeben sich nicht aus den Ereignissen, sondern vor allem aus den persönlichen Konflikten und Problemen der einzelnen Figuren, ihren Gedanken, ihrem Verhalten und ihren Entscheidungen. Wiederkehrende Symbole oder auch Metapher, deren Deutung uns Lesenden überlassen bleibt, verdichten die Schilderung der Gefühlswelten, in denen sich die Figuren bewegen. Die Erzählsprache ist angenehm und einfach zu lesen.

Fazit

Dieser Roman lässt mich etwas ratlos zurück. Bis etwa zur Hälfte war es für mich eine überraschende, witzige, ungewöhnliche Geschichte mit vielen aus dem Leben gegriffenen Themen wie Alltagsprobleme von Ehefrauen, Müttern mit Kindern auf dem Weg in die Selbstständigkeit, Spannungen und Geheimnisse innerhalb von Familiengefügen, alle diese Komponenten gekonnt verknüpft. Doch dann flacht die Handlung ab, die Befindlichkeiten der beiden so unterschiedlichen Frauen stehen im Mittelpunkt und damit Selbstzweifel und sich wiederholende Fragen, wobei die Sichtweisen zwischen Dunja und Saphie auch öfter die Seiten wechseln, einander widerspiegeln. Eine komplexe, spannende Grundidee, mit Längen in der Umsetzung.

Die Abtrünnigen – Abdulrazak Gurnah

AutorAbdulrazak Gurnah
Verlag Pengiun Verlag
Erscheinungsdatum 26. April 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzungStefanie Schaffer-de Vries
ISBN-13978-3328602613

„Es ist eine Geschichte darüber, dass eine Geschichte viele Geschichten enthält und dass sie nicht nur uns gehören, sondern Teil der zufälligen Strömungen unserer Zeit sind. Und es ist eine Geschichte darüber, wie wir uns in Geschichten hineinverstricken und für alle Zeit darin gefangen bleiben.“ (Zitat Seite 182)

Inhalt

Ende des 19. Jahrhunderts findet in einer kleinen ostafrikanischen Stadt der Krämer Hassanali eines Tages im Morgengrauen einen stark geschwächten Mann. Martin Pearce ist Engländer und als er später zurückkommt, um sich für seine Rettung zu bedanken, verliebt er sich in Rehana, Hassanalis Schwester. Eine Liebe, die nicht nur ein Skandal, sondern auch streng verboten ist. Mitte des 20. Jahrhunderts verliebt sich der junge Amin in Jamila, einige Jahre älter als er, eine geschiedene Frau, die auf Grund ihrer Unabhängigkeit und ihrer angeblich zweifelhaften Herkunft im Mittelpunkt von Gerüchten steht.  Auch diese Liebe wäre ein Skandal, käme sie an die Öffentlichkeit. Amins Eltern bedrängen ihn wegen der drohenden Schande und der gesellschaftliche Ächtung, die er über die Familie bringen würde. Rashid, Amins jüngerer Bruder, will der Enge der Heimat entfliehen und plant zu dieser Zeit bereits seine Reise nach London, wo er bereits an einer Universität aufgenommen wurde. Trotz der Ablehung und Ausgrenzung, mit der man ihm begegnet, bleibt er nach dem Abschluss seines Studiums in England. Doch die Geschichte von Amin und Jamila beschäftigt ihn auch noch viele Jahre später, und er beginnt mit Nachforschungen.

Thema und Genre

Dieser außergewöhnlich facettenreiche Roman spielt in Ostafrika und England, und ist sowohl ein Familienroman, als auch ein Generationenroman. Themen sind Kolonialismus, Unterdrückung, Ausgrenzung, gesellschaftliche Traditionen, Politik, Heimat und Fremde, Liebe und Trennung.

Charaktere

Es sind unterschiedliche Charaktere und ebenso unterschiedlich ist ihre Art, mit äußeren Zwängen und dem Druck gesellschaftlicher Regeln und Wertvorstellungen umzugehen, und trotz aller Widerstände ihren Platz im Leben zu suchen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung wird in neun Abschnitten erzählt, wobei jeweils eine Person im Mittelpunkt steht, die dem jeweiligen Abschnitt den Titel gibt und wo es vor allem um die jeweilige persönliche Lebenssituation, die Vergangenheit, Erfahrungen und Konflikte geht. Der Autor nimmt sich Zeit und schildert nicht nur die Ereignisse und das Leben der einzelnen Protagonisten, sondern auch das Umfeld, das Alltagsleben der Menschen, die politische Situation dieses Teiles von Ostafrika unter den Engländern, und später während der Umstürze, nachdem Sansabar Ende 1963 unabhängig geworden war. Es ist Rashid, der die Geschichte erzählt, doch er präzisiert: „Es gibt, wie Sie sehen, ein Ich in dieser Geschichte, aber es ist keine Geschichte über mich. Es ist eine Geschichte über uns alle, über Farida und Amin, über unsere Eltern und über Jamila.“ (Zitat Seite 182). So folgen wir fasziniert und gespannt einem Zeitrahmen  etwa einhundert Jahren, pendeln zwischen Afrika und England und sind keine einzige Minute gelangweilt.

Fazit

Abdulrazak Gurnah ist ein leiser, aber eindrücklicher Erzähler, er klagt nicht an, sondern beleuchtet alle Graubereiche der Geschichte und der Menschen, und dies alles in einer wunderbar zu lesenden Erzählsprache.

Tochter einer leuchtenden Stadt – Defne Suman

AutorDefne Suman
Verlag List Hardcover
Erscheinungsdatum 30. März 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten496
SpracheDeutsch
ÜbersetzerGerhard Meier
ISBN-13978-3471360552

„Seit Anbeginn hat der Mensch etwas erschaffen und zugleich Krieg geführt. Was heute dir gehört, gehörte gestern einem anderen, und morgen wird es wieder ein anderer bekommen.“ (Zitat Pos. 3393)

Inhalt

An diesem Tag im September 1905 kommt der Inder Avinash Pillai, ein britischer Spion, zum ersten Mal in die blühende Metropole und lebhafte Hafenstadt Smyrna, das heutige Izmir. Als er an Bord des Passagierschiffes Afrodit gerade den Sonnenuntergang über der Stadt bewundert, ahnt er nicht, was ihn eines Tages mit dem Mädchen verbindet, das an genau diesem Tag geboren wird. Dieses Geheimnis enthüllt sich ihm Jahre später durch Zufall, als er ein altes Foto sieht, während er an diesem Septembertag 1922, wieder an Bord eines Schiffes, einen letzten Blick auf die brennende Stadt wirft. Das Mädchen selbst entkommt den Flammen und wird von einer türkischen Familie gerettet. Gebannt lauscht auch sie den Geschichten der Romni Yasemin, ohne zu ahnen, dass eine dieser Geschichten auch sie betrifft.

Thema und Genre

In diesem Frauen- und Generationenroman geht es um den Untergang der weltoffenen, multiethnischen Stadt Smyrna, türkisch Izmir, als Folge eines Großbrandes am 13. September 1922, am Ende des Griechisch-Türkischen Krieges. Themen sind die gesellschaftliche Stellung der Frauen im Smyrna des frühen 20. Jahrhunderts, Traditionen, Familie und natürlich die Liebe.

Charaktere

Im Mittelpunkt des Romans stehen Frauen aus vier unterschiedlichen Kulturkreisen: levantinisch, griechisch, türkisch und armenisch, denn es sind die Frauen, die im Hintergrund, aber selbstbewusst auch im Vordergrund, die Geschicke ihrer Familien bestimmen.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird abwechselnd in mehreren Erzählsträngen geschildert, die zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden. Das vor dem Feuer gerettete Mädchen wird von seiner neuen Familie Scheherezade genannt und sie ist es, die später diese Geschichte aufschreibt, daher wird ein Teil in der Ich-Form geschildert, der Großteil des Romans jedoch in der personalen Erzählform. Die jeweiligen Zeitangaben finden sich manchmal im Text der einzelnen Kapitel und Abschnitte, sind aber sehr ungenau gehalten. Hier hätte ich mir präzisere Angaben gewünscht, auch eine genauere Einbindung der historischen Fakten. Insgesamt ist es eine unruhige Erzählform und für mich waren die „Hints“, also Andeutungen, Hinweise auf zukünftige Ereignisse, zu viel. Die Sprache beeindruckt bei den Schilderungen der Stadt, der Menschen, des Alltagslebens, der Stimmungen und ihrer Gefühle, wird jedoch überbordend bei den Beschreibungen einzelner Szenen während des großen Feuers.

Fazit

Die Idee hinter dem Roman, der Plot in Verbindung mit den bekannten historischen Tatsachen, hatten mich neugierig gemacht. Leider konnte mich die Autorin nicht vollkommen überzeugen, sie bleibt sowohl bei der Handlung, als auch bei den Figuren, der Problematik, den Konflikten an der Oberfläche, die geschichtlichen Hintergründe werden nur gestreift. So wurde daraus ein weiterer Frauenroman mit historischem Hintergrund, ein Genre, das sich in den letzten Jahren großer Beliebtheit erfreut. Wer nicht mehr erwartet, wird auch dieses Buch sehr gerne lesen.

Als Großmutter im Regen tanzte – Trude Teige

AutorTrude Teige
Verlag S. FISCHER Verlag
Erscheinungsdatum 22. Februar 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten384
SpracheDeutsch
ÜbersetzerGünther Frauenlob
ISBN-13978-3949465123

„Die meisten Geheimnisse der Menschen haben keine Konsequenzen für jemand anderen als sie selbst. Sie wollen einfach nicht, dass andere etwas über sie erfahren. Aber es gibt auch Geheimnisse, die für das Leben der anderen wichtig sind und die erzählt werden sollten.“ (Zitat Seite 361)

Inhalt

Juni, Anfang dreißig, braucht eine Auszeit, um über ihre Ehe mit Jahn und über ihre Zukunft nachzudenken. Sie zieht sich in die Einsamkeit einer kleinen norwegischen Insel zurück. Von ihrer vor kurzem verstorbenen Mutter Lilla hat Juni dort das Haus ihrer Großeltern geerbt. Umgeben von den Erinnerungen an ihre Kindheit, deren erste Jahre sie in diesem Haus bei den Großeltern verbracht hatte, beginnt Juni, die Sachen zu ordnen. Sie entdeckt zwei Schachteln, die tief hinter der Wäsche im Schrank der Großeltern versteckt waren. Darin befinden sich Erinnerungsstücke und ein altes Foto, das ihre Großmutter Tekla mit einem deutschen Soldaten zeigt, datiert 27. Juni 1945. Auf der Suche nach Antworten beginnt Juni nachzuforschen und mit dem Wissen um die Vergangenheit findet sie auch zu sich selbst.

Thema und Genre

In diesem Generationen- und Familienroman geht es um die Auswirkungen, die das Schweigen der Großeltern auf die Nachkommen hat. Der Zweite Weltkrieg, Norwegen unter deutscher Besetzung und die unmittelbare Nachkriegszeit bilden den Hintergrund vor allem für die Schicksale der Frauen in dieser Zeit, Leid, aber auch Freundschaft und Liebe.

Charaktere

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen drei Frauen, Tekla, Lilla und Juni, Großmutter, Tochter und Enkelin. Doch es sind vor allem Männer, die ihr Leben und ihre Entscheidungen geprägt haben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in zwei Erzählsträngen geschildert. Der erste Erzählstrang spielt in der Jetztzeit und im Mittelpunkt stehen Juni und ihre Recherchen. Junis Erinnerungen an ihre Großmutter Tekla, ihren Großvater Konrad, und auch an ihre Mutter Lilla unterbrechen und ergänzen die aktuelle Handlung. Der zweite Erzählstrang spielt in der Vergangenheit, in den Jahren zwischen 1944 und 1948. Die Sprache entspricht dem Genre.

Fazit

Die Beschreibung dieses Romans als „Der bewegende Bestseller aus Norwegen um ein unbekanntes Stück deutscher Geschichte“ hat mich neugierig gemacht. Doch leider ist es nur eine weitere Geschichte des seit einigen Jahren sehr beliebten Genres „Berührender Generationen- und Starke-Frauenfiguren-Roman mit Familiengeheimnis“. Den Hintergrund bildet eine plakative Schilderung der Zeit um und nach Kriegsende im Osten von Deutschland unter den Russen, und im völlig zerstörten Berlin. Somit nichts, das man nicht schon wusste. Auch die deutsche Besetzung Norwegens wird nur kurz und oberflächlich für Teklas Geschichte gestreift. Meine Erwartungen konnte dieser Roman nicht erfüllen, aber ich bin sicher, dass er auch in hier in Deutschland Leserinnen dieses Genres begeistern wird.

Lektionen – Ian McEwan

AutorIanMcEwan
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 28. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten720
SpracheDeutsch
ÜbersetzungBernhard Robben
ISBN-13978-3257072136

„Die Zeiten seiner wilden Reisen waren zwar vorbei, aber der Wunsch nach Abenteuern und einer unmöglichen Freiheit verdarb ihn immer noch für die Gegenwart, die doch die meisten Befriedigungen des Lebens bereithielt. Es war eine Frage der inneren Einstellung. Sein wahres Leben, das grenzenlose Leben, fand anderswo statt.“ (Zitat Seite 237)

Inhalt

Im Spätsommer 1959 kommt Roland Baines, elf Jahre alt, mit seinen Eltern aus Libyen nach England. Für ihn beginnt, dreitausend Kilometer von seinen Eltern entfernt, das Internatsleben. Die Erfahrungen dieser Jahre verändern sein ganzes weiteres Leben. Er hat viele Pläne, reist, vermeidet Bindungen. Doch dann trifft er Alissa, verliebt sich, heiratet. Wenige Monate nach der Geburt seines Sohnes Lawrence verlässt Alissa völlig überraschend ihn und das Baby. Er ist fassungslos, sucht nach Alissa, doch sie will nicht gefunden werden. Gleichzeitig bringt das Leben mit seinem Sohn auch Routine und Ordnung in sein eigenes Leben. Mit den Jahren beginnt er, über sein Leben nachzudenken, über wichtige Entscheidungen, die er getroffen hat und die Konsequenzen. „Die Vergangenheit war nicht mehr zu retten, aber die Gegenwart konnte er vor dem Vergessen bewahren.“ (Zitat Seite 477)

Thema und Genre

Dieser Roman schildert ein Menschenleben von der Kindheit bis ins Alter, die Ereignisse und Entscheidungen, gleichzeitig ist es ein zeitpolitischer Roman und ein Familien- und Generationenroman. Es geht um Lebenspläne, um das Leben als Schriftsteller, um Träume, Enttäuschungen, Beziehungen, Liebe, Fragen und die Suche nach dem Platz im eigenen Leben.

Charaktere

In jungen Jahren träumt Roland Baines von einem Leben in Freiheit, ohne Verpflichtungen. Auch nach der Zeit im Internat macht ihn dies ruhelos, voller Ideen, die er rasch wieder vergisst, nie zu Ende bringt. Er lässt sich durch sein Leben treiben, reagiert, aber agiert nicht. Die Charaktere und die Geschichten der Hauptfiguren enthüllen sich langsam, zunächst fehlen viele Details, doch  im Laufe der Handlung gewinnen wir immer mehr Einblicke in die Vergangenheit. Entscheidungen sind nachvollziehbar, erklärbar, auch wenn man selbst unterschiedlicher Meinung ist.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung schildert das Leben der Hauptfigur Roland Baines chronologisch über viele Jahre, Zeitsprünge sind durch die entsprechenden Jahreszahlen oder Altersangaben leicht zu erkennen. Doch dies ist nur eine Seite dieser facettenreichen Geschichte, denn einen wichtigen Teil machen seine Erinnerungen, Gedankengänge, Überlegungen aus und werden durch viele Gespräche zwischen den Hauptfiguren ergänzt. Die Geschichten der Elterngeneration ergeben sich zum Teil aus Tagebüchern und aus Erzählungen. Chronologisch ist jedoch nur Rolands Geschichte, alle diese ergänzenden Episoden tauchen plötzlich auf, wenn Roland sich daran erinnert, darüber nachdenkt, nach Antworten für sein Leben sucht. Diese Art des Erzählens, des Schilderns und die genauen Beobachtungen, so vielseitig wie die sprachliche Umsetzung, machen das Lesen dieses Romans zu einem packenden Erlebnis.

Fazit

Ein epischer Roman über das Leben, als Wienerin fällt mir der Songtitel „mei potschertes Leb’n“ ein, denn es ist kein einfaches Leben, das Roland führt. Held, Antiheld, gar kein Held, irgendwie doch ein Held, das alles in einer Figur. Gleichzeitig ein politisch-kritischer Roman über eine Generation, die den Fall der Mauer bereits im Erwachsenenalter erlebt hat, die damit verbundenen Hoffnungen, Erwartungen und dann in nur dreißig Jahren  erleben musste, dass immer mehr neue Mauern errichtet wurden und werden. Ich wollte mich während dieser Lesestunden mehrmals überreden, Roland Baines nicht zu mögen, sein Zaudern, seine Antriebslosigkeit – und doch ist es mir in keiner Minute gelungen, dieses Buch nicht großartig zu finden. „Es gab Strömungen, Handlungsstränge, Entwicklungen, die niemand hätte vorhersehen können, auf den nun verbrannten Seiten hatte er nicht einmal die entsprechenden Fragen gestellt.“ (Zitat Seite 696). Hier schreibt ein Autor, der nicht nur alle Facetten der Sprache kennt, sondern auch alle Facetten des Lebens.

Töchter Haitis – Marie Vieux-Chauvet

AutorMarie Vieux-Chauvet
NachwortKaiama L. Glover
Verlag Manesse Verlag
Erscheinungsdatum 28. September 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinNathalie Lemmens
ISBN-13978-3717525509

„Ich blickte ohne Widerstreben oder Abscheu auf mich, erkundete voll Inbrunst jene Seele, die zu mir gehörte, horchte auf den neuen Tonfall meines Denkens und verstand, was es damit auf sich hatte.“ (Zitat Seite 80)

Inhalt

Lotus Degrave hat durch ihren französischen Vater eine helle Hautfarbe und gehört damit Anfang der 1940er Jahre in Haiti zur elitären Gesellschaftsschicht. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter lebt sie allein in der von ihrer Mutter geerbten Villa in Port-au-Prince. Da allgemein bekannt ist, womit ihre Mutter ihr Geld verdient hat, wird Lotus von ihrer Gesellschaftsklasse ausgegrenzt. Andererseits wird sie von den Schwarzen auf Grund ihrer hellen Haut genau dieser verhassten, herrschenden Klasse zugeordnet. So lebt sie trotz der Feste, die sie in ihrer Villa gibt, ein einsames, isoliertes, gelangweiltes Leben. Dann lernt sie Georges Caprou kennen. Er ist der Anführer einer Gruppe von Männern, die sich gegen die Ungerechtigkeiten des herrschenden Regimes auflehnen und eine Revolution planen. Durch ihn sieht sie endlich die Armut, das Leid und das Elend der Menschen, das schon in der Nachbarschaft ihres großen Anwesens beginnt, und beschließt, sich zu ändern, selbst aktiv zu werden.

Thema und Genre

Dieser Roman der haitianischen Schriftstellerin Marie Vieux-Chauvet ist vielseitig, einerseits sozialkritischer Gesellschaftsroman, zeigt er in der Entwicklung der jungen Lotus auch Elemente des Coming-of-Age-, Familien- und Abenteuerromans. Es geht um die Situation der Frauen in den 1940er Jahren in Haiti. Zeitlos aktuelle Themen sind die Gesellschaftsstrukturen, die tiefen Gräben zwischen den Bevölkerungsschichten durch Hautfarbe und Abstammung, damit verbunden Unterdrückung, Armut, Hass und Gewalt, und die sich daraus ergebende brisante politische Situation.

Charaktere

Lotus ist eine junge Frau, die durch das strenge Klassendenken isoliert ist. Von ihrem Leben gelangweilt, oberflächlich und eingebildet, ändert sie sich, als sie die Armut und das Elend der Menschen um sich herum bewusst erkennt. Zunächst will sie vor allem Georges mit ihrer neuen Haltung beeindrucken. Nicht alles, was gut gemeint ist, ist auch gut durchdacht, immer wieder zweifelt sie an sich selbst, reagiert aufbrausend. „Die Erziehung einer Frau bereitet sie darauf vor, ihr Leben lang an sich zu zweifeln.“ (Zitat Seite 169)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird von Lotus selbst als Ich-Erzählerin geschildert. Die Handlung verläuft chronologisch und wird durch Erinnerungen ergänzt. Da die Autorin besonders auf die Situation der Frauen während dieser Zeit des Klassendenkens und der politischen Umbrüche eingehen will, erleben wir durch die gesamte Handlung auch die persönliche Entwicklung von Lotus Degrave mit, ihre Gedanken und ihre Selbstzweifel. Es sind diese inneren Monologe, in denen sie sich ausführlich mit ihren eigenen Befindlichkeiten und Gefühlen beschäftigt, welche die Sprache manchmal ausufernd, beinahe schwülstig, erscheinen lassen. Ich persönlich hätte daher die Geschichte lieber in einer personalen Erzählform gelesen. Andererseits ist es die Sprache der Zeit, in der dieser Roman geschrieben wurde, er ist 1954 erschienen. Besondere Ausdrücke im Text sind mit Fußnoten versehen und werden in den Anmerkungen am Buchende erklärt. Wichtig ist das Nachwort, welches mit einer kurzen Biografie der Schriftstellerin beginnt und dann die geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge näher erläutert und die Figur der Lotus in diesem Kontext betrachtet. Dies sind wissenswerte Ergänzungen, die auch dem besseren Verständnis für die Hintergründe und Anliegen dieses Romans dienen und Informationen über ein Land, über das ich bisher wenig wusste.

Fazit

Ein facettenreicher, eindrucksvoller Roman, der interessante und zeitlos aktuelle Einblicke in die Gesellschaftsstrukturen, die Stellung und das Leben der Frauen und die Politik des Inselstaates Haiti bietet.

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