Ein falsches Wort – Vigdis Hjorth

AutorVigdis Hjorth
VerlagS. FISCHER
Datum13. März 2024
AusgabeHardcover
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13 978-3103975130

„Das war gut, und es war kein Wunder, dass sie wahrscheinlich darüber gesprochen hatten, was von der Geschichte zu halten war, denn man kann nicht alles glauben, was Menschen über ihre Kindheit erzählen.“ (Zitat Seite 245)

Inhalt

Der Erbstreit zwischen den vier Geschwistern beginnt schon Wochen vor dem Tod des Vaters, als dieser die beiden Ferienhütten der Familie auf der Insel Hvaler auf die zwei jüngeren Töchter Astrid und Åsa überschreibt und sowohl Bård, den Ältesten, als auch die ältere Tochter Bergljot übergeht. Dreiundzwanzig Jahre ist es her, seit Bergljot mit der Familie gebrochen hat, doch nun ergreift sie Partei für Bård. Bald wird klar, in dieser Geschichte ihrer Familie, die uns Bergljot hier erzählt, ist der Streit um das Erbe nur der Auslöser, denn es ist Bergljot, die endlich gesehen werden will. Sie will, dass man ihr endlich zuhört und ihr glaubt, denn ihre Kindheit ist anders verlaufen, als die ihrer beiden jüngeren Schwestern. Vielleicht könnte sie dann endlich einen Schlussstrich ziehen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Familiengeheimnisse, prägende Kindheitserfahrungen, Mutter-Kind-Konflikte, Geschwister, Anerkennung, Glaubwürdigkeit, Vertuschung, Schuld und die Frage nach den Grenzen der Vergebung.

Erzählform und Sprache

„Ich wusste nicht, wie es war, ein normaler Mensch zu sein, ein unbeschädigter Mensch, ich hatte keine andere Erfahrung als meine eigene.“ (Zitat Seite 75) Dies sagt die Ich-Erzählerin Bergljot, beinahe sechzig Jahre alt, Literaturwissenschaftlerin und Mutter von drei erwachsenen Kindern, über sich selbst. Die aktuelle Handlung erstreckt sich über einen knappen Zeitraum zwischen dem Tod des Vaters, Notartermin und Abwicklung des Nachlasses. Die persönlichen Erinnerungen, welche die Ich-Erzählerin mit uns teilt, schieben sich als kurze Episoden und nicht chronologisch zwischen die aktuellen Ereignisse. So wird rasch klar, dass sich der tiefe Riss, der sich seit dem Erbstreit durch die Familie zieht, nur symbolisch ist für Verfälle, sie weit in der Vergangenheit liegen und die nicht klar ausgesprochen werden, aber dennoch deutlich genug sind, wenn Bergljot „darüber“ sprechen will. Durch die gewählte Form der direkt Betroffenen als Ich-Erzählerin tauchen wir tief in ihre Gedankenströme ein. Die Sprache, wie die Hauptfigur Bergljot selbst, ist anstrengend, wie ein in Wiederholungen sich drehender Gedankenkreisel, und man wird beim Lesen in diesem Sog mitgewirbelt. Als bewusst eingesetztes Stilelement passen die dauernden Wiederholungen einzelner Gedankengänge für mich perfekt, aber diese Wiederholungen der Gedanken, Worte und Sätze ziehen sich konstant durch die gesamte Geschichte. Auch wenn die Idee dahinter klar ist, es wird die Situation der Hauptfigur auch durch die Sprache eindrücklich dargestellt, so hat die Handlung dadurch trotz einiger bewusst eingesetzter Wendungen und Spannungselemente Längen. „Das Leben der Menschen ist wie ein Roman, dachte ich, wenn du in einem Roman weit genug gekommen bist, willst du, auch wenn er ziemlich langweilig ist, wissen, wie es weitergeht …“ (Zitat Seite 310) Dieses Teilzitat beschreibt perfekt meine persönliche Leseerfahrung mit diesem Roman.

Fazit

Eine gespaltene Familie, verstörende Geheimnisse, über die nicht gesprochen wird, und die wiederholten Versuche einer etwas nervenden, an sich selbst und ihrem Leben zweifelnden Hauptfigur, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.

Léon und Louise – Alex Capus

AutorAlex Capus
VerlagCarl Hanser
Datum7. Februar 2011
AusgabeKindle-Ausgabe
Seiten320 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ASINB004W2JWZG

„Da haben wir uns ein paar Jahre lang ziemlich nah beieinander die Hintern plattgesessen. Das nennt man Pech.“ (Zitat Seite 135)

Inhalt

Der junge Morseassistent Léon Le Gall ist siebzehn Jahre alt, als er Louise Janvier im Frühling 1918 kennenlernt. Pfingsten 1918 hat er drei Tage dienstfrei und er fährt mit ihr an den Ozean. Auf der Heimfahrt geraden sie in einen Angriff der Deutschen, Léon wird schwer verletzt und er erhält die Nachricht, Louise habe nicht überlebt. Auch Louise sagt man, dass Léon tot sei. 1928 begegnen sie einander zufällig in Paris wieder, doch Léon ist inzwischen mit Yvonne verheiratet und Vater, obwohl er nie aufgehört hat, an Louise zu denken.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um eine große Liebe, die sich durch ein ganzes Menschenleben zieht, die durch schicksalshafte Ereignisse jedoch nur heimlich gelebt werden kann, mit jeweils jahrelangen Unterbrechungen. Es geht um Familie, Verantwortung und Entscheidungen. Gleichzeitig ist dies die Geschichte Frankreichs während der beiden Weltkriege.

Erzählform und Sprache

Es ist der Enkel von Léon Le Gall, der die Lebensgeschichte seines Großvaters schildert, aktuell beginnend mit den Ereignissen vom 16. April 1986, an dem eine Frau eine Fahrradklingel in den Sarg seines Großvaters legt.  Von hier aus schwenkt die Geschichte direkt in die Vergangenheit und beginnt mit dem Tag, an dem der junge Léon dieses besondere Mädchen mit der gepunkteten Bluse zum ersten Mal sieht. Von da an zieht sich diese besondere Liebesgeschichte durch das ganze Leben von Léon und Louise und wird durch Details aus der großen Familie Le Gall auch zu einer Generationengeschichte. Die fiktiven Ereignisse fügen sich in die historischen Fakten ein, besonders in die Zeit der beiden Weltkriege und damit verbunden, das Leben in Paris während der deutschen Besatzung. Die Sprache erzählt eindrücklich, einfühlsam, doch immer mit leichtem Humor und niemals kitschig.

Fazit

Eine ungewöhnliche, mit charmanter Leichtigkeit erzählte Liebes- und Lebensgeschichte, deren Ereignisse eingebettet sind in den realen historischen Hintergrund Frankreichs im 20. Jahrhundert.

Mama Odessa- Maxim Biller

AutorMaxim Biller
VerlagKiepenheuer&Witsch
Datum17. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004861

„Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.“ (Zitat Pos. 55)

Inhalt

1971 durfte die jüdische Familie Grinbaum aus der Sowjetunion ausreisen, doch statt in Tel Aviv, wie sein Vater Gena es sich gewünscht und geplant hatte, landen sie in der Bieberstraße 7 im Hamburger Grindelviertel. Hätte Aljona Grinbaum Jahre später ihren Mann auf einer seiner Reisen nach Israel begleitet, hätte dieser vielleicht die junge Deutsche nicht kennengelernt, wegen der er nun seine Frau verlässt. Mischa Grinbaum, der Sohn, ist noch ein Kind, als sie Odessa verlassen, inzwischen ist er längst erwachsen und Schriftsteller. Die großen Lücken in der Geschichte seiner Familie füllen sich erst langsam, verbinden sich mit seinen plötzlich wieder auftauchenden Kindheitserinnerungen, als er nach dem Tod seiner Mutter neben den alten Unterlagen und Fotoalben auch das Manuskript für ihr zweites, nicht mehr veröffentlichtes, Buch findet, und ein Bündel Briefe, die sie im Laufe vieler Jahre an ihn geschrieben, aber nicht abgeschickt hatte.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Generationen- und Familienromans einer russisch-jüdischen Familie steht der Schriftsteller Mischa Grinbaum und natürlich sind Literatur und das Schreiben Themen, doch vor allem geht es um die Konflikte in Eltern-Kind-Beziehungen, um Familiengeheimnisse und der Geschichte der Juden in Russland.

Charactere

Im gedanklichen Hintergrund der Familie immer präsent ist Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, Aljonas Vater, Mischas Großvater, der in Odessa geblieben ist. Mischa beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller schon in jungen Jahren, während seine Mutter zwar ihr ganzes Leben lang ihre eigenen Erfahrungen als Erzählungen niederschreibt, doch als ihr erstes Buch herauskommt, ist sie weit über sechzig Jahre alt. Sie lieben einander, aber besonders Mischa braucht viel Abstand. Den Zugang zu seiner Mutter findet er, indem er über sie schreibt.

Erzählform und Sprache

Mischa schreibt die Geschichte seiner Familie in der ersten Person, in Kapiteln, doch es gibt keine chronologische, fortlaufende Handlung. Es sind, wie in der persönlichen Erinnerung, Episoden, die je nach Situation und Ereignis auftauchen, und daher auch lebhaft wiederholt zwischen den Zeiten wechseln, von der Gegenwart in unterschiedliche Jahre in der Vergangenheit, und wieder zurück. Erzählungen aus dem Buch der Mutter, jeweils ein eigenes Kapitel, vertiefen mit weiteren Details, die der Ich-Erzähler nicht wissen kann. Dennoch, und hier zeigt sich auch in diesem Roman das besondere Können des Autors, entsteht nie eine Unruhe in den Abläufen, es bleiben am Ende keine offenen Erzählstränge, sondern die Einzelteile füllen die Lücken eines im Hintergrund immer präsenten Gesamtbildes einer Familiengeschichte mit allen Höhen, Tiefen, Konflikten und Geheimnissen. Die Sprache ist einfühlsam, in den Beschreibungen präzise, bunt und lebhaft und man liest dieses Buch mit Vergnügen.

Fazit

Eine beeindruckende, vielseitige Familiengeschichte über den Verlust der Heimat, und die Suche nach dem Platz und Sinn im eigenen Leben, in deren Mittelpunkt eine von Konflikten und dennoch tiefer Zärtlichkeit füreinander geprägte Mutter-Sohn-Beziehung steht.

Der Aufgang – Stefan Hertmans

AutorStefan Hertmans
Verlag Diogenes
Erscheinungsdatum 27. April 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten480
ÜbersetzungIra Wilhelm
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257071887

„Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends fiel mir ein Buch in die Hände, aus dem ich erfahren sollte, dass ich zwanzig Jahre im Haus eines ehemaligen Mitglieds der SS gewohnt hatte.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt

Im Spätsommer 1979 sieht Stefan Hertmans das Haus in Gent, im Stadtteil Patershol, zum ersten Mal. Es wirkt verwahrlost, feucht, stand schon längere Zeit leer. Dennoch lässt es den Autor nicht mehr los und er kauft es. Mehr als zwanzig Jahre später sieht er ein Buch, verfasst von Professor Adriaan Verhulst, Historiker, bei dem auch Hertmans studiert hatte. Er entdeckt, dass Adriaan Verhulst seine Kindheit in genau diesem Haus verbracht hatte. Dies weckt sein Interesse und er beschließt, die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner zu erzählen.

Thema und Genre

Dieser Roman ist die Geschichte eines Hauses in Verbindung mit der Geschichte jener Familie, die es viele Jahre lang bewohnt hat. Er basiert auf historischen Fakten, die sich aus umfangreichen Recherchen in Dokumenten, Büchern, den Tagebüchern von Mientje Verhulst und Gesprächen mit noch lebenden Zeitzeugen ergeben, ergänzt durch fiktive Elemente. Themen sind der politische Konflikt zwischen Flamen und Wallonen, die Besatzung Belgiens durch die Nationalsozialisten und die Zeit danach, aber auch Kindheitserinnerungen, Familie und Beziehungen.

Charaktere

Im Mittelpunkt der Geschichte steht das Leben von Willem Verhulst und seiner zweiten Ehefrau Harmina „Mientje“ Wilhers, die Eltern von Adriaan Verhulst.

Handlung und Schreibstil

Der Autor erzählt, berichtet, es ist ein Roman über Belgien, der auf genau recherchierten Erinnerungen von Zeitzeugen, noch lebenden Familienmitgliedern, aufbaut, in Verbindung mit der umfangreichen Dokumentation, die man dem Autor zur Verfügung stellt. Wo er in seinen umfangreichen Recherchen keine Aussagen und Unterlagen fand, erklärt er, dass dies heute niemand mehr weiß, lässt Lücken, statt diese Lücken durch fiktive Vermutungen zu schließen. Die Handlung ergänzt der Autor durch Anekdoten und seine persönlichen Erinnerungen. Wir folgen Menschen vom Beginn ihres Lebens bis zum Ende, gleichzeitig besichtigen wir das Haus, in dem die wichtigsten Ereignisse dieser Menschen stattfanden, mit dem Autor im Jahr 1979 in der entgegengesetzten Richtung. Vom Keller bis zum Dachboden betreten wir die einzelnen Räume, sehen sie jetzt und damals, als die Familie Verhulst das Haus mit Leben gefüllt hat. Der Aufgang, eine fließende Bewegung statt eines Spannungsbogens.

Fazit

„Vielleicht möchte man durch den Besuch eines Ortes der Erinnerung, selbst wenn diese nicht die eigene ist, den Lauf der Geschichte für einen Augenblick aufhalten.“ (Zitat Seite 186). Mit diesem interessanten Roman, der ruhig und sachlich der Geschichte dieser Familie folgt, gleichzeitig aber atmosphärisch dicht das Haus selbst während der ersten Besichtigung des Autors vor dem Kauf beschreibt, ist dem Autor dies gelungen.

Die Überlebenden – Alex Schulman

AutorAlex Schulman
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum 20. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinHanna Granz
ISBN-13978-3423282932

 „Das ist der Schauplatz, so sieht es aus, ein paar kleine Gebäude auf einer Wiese, mit dem Wald dahinter und dem Wasser davor. Ein unzugänglicher Ort, heute ebenso abgeschieden wie früher.“ (Zitat Seite 10)

Inhalt

Benjamin, Pierre und Nils sind Brüder, die sich einander längst fremd geworden sind. Kurz nach dem Tod ihrer Mutter entdecken sie einen Brief, in dem ihre Mutter sich wünscht, dass sie ihre Asche in jenem See verstreuen, wo sie in einem Holzhaus die Sommer ihrer Kindheit verbracht hatten. Sie sagen das geplante Begräbnis ab und machen sich auf die Reise in jene abgelegene Gegend, zusammen mit ihren Erinnerungen an gute Tage mit ihrem Vater und an weniger gute Tage mit ihrer Mutter. „Die Reise, die sie zum Einschlagpunkt zurückbringen wird, rückwärts in ihrer Geschichte, Schritt für Schritt, um ein letztes Mal zu überleben. (Zitat Seite 298)

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Romans steht eine zerrüttete Familie, untere Gesellschaftsschicht, drei Kinder und ihre Eltern. Es geht um Kindheitserinnerungen und die daraus resultierende Lebenssituation von Erwachsenen.

Charaktere

Es sind interessante Figuren, aber keine sympathischen. Der Vater, der sich dann mit seinen Söhnen beschäftigt, wenn er sie zu Wettkämpfen gegeneinander auffordert, die Mutter, die vor allem ihre Ruhe haben will und ihre Drinks. Die drei Brüder, die versuchen, einander Halt zu geben, besonders Benjamin und Pierre, während Nils, der älteste, sich meistens in seine eigene Welt zurückzieht.

Handlung und Schreibstil

Sehr interessant und speziell ist die Art des Autors, diese Geschichte zu erzählen. Im Mittelpunkt der aktuellen Handlung steht Benjamin, der mittlere der drei Brüder, doch auch diese Rahmenhandlung verläuft nicht chronologisch. Unterbrochen wird sie durch seine Erinnerungen, die dann anschließend ausführlich geschildert werden, nun ist die Vergangenheit aktuelle Jetztzeit, wobei sich immer wieder Abweichungen zwischen der Realität und seinen Erinnerungen ergeben. Wir erfahren ergänzende Details und die teilweise etwas andere Sichtweise seiner Brüder. Auch der klare Schreibstil ist sehr gut zu lesen. Dennoch konnte mich dieser Roman nicht überzeugen. Die interessante Art, die Geschichte dieser Familie in Fragmenten und Zeitsprüngen zu erzählen, wird aufgehoben durch fehlende Spannung und Tiefe. Die Konflikte und Problematik ergeben sich aus gefühlsmäßigen Befindlichkeiten und den damit verbundenen psychologischen Elementen. Ein überraschendes Detail gegen Ende der Geschichte erklärt zwar manches, kann aber die Ereignisse in der Vergangenheit nicht verändern.

Fazit

Eine bis zur Trostlosigkeit beklemmende Familiengeschichte, Episoden und Fragmente einer Kindheit und die Erinnerung daran.      

So war’s eben – Gabriele Tergit

AutorGabriele Tergit
Verlag Schöffling & Co.
Erscheinungsdatum 24. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten624
NachwortNicole Henneberg
UmschlagbildLesser Ury
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3895614743

„Der Bürger erlebte den Zusammenbruch seiner Ideale, Besitz und Bildung, und fand im Felde seinen Kameraden, den Arbeiter. Das Nationale löste sich aus seiner Verflechtung mit dem Kapitalismus, der Sozialismus entschied sich für die nationale Idee.“ (Zitat Seite 346)

Inhalt

Sie treffen einander zum Damentee, die Frauen der jüdischen Familien, die im Zentrum dieses Generationenromans stehen. Ende der 1890 Jahre sind dies die Gastgeberin Franziska Stern, geborene Kollmann, Roserl, die Frau von Amtsrichter Julius Mayer, Sabine Gutmann, die Schwester des Amtsrichters, Adelina Markus, die Frau des Fabrikanten Manfred Markus. Immer wieder treffen sie einander in diesen Jahren, später sind es ihre Kinder und Enkelkinder. Ihre Schicksale und Beziehungen verbinden sich mit weiteren Familien und Personen, mit der reichen Familie Jacoby und der Bankiersfamilie Beer, aber auch mit der Familie v. Rumke, die zur militärischen deutschen Oberschicht gehört, und mit überzeugten Kommunisten, Künstlern und Journalisten. Am 30. Januar 1933 treffen sie alle nochmals bei einer Wohnungseinweihungsfeier zusammen, dann trennen sich ihre Wege. Mehr als zwanzig Jahre später besucht Grete Jacoby, geborene Mayer, die nun in London lebt, die früheren Freunde und Bekannten in New York, nun ein sehr kleiner Kreis von Menschen, die überlebt haben. „ … und langsam würde dieser Kinderkreis von fünf Menschen aufhören.“ (Zitat Seite 558)

Thema und Genre

Dieser Generationenroman ist ein authentisches Zeitbild der Geschichte Deutschlands zwischen 1890 und den fünfziger Jahren, erzählt durch das Leben und Schicksal der Menschen, die damals gelebt haben.

Charaktere

Es sind die Personen mit ihren Eigenheiten, ihrer Zugehörigkeit, ihrer Erziehung, Tradition, Gefühlen, Träumen und Schicksalen, deren Geschichte erzählt wird, ihr Alltag in diesen für immer die Geschichte prägenden Jahren Deutschlands. Eine der wichtigsten Romanfiguren, Grete Jacoby, ist autobiografisch geprägt.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung ist in fünf Abschnitte eingeteilt, die der Chronologie der geschichtlichen Abläufe entsprechen: Kaiserreich, Krieg, Weimarer Republik, Drittes Reich, Nachkrieg. Die Ereignisse werden nicht erzählt, sondern in langen Gesprächen zwischen den vielen unterschiedlichen Personen der Handlung  geschildert. Ergänzt werden diese politischen, gesellschaftskritischen und tagesaktuellen Dialoge durch ausführliche Beschreibungen des Lebensumfeldes, des alltäglichen Lebens der verschiedenen Gesellschaftsschichten in einer Zeit der Kriege, politischen Umstürze, der Wohnungsnot, der Arbeitslosigkeit, des Hungers, der Verfolgung. Hilfreich ist die Aufstellung aller Personen als entnehmbare Liste in Form eines Lesezeichens, denn es sind insgesamt über siebzig Personen, die einander bei unterschiedlichen Ereignissen treffen bzw. familiär verbunden sind. Die Sprache der auktorialen Erzählform entspricht der Zeit, in der dieser Roman geschrieben wurde. Verlegt wurde nun die ursprüngliche, ungekürzte Fassung, wodurch der Text mit den langen Dialogen und sich wiederholenden Schilderungen der persönlichen Lebens- und Wohnumstände manchmal etwas langatmig wirkt. Andererseits ergibt sich gerade daraus ein lebendiges Bild dieser Zeit, lässt uns nachempfinden, wie es damals eben war.

Fazit

Dieses Buch ist ein umfassendes Zeitbild, geschrieben als Generationenroman, in dessen Mittelpunkt Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stehen und ihr Leben in Deutschland in den Jahren zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

Das Jahrhundert der Martha Jacoby – Maria Charlotte Wulff

AutorMaria Charlotte Wulff
Verlag Mövenort Verlag
Erscheinungsdatum 1. Mai 2021
FormatTaschenbuch
Seiten306
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3981895551

„Das Haus wurde Mittelpunkt einer in der Welt verzweigten Familie, in der sich alles um sie drehte. Keiner hat länger hier gelacht und geweint und geprägt.“ (Zitat Seite 296)

Inhalt

Am 1. April 2020 feiert Martha Jacoby Geburtstag, geboren am 1. April 1920 ist sie jetzt hundert Jahre alt. Damals, als ihr Urgroßvater 1825 ein einfaches Fachwerkhaus erreichtet hatte, nicht weit vom Lankower See entfernt, lag dieses noch außerhalb von Schwerin, inzwischen ist das zuletzt von ihrem Vater weiter ausgebaute „Haus Jacoby“ ein Stadthaus in Schwerin. Martha hat ihr ganzes Leben in diesem Haus verbracht und beide, Martha und das Haus, haben wechselvolle Jahre, den zweiten Weltkrieg, Besatzung, die DDR und den Neubeginn nach dem Mauerfall überdauert. Längst ist Martha Urgroßmutter und im Dezember 2020 ist sie der Meinung, dass es mit hundert Jahren auch einmal genug ist.

Thema und Genre

In diesem Generationenroman geht es um die Geschichte und Schicksale einer inzwischen weit verzweigten Familie, gleichzeitig ist es ein interessanter geschichtlicher Streifzug durch einhundert Jahre Zeitgeschehen in Deutschland. Ein wichtiges Thema ist das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben bis zum letzten Tag.

Charaktere

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Martha Jacoby, eine optisch zierliche, aber geistig umso stärkere, kluge Frau. Den unterschiedlichen politischen Strömungen unterwirft sie sich nicht, agiert aber überlegt und im Sinne ihrer Familie. Rückschläge bleiben in so einem langen Menschenleben nicht aus, aber Martha behält ihre positive Lebenseinstellung und Freude am Leben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte von Martha Jacoby wird in mehreren Erzählsträngen geschildert, die einander abwechseln. Wir erleben Martha und ihre Tochter Annegret in diesem Dezember 2020, parallel dazu erfahren wir die Geschichte der Familie, beginnend mit Marthas Geburt und mit Rückblicken auf das Leben ihrer Eltern, ergänzt durch Ereignisse im Leben von Marthas Geschwistern, ihrer Tochter, Enkel, Urenkel. Im Laufe der Handlung erweitert sich die Handlung um neue Erzählstränge, in deren Mittelpunkt neue und vorerst unbekannte Personen stehen, die sich dann mit einzelnen Mitgliedern der Familie zu verbinden. Damit ergibt sich ein lebhaftes und vielschichtiges Bild der Familie Jacoby, gleich einem sich immer weiter verzweigenden Baum, dessen einzelne Zweige auch Länder und Meere überqueren. Die Autorin ist eine großartige Erzählerin mit Erfahrung, Wissen, Empathie und einem feinen Humor, es ist, als ob man neben Martha säße und ihr zuhört wie einer seit Jahren lieben Freundin.

Fazit

Ein einfühlsam erzählter, facettenreicher Generationenroman, der zugleich auch ein Ausflug in die deutsche Vergangenheit der letzten hundert Jahre ist. Die auch mit hundert Jahren noch verschmitzte, zierliche aber charmant-willensstarke Hauptfigur Martha schließt man sofort ins Herz und verfolgt mit großem Vergnügen die Geschichte ihres Lebens.

Der Himmel ist hier weiter als anderswo – Valerie Pauling

AutorValerie Pauling
Verlag HarperCollins
Erscheinungsdatum 25. Mai 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten384
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3749901043

„Fee dachte auf einmal, dass sie gern an ihrer Stelle wäre, befreit von den Vorgaben eines Orchesters, von Druck und Hierarchie und frei von der Vergangenheit.“ (Zitat Seite 117)

Inhalt

Felicitas „Fee“ ist eine Künstlerin auf ihrer Geige. Dann stirbt ihr Mann Jan, erst neununddreißig Jahre alt, zu Hause an einem Herzinfarkt, während sie ihren Solopart in einem Konzert spielt. Traumatisiert kann sie nicht mehr Geige spielen und auch zwei Jahre später verharrt sie noch in ihrer Trauer. Als sie ihren Job als Musiklehrerin verliert und gleichzeitig ihre Wohnung in Hannover gekündigt wird, trifft sie eine Entscheidung. Sie kauft ein großes, altes Haus, umgeben von einem weiten, verwilderten Grundstück, und zieht mit ihren vier Kindern nach Kirchenfleth in der Nähe von Hamburg, im Alten Land. Früher war das Haus ein Gasthof und so hat ihre vierzehnjährige Tochter Rieke die Idee, wieder Ausfluggäste zu bewirten. Denn es stehen wichtige Reparaturen an und Fee hat ihre finanziellen Rücklagen aufgebraucht. Nach einem gefährlichen Zwischenfall im Garten stürzen sich die Sozialen Medien und die Zeitungen auf die Geschichte, und obwohl alles gut gegangen ist, schildern sie Horrorszenarien und das ist das Ende des „Jardin de menthe“. Soll sie aufgeben und das Haus an den örtlichen Bauunternehmer und Investor verkaufen, der schon seit Jahren an dieser Immobilie interessiert ist?

Thema und Genre

Dieser Roman spielt im Alten Land, es geht um das Leben in einer Dorfgemeinschaft auf dem Land, den Jahreslauf in der Natur, Umwelt, Nachhaltigkeit. Kernthemen sind Familie, Trauer, Traumata, doch die Geschichte handelt auch von Freundschaft, Zusammenhalt, Entscheidungen, Aufbruch, dem Mut, neue Wege zu gehen.

Charaktere

Die Geigerin Felicitas tut alles für ihre Kinder und übersieht, dass sie mit ihrer an Egoismus grenzenden Trauer, die sie und ihr Leben steuert, auch die Kinder blockiert, für die das Leben weitergehen sollte. Sie will alles richtig machen, trifft die Entscheidungen allein, ist aber für ihr Alter erstaunlich vertrauensselig und naiv. Sie will das Beste für ihre Kinder, überfordert sie aber gleichzeitig. Eine zögerliche Figur, die manchmal nicht nur ihre Kinder, sondern auch uns Leserinnen nervt. Liebenswert sind dagegen die Kinder, die dem jeweiligen Alter entsprechend authentisch beschrieben sind und die Handlung beleben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt im Lauf eines Jahres und ist in die Abschnitte Frühjahr, Sommer, Herbst, … Und wieder Frühjahr gegliedert, diese in einzelne Kapitel. Im Mittelpunkt der Handlung steht Felicitas. Die Ereignisse werden ergänzt durch interessante Schilderungen der dörflichen Gemeinschaft, beeindruckende Beschreibungen der Schönheit der Landschaft und Natur, dieser Weite, die langsam auch die Gedanken lösen und befreien kann. Natürlich spielt auch die Musik eine wichtige Rolle und ein Roman wie dieser kommt nicht ohne Gefühle und Liebe aus.

Fazit

Ein unterhaltsam zu lesender Roman über Verlust, Trauer, ein lebhaftes Familienleben, Aufbruch und Neubeginn. Das Alte Land als Ort der Handlung lädt zum Träumen ein.

Drei Sommer – Margarita Liberaki

AutorMargarita Liberaki
Verlag Arche Literatur Verlag AG
Erscheinungsdatum 18.März 2021
Format Gebundene Ausgabe
Seiten388
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMichaela Prinzinger
ISBN-13978-3716027981

„Abends vorm Einschlafen denke ich über dich und Infanta, über Mutter und Vater und sogar über Tante Tereza nach. Ich frage mich, wie unser Leben später mal aussehen wird, was wir erreichen werden. Wir müssen doch etwas erreichen, Maria, oder?“ (Zitat Seite 80)

Inhalt

Maria, Infanta und Katerina gehören zu einer angesehenen, begüterten Familie und leben mit ihrer geschiedenen Mutter Anna und Tante Tereza auf dem großen Landgut des Großvaters, in Kilissi, der noblen Wohngegend außerhalb Athens. Dieser erste von drei aufeinander folgenden Sommern in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg ist für Katerina etwas Besonderes. Denn in diesem Sommer lassen ihre beiden älteren Schwestern, Maria ist zwanzig Jahre alt, Infanta achtzehn, die sechzehnjährige Katerina erstmals an ihren Gesprächen teilhaben, teilen ihre Geheimnisse mit ihr, während sie versuchen, die Welt um sich herum und sich selbst zu verstehen. Aus den früheren Freunden der Kindheit sind junge Männer geworden und mit diesen Veränderungen kommt auch die erste Liebe. Im zweiten Sommer verliebt sich Katerina, doch gleichzeitig träumt sie von einem Leben als Schriftstellerin, ungebunden und frei.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine Frauen-, Familien- und Coming-of-Age-Geschichte. Es geht um das enge, traditionelle Frauenbild im Griechenland der 1930er Jahre. In Griechenland zählt dieser 1946 erschienene Roman heute zu den modernen Klassikern.

Charaktere

Katerina ist ein eigenwilliges Mädchen, neugierig, aber auch verträumt. Sie überlegt, ob sie wirklich ein Leben als Ehefrau und Mutter führen will, träumt von fernen Ländern und Freiheit. Sie beobachtet und beschreibt die unterschiedlichen Menschen aus mehreren Generationen in ihrem Umfeld, Frauen, Männer, Familie, Freunde, versucht, ihre Geheimnisse zu ergründen, ihr Leben und ihr Verhalten zu verstehen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung umfasst hauptsächlich die Sommermonate in drei aufeinanderfolgenden Jahren, wird ergänzt durch dazwischenliegende Ereignisse, Kindheitserinnerungen von Katerina und Episoden aus dem Leben der Großeltern- und Elterngeneration. Die gesamte Geschichte wird nachträglich aus der Erinnerung erzählt, mit Katerina als Ich-Erzählerin, jedoch unterbrochen und ergänzt durch weitere Erzählstimmen, zwischen denen die Autorin wechselt. So erfahren wir beim Lesen auch Geschichten, die Katerina nicht wissen kann. Inhalt der Handlung sind die alltäglichen kleinen Erlebnisse und Erfahrungen dieser Zeit, der häusliche, weibliche Tagesablauf in vielen kleinen Momenten, die einzigartige Üppigkeit der griechischen Frühlings- und Sommermonate, eine Zeit voll von Wärme, Düften und Gefühlen. Die Sprache der Übersetzung liest sich angenehm und fließend.

Fazit

Ein Klassiker der modernen griechischen Literatur, es sind die Schilderungen der kleinen alltäglichen Momente im Leben der Frauen in den 1930er Jahren in Griechenland, die den Roman interessant und lesenswert machen.

Nächstes Jahr in Berlin – Astrid Seeberger

AutorAstrid Seeberger
Verlag Urachhaus
Erscheinungsdatum 10. Februar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten252
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinGisela Kosubek
ISBN-13978-3825152611

„Großvater wusste, was ich wollte, er wusste es, bevor ich es selber wusste. Schreiben war mein Leben.“ (Zitat Pos. 2471)

Inhalt

Nach dem Erscheinen ihres Buches „Goodbye Bukarest“ in Deutschland, meldet sich der Priester Alois, ein alter, enger Freund ihres Vaters, über den Verlag bei der Ich-Erzählerin, um ihr etwas über ihre Mutter zu erzählen. Fünf Jahre sind seit dem Tod ihrer Mutter vergangen und nun schreibt die Tochter die Geschichten über die Familie nieder, die ihre Mutter ihr erzählt hatte. Gleichzeitig denkt sie über die Zeit kurz vor und nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 2007 nach, über ihre eigenen Erinnerungen an die Eltern und die Großeltern und verbindet diese mit ihrem aktuellen Leben, die Zeit des Schreibens zwischen Dezember 2012 und Dezember 2013.

Thema und Genre

Dieser autobiografische Roman ist eher ein Erzählband, mit einer Familiengeschichte durch bewegte Jahre einer glücklichen Zeit in Ostpreußen, Vertreibung, Flucht, Krieg, das geteilte Deutschland und einer problematischen Mutter-Tochter-Beziehung als Verbindung  der einzelnen Fragmente aus Geschichten und Erinnerungen.

Charaktere

Durch den dichten, autobiografischen Hintergrund dieses Romans sind die handelnden Personen sehr realistisch und präzise beschrieben, ihr Verhalten im Rahmen der Ereignisse verständlich und nachvollziehbar. Andererseits bleiben sie gerade wegen dieser Realität auf Distanz zum Leser.

Handlung und Schreibstil

Es ist ein Roman in Fragmenten. Im ersten, sehr beklemmenden Teil wechseln die Erinnerungen an die Tage vor und nach dem Tod der Mutter im Jahr 2007 mit dem aktuellen Jahr zwischen Dezember 2012 und Dezember 2013, in welchem die Tochter als Ich-Erzählerin in ihrem Haus auf einer Insel in einem See in Schweden an dem Buch über ihre Mutter schreibt. Den zweiten Teil bilden viele einzelne Erzählungen, nicht immer chronologisch, die in vier großen Kapiteln mit je einem übergeordneten Thema zusammengefasst sind. Es sind die Familiengeschichten, die ihre Mutter ihr erzählt hat, beginnend mit der Kindheit und Jugend der Mutter in Ostpreußen. Daran schließen die eigenen Kindheitserinnerungen der Tochter an. Das letzte dieser vier Kapitel hat jene der Ich-Erzählerin bisher unbekannte Geschichte über ein Ereignis aus dem Leben der Mutter zum Inhalt, die ihr der alte Freund ihres Vaters erzählt, und die den Übergang bildet zum nachfolgenden Roman „Goodbye Bukarest“, der aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen in deutscher Übersetzung jedoch als erstes Buch erschienen ist.

Fazit

Ein stark autobiografischer Roman, der sich aus vielen unterschiedlichen Geschichten aus dem Leben von insgesamt drei Generationen der Familie der Ich-Erzählerin zusammensetzt. Es sind beklemmende Ereignisse, aber auch glückliche Kindheitserinnerungen, insgesamt eine sehr persönliche Aufarbeitung der schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung, geschrieben in einer poetischen, dichten Sprache. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt, mich aber etwas ratlos zurücklässt. „Ich weiß es nicht. Er ist so schwer, alles in Einklang zu bringen.“ Dies schreibt die Ich-Erzählerin (Zitat Pos. 3164) und so geht es auch mir mit diesem Buch.

Wo wir Kinder waren – Kati Naumann

AutorKati Naumann
Verlag HarperCollins
Erscheinungsdatum 26. Januar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten496
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3749900008

„Ich frage mich: Wie weit darf man gehen, um eine Tradition aufrechtzuerhalten?“ (Zitat Seite 317)

Inhalt

Eva, gelernte Spielzeuggestalterin, hat schon als Kind begeistert Spielzeug getestet, als sie zwischen fünf und dreizehn Jahre alt war. Dies war in Sonneberg, damals DDR. Heute ist Eva zweiundfünfzig Jahre alt und lebt immer noch in Sonneberg. Gemeinsam mit ihrem Cousin Jan und ihrer Cousine Iris gehört sie zur Erbengemeinschaft der ehemaligen Spielzeugfabrik Langbein, gegründet von ihrem Urgroßvater Albert Langbein. Als Jan das alte Haus der Familie räumen muss, da es vermietet werden soll, wollen Eva und Iris helfen. Sie tauchen tief in ihre gemeinsamen Kindheitserinnerungen an dieses Haus und besonders an ihre Großmutter Flora ein, entdecken die abwechslungsreiche Geschichte der Familie und einige alte Familiengeheimnisse, gleichzeitig wächst das gegenseitige Verständnis und langsam formt sich eine Idee.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um die wechselvolle, reale Geschichte der Spielwarenerzeugung in der Spielwarenstadt Sonneberg von 1910 bis nach der Wende, am Beispiel eines fiktiven Familienunternehmens.

Charaktere

In der Buchinnenseite findet sich ein Stammbaum der fiktiven Familie Langbein. Alle Charaktere sind sehr lebensnah, stimmig und authentisch geschildert, ihre Handlungen und Entscheidungen sind nachvollziehbar. Es ist ein bunter Reigen an Figuren, die uns in dieser Geschichte begegnen und alle haben eines gemeinsam: sie sorgen sich um die Familie und das Familienunternehmen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung wird in zwei Zeitebenen erzählt und der Aufbau ist sehr kreativ und originell, auch sprachlich macht es richtig Freude, diese Geschichte zu lesen und die Spannung kommt nicht zu kurz. Die drei Cousins finden im alten Familienhaus einen besonderen Gegenstand, oder sie entdecken Unterlagen, bisher unbekannte Dokumente, und im nachfolgenden Kapitel wir genau jenes Ereignis in der Vergangenheit geschildert, in dem jeweils dieses gerade entdeckte Objekt eine Rolle spielt. Dadurch erfahren wir beim Lesen auch alle Hintergründe, welche die Erben nicht wissen können. So entsteht langsam ein großartiger Familienroman, ergänzt durch sehr lebendige, interessante Schilderungen des Handwerks der Spielzeugherstellung, besonders von Puppen und Plüschtieren, im Wandel der Zeit, von der Handarbeit zur Industrialisierung. Auch der Alltag und die täglichen Probleme der Menschen in jener Zeitspanne, in der Sonneberg zur DDR gehörte, sind sehr eindrücklich geschildert.

Fazit

Ein großartiger Familien- und Generationenroman, ein lebhaftes, vielschichtiges Zeitbild. Reale Vorbilder und eine intensive Recherche ergänzen die packende Geschichte mit interessanten Informationen und ergeben in Summe ein überzeugendes Leseerlebnis.

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid – Alena Schröder

AutorAlena Schröder
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum 20. Januar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423282734

„Evelyn fixierte Hannah für einen kurzen Moment, prüfend, abwägend, müde. Sie hätte ihn einfach wegwerfen sollen, diesen Brief, nun war es zu spät.“ (Zitat Seite 13)

Inhalt

1942 fertigt Senta für ihren Schwiegervater Itzig Goldmann eine Inventurliste aller Kunstgegenstände an, die er den Nationalsozialisten übergeben muss. Seither sind die Liste und auch die Kunstwerke verschwunden. In der Jetztzeit erhält Dr. Evelyn Borowski, vierundneunzig Jahre alt, die einzige Tochter von Senta Goldmann, einen Brief von einem israelischen Anwaltsbüro, die auf diesen Tatbestand gestoßen sind und weiter Recherchen anbieten. Hannah, Germanistin, schreibt an ihrer Doktorarbeit und besucht ihre Großmutter Evelyn jede Woche. Da entdeckt sie durch Zufall diesen Brief. Warum hat man ihr nie etwas von diesem Teil ihrer Familiengeschichte erzählt und warum schweigt ihre Großmutter auch weiterhin? Hannah beginnt mit eigenen Nachforschungen.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um die Vergangenheit und Raubkunst, vor allem jedoch um Mütter und ihre Töchter, um die Probleme von Frauen, die schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein eigenständiges, beruflich erfolgreiches Leben führen wollten, was nur schwer mit ihrer Mutterrolle vereinbar war.

Charaktere

Evelyn hat mit ihrem langen Leben schon abgeschlossen, vor allem jedoch mit der Vergangenheit. Hannah ist für ihre siebenundzwanzig Jahre erstaunlich orientierungslos, weiß nicht, was sie will. Doch während sie sich nur sehr halbherzig ihrer Dissertation widmet, lässt sie bei ihrer Suche nach der Vergangenheit ihrer Familie nicht locker. Senta, Evelyn, Silvia, Hannah, vier Generationen, vier im Grunde nicht so unterschiedliche Frauen, die versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen.

Handlung und Schreibstil

Die aktuelle Handlung spielt in der Gegenwart, im Mittelpunkt steht Hannah, ihr Leben und ihre Suche nach den Bildern und nach ihrer Familiengeschichte. Diese wird parallel in einem zweiten Handlungsstrang erzählt, der 1922 beginnt und 1950 endet und der das Leben von Senta und Evelyn zum Inhalt hat. Eine weitere Rückblende führt in das Jahr 2007, zu Evelyn und Silvia. Die Geschichte, in deren Mittelpunkt weniger die Ereignisse, als die Entscheidungen, Konflikte, Probleme und Beziehungen der vier Frauen stehen, ist dicht und stimmig entwickelt, beginnt intensiv und spannend, flacht jedoch im letzten Viertel etwas ab.

Fazit

Eine interessante, angenehm zu lesende Familien- und Generationengeschichte.

Die Bäckerei der Wunder – Christian Escribà und Sílvia Tarragó

AutorChristian Escribà, Sílvia Tarragó
Verlag Heyne Verlag
Erscheinungsdatum 14. September 2020
FormatTaschenbuch
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzungUrsula Bachhausen
ISBN-13978-3453424319

„In der wohligen Wärme eines nie verlöschenden Herdfeuers, über dem sich je nach Tages- oder Jahreszeit die verschiedensten Düfte entfalteten, konnte sie beim Köcheln der Kasserollen jedes Zeitgefühl verlieren.“ (Zitat Seite 30, 31)

Inhalt

Wir schreiben das Jahr 1926 und es ist der erste Weihnachtstag. Es schneit in Barcelona und an diesem besonderen Tag wird Alba geboren, deren Begeisterung und Gabe für das Kochen und ganz besonders für das Backen sie eines Tages, als junge Frau, in die berühmte Konditorei Escribà führt, wo sie eine Konditorlehre beginnen kann. Dies in einer Zeit, als in Spanien die traditionelle Rolle der Frauen in der Ehe, Mutterschaft und damit im Kreise einer eigenen Familie gesehen wurde. Doch Alba weiß genau, was sie will und sie ist bereit, hart dafür zu arbeiten.

Thema und Genre

Dieser Roman erzählt die Geschichte der berühmten Pastisseria Escribà in Barcelona. Es geht um die Leidenschaft für das Bäcker- und Konditorhandwerk, um Kunst und Schokolade, aber auch um Familie und die Liebe.

Charaktere

Die Hauptfiguren sind einerseits Antonio und Antoni Escribà, Großvater und Vater von Christian Escribà und andererseits Alba, das Mädchen aus einfachen Verhältnissen mit der besonderen Begabung und Liebe zum Backen. Antoni Escribà ist ein begabter Künstler und als er die besonderen Eigenschaften von Schokolade für die Gestaltung von meisterhaften Skulpturen für sich entdeckt, macht dies aus der ursprünglichen Bäckerei endgültig die  berühmte Patisserie Escribà. Alba, keine besonders sympathische Figur, ist eine Getriebene, in deren Leben der Beruf, ihre Berufung, immer an erster Stelle stehen wird. Auch prägende persönliche Erlebnisse können daran nichts ändern, ihre Ideen und Empfindungen lebt sie in der Backstube aus.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung ist in drei übergeordnete Teile gegliedert, Teil I umfasst den Zeitraum 1896 bis 1948, Teil II die Jahre 1926 bis 1952 und Teil III spielt zwischen 1954 bis 1979. Mit wenigen Ausnahmen sind die einzelnen Kapitel jeweils nach einem besonderen Gebäck benannt und die Schilderungen der speziellen Eigenschaften und der Zubereitung sind in die Ereignisse eingefügt. Die Geschichte Kataloniens in den Jahren 1926 bis 1977 zieht sich durch die gesamte Handlung, bleibt jedoch vage im Hintergrund. Es ist kein Roman mit einer fortlaufenden Geschichte, sondern es werden wichtige Episoden und besondere Ereignisse aus Albas Leben erzählt, nicht immer chronologisch, und parallel dazu die Entwicklung des Hauses Escribà von der einfachen Bäckerei zur erfolgreichen Pastisseria. Auch hier werden nur Meilensteine des Aufschwungs und besonders erzählenswerte Ereignisse berichtet.

Fazit

Die fiktive Geschichte einer jungen Frau, die im Nachkriegsspanien unbedingt Konditormeisterin werden will, ist eng verbunden mit der Geschichte der berühmten, realen Pastisseria Escribà in Barcelona. Der Duft von Gewürzen, frischen Backwaren und Schokolade, der aus den Seiten des Buches in unsere Gedanken zieht, macht diese Geschichte auch zur genussvollen Weihnachtslektüre.

Scherbentanz – Chris Kraus

AutorChris Kraus
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 20. Oktober 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257071351

„Seit Jahren leben wir in dieser geflügelten Bitterkeit, die im Rhythmus der Zugvögel verlässlich entkommt, in südlichen Gestaden überwinternd, und wenn sie fast vergessen ist, verdüstert sich der Himmel, sie kehrt zurück und baut sich in unseren Herzen Nester.“ (Zitat Seite 59)

Inhalt

Jesko Solm, ein eigenwilliger Modedesigner, ist das schwarze Schaf einer ohnedies sehr dunklen Familie voller Geheimnisse, die vehement unter dem schönen, öffentlichen Schein der erfolgreichen Unternehmerfamilie verborgen gehalten werden. Nun wird Jesko dringend in die protzige Familienvilla gerufen, ohne den wahren Grund zu kennen. Er leidet unter Leukämie. Die letzte Hoffnung als mögliche Knochenmarksspenderin ist die leibliche, psychisch kranke Mutter. Eine Frau, die  Jesko und sein Bruder Ansgar seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen haben und mit der sie nie wieder etwas zu tun haben wollten. Diese wurde nun vom Vater aufgefunden und heimlich ebenfalls in den Sitz der Familie gebracht. Sieben lange Tage bis zum operativen Eingriff zur medizinischen Abklärung liegen vor Jesko, und seine Krankheit ist das bei weitem geringste Problem.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um tiefe Schatten der Vergangenheit, Familiengeheimnisse, über die niemals gesprochen wird und die dadurch auch die Gegenwart belasten, zusammen mit traumatischen Kindheitserfahrungen. Themen sind Krankheit, Konflikte und die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen.  

Charaktere

Jesko ist Modedesigner, er fühlt sich in Röcken am wohlsten und bevor ihn seine Krankheit aus der Bahn werfen kann, hat dies längst seine Familie getan. Auch Seneca hilft da nicht immer. Beinahe abgeklärt beobachtet und kommentiert er spöttisch-ironisch-böse und immer punktgenau die Menschen in und außerhalb der Familienvilla, die er Festung nennt. Eine Figur, die man von der ersten Zeile an ins Leser*innenherz schließt.

Handlung und Schreibstil

Jesko berichtet als Ich-Erzähler über die Ereignisse dieser Tage, gibt manchen Personen im familiären Kreis eigene Namen, die er aus den für ihn sichtbaren Eigenschaften ableitet. Rückblicke in Form eigener Erinnerungen und aus den Erzählungen anderer ergänzen und füllen die zunächst diffuse, mit offenen Fragen gefüllte Gegenwart mit Erklärungen. Zusätzliche Spannung ergibt sich aus der Frage, wer diese Renate und ihr Sohn sind, von denen die stark verwirrte Mutter immer wieder faselt. Der Klappentext lässt eine nachdenkliche, traurige Geschichte erwarten, doch die Sprache des Autors, seine einmalige Art, seine Figuren auszuwählen und dann zu erzählen, auf einem schmalen Grat zwischen sarkastisch, sehr böse und sehr liebevoll, machen diesen Roman definitiv zu einem Leseerlebnis.

Fazit

Eine zerrüttete Familie, konsequent dirigiert vom starken Willen des Vaters. Das hohe öffentliche Ansehen der erfolgreichen Unternehmerdynastie muss um jeden Preis gewahrt werden. Wie passt der todkranke zweitälteste Sohn, der sich längst aus allen Zwängen befreit hat, in dieses Bild? Der Autor lässt uns an einer bitterbösen und dennoch überaus positiven, mit feinem Humor erzählten Geschichte teilhaben, einem einfühlsam und facettenreich gemalten Bild unserer Zeit.

Das Glück der kalten Jahre – Martyna Bunda

AutorMartyna Bunda
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 29. September 2019
FormatGebundene Ausgabe
Seiten317
SpracheDeutsch
ÜbersetzungBernhard Hartmann
ISBN-13978-3518428870

„Drei Schwestern, aber ohne die Blautöne, ohne den See, den Himmel und die mal aus dem Wasser, mal aus den Wolken springenden Fische, ohne die seltsam fahlen Blumensträuße und den Namen Astrida. Ohne all die frappanten und schönen Details. Mithin kein bisschen so wie im Leben.“ (Zitat Seite 317)

Inhalt

Es ist ein solides Haus, das erste gemauerte Haus in Dziewcza Góra, einem Dorf im polnischen Teil von Pommern, das Rozela 1932 für sich und ihre drei Töchter baut. Es wird zum Zentrum der Familie, Heimat für diese vier Frauen, Rozela, Gerta, Truda und Ilda. Auch wenn das Leben sie teilweise an andere Orte führt, so kehren die drei Schwestern immer wieder in dieses Haus zurück, um schwierige Situationen und Schicksalsschläge im Gleichschritt, Arm in Arm, und mit dem Blick nach vorne zu bewältigen.

Thema und Genre

Ein Familien- und Generationenroman, in dessen Mittelpunkt die Frauen stehen. Es geht um das alltägliche Leben auf dem Land in einem sich ständig wiederholenden Wechsel der Jahreszeiten, durch Kriegs-, Nachkriegsjahre und die nachfolgenden Jahrzehnte. Das Kernthema ist jedoch der Zusammenhalt innerhalb dieser Familie.

Charaktere

Es sind keine starken Frauenfiguren, aber sie sind unbeugsam und hartnäckig. Die Schwestern sind oft unterschiedlicher Meinung, doch wenn es darauf ankommt, halten sie zusammen. So lange sie lebt, hat die Mutter Rozela das letzte Wort im Haus. „In ihrem ganzen Leben war es so wie an diesem Herbsttag. Drei Töchter hatte sie, die liebte sie alle gleich, aber sie konnte sie nicht alle gleich behandeln.“ (Zitat Seite 260)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte dieser Frauen wird abwechselnd erzählt, entweder aus Sicht der Mutter, oder es steht eine der drei Töchter im Mittelpunkt. Manche Ereignisse werden daher aus unterschiedlichen Blickwinkeln geschildert. Die Handlung verläuft großteils chronologisch, greift jedoch auch manchmal vor oder ergänzt mit Rückblenden, und folgt den unterschiedlichen Lebenswegen der Töchter durch Beziehungen, Mutterschaft, Schicksalsschläge und immer wieder auch das kleine Glück guter Zeiten. Wir erleben skurril-humorvolle Episoden, als Ilda im Zorn von ihrem Lebensgefährten, dem Bildhauer, wegläuft, sich auf ihr geliebtes Motorrad schwingt und, ohne es geplant zu haben, ein Motorradrennen gewinnt. Auch Schweine spielen eine Rolle in diesem Roman, wegen der besonderen Kreuzung, die ebenfalls zufällig passiert ist, verboten, dann viele Jahre später als besondere Rasse entdeckt. Die Sprache schildert unaufgeregt, auch die für mich persönlich entbehrlichen Schilderungen des Schlachtens von diversen Tieren erfolgen in einem beinahe zärtlichen Stil.

Fazit

Es ist die Geschichte über den Werdegang von Frauen im einfachen, ländlichen Umfeld im wechselvollen 20. Jahrhundert, ihr Leben zwischen Tradition und dem Wunsch nach mehr Freiheit. Ein interessantes Beispiel polnischer Gegenwartsliteratur.

Ich bleibe hier – Marco Balzano

Trina lebt in Graun, einem malerischen Südtiroler Bauerndorf. 1923 macht sie ihr Abitur und will Lehrerin werden. Doch dann kommt Mussolini und mit ihm ein Verbot der deutschen Sprache. Sie erhält keine Anstellung als Lehrerin, doch sie unterrichtet heimlich weiter. Die Nationalsozialisten mit ihrer Aufforderung, nach Deutschland auszuwandern, trennen das Dorf in die Optanten und die Dableiber. Erich, Trinas Ehemann, entscheidet sich zu bleiben, und sie bleibt mit ihm. Doch auch nach dem Krieg kommt ihre Heimat im oberen Vintschgau nicht zur Ruhe. Ein Stausee wird gebaut und sein Wasserpegel soll plötzlich viel höher werden, als ursprünglich geplant.
AutorMarco Balzano
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 24. Juni 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257071214

„Unsere Häuser, die Kirche, die Straßen, alles lag innerhalb dieser Striche, von denen wir nicht sicher wussten, was sie bedeuteten. Jenseits gab es nur noch die Berge und die windschiefen Lärchen.“ (Zitat Seite 105)

Inhalt

Trina lebt in Graun, einem malerischen Südtiroler Bauerndorf. 1923 macht sie ihr Abitur und will Lehrerin werden. Doch dann kommt Mussolini und mit ihm ein Verbot der deutschen Sprache. Sie erhält keine Anstellung als Lehrerin, doch sie unterrichtet heimlich weiter. Die Nationalsozialisten mit ihrer Aufforderung, nach Deutschland auszuwandern, trennen das Dorf in die Optanten und die Dableiber. Erich, Trinas Ehemann, entscheidet sich zu bleiben, und sie bleibt mit ihm. Doch auch nach dem Krieg kommt ihre Heimat im oberen Vintschgau nicht zur Ruhe. Ein Stausee wird gebaut und sein Wasserpegel soll plötzlich viel höher werden, als ursprünglich geplant.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die wechselvolle Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols, um Heimatverlust, Erinnerung gegen das Vergessen, um Familie, persönlichen Mut, politische Willkür und die Flutung des Reschensees.

Charaktere

Trinas Vater ist Schreiner, doch sie will Lehrerin werden. Als junge Frau widersetzt sie sich als Katakombenlehrerin mutig den Faschisten. Nach ihrer Heirat trifft Erich die Entscheidungen, die sie mitträgt. Seine Hauptfiguren umgibt der Autor mit unterschiedlichen Dorfbewohnern, so erfasst er sehr authentisch die verschiedenen Sichtweisen und Entscheidungen, von denen viele in ein einfaches „wir bleiben, hier ist unser Leben“ münden.

Handlung und Schreibstil

Der Autor erzählt die Geschichte von Alt-Graun und Reschen chronologisch in Form von Trinas Aufzeichnungen für ihre Tochter. Dieser Erzählform passt der Autor auch die Sprache an und da die schreibende Trina keine sehr gefühlsbetonte Frau ist, bleibt auch die Sprache unaufgeregt, karg, beinahe sachlich berichtend. Nach einer kurzen Einleitung beginnt sie mit ihrer Jugend und den Vorbereitungen für das Abitur 1923 und endet in einer Zeit, in der Sommerurlauber den Turm im See fotografieren. Ergänzt wird die Geschichte mit Rückblicken in Form von persönlichen Erinnerungen. Denn darum geht es in diesem Buch, nicht nur um die Schilderung der ohnedies bekannten Fakten, sondern vor allem um die persönlichen Schicksale, die damit verbunden sind.

Fazit

Diese mit den historischen Tatsachen verknüpfte Geschichte einer fiktiven Familie erzählt von Widerstand, Verbundenheit mit der eigenen Heimat, von Hoffnung und schließlich vom Verlust. Die ruhige, manchmal beinahe karge Sprache lässt das Geschehen umso eindrücklicher wirken, ein Buch, das nachdenklich macht und beim Lesen ein völlig neues Bild vom Kirchturm im Reschensee ergibt.  

Zwei Wochen im Juni – Anne Müller

AutorAnne Müller
Verlag Penguin Verlag
Erscheinungsdatum 27. April 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3328601098

„Ada betrachtete sich im Spiegel. Der Pullover war an den Ärmeln zu kurz, er passte nicht wirklich. Und irgendwie fühlte sich ihr Leben im Moment genauso an.“ (Zitat Seite 61)

Inhalt

Ada Hoffmann, dreiundvierzig Jahre alt, hat vor vierundzwanzig Jahren das Elternhaus in Gragaard an der Ostsee verlassen, um Kunst zu studieren und lebt jetzt in Hamburg. Toni, ihre drei Jahre ältere Schwester, Studienrätin, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in der kleinen Stadt Ratzeburg. Vor sechs Wochen hatte sich ihre Mutter Nora wie immer abends vor den Fernseher gesetzt, war eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Nun kommen die beiden Schwestern ein letztes Mal nach Gragaard, in das alten Haus am Meer mit dem wunderbaren Garten. Das Haus muss geräumt werden, denn es wird verkauft. Jedes Stück trägt besondere Erinnerungen in sich, die sie nochmals durchleben. Dabei beginnen sie, auch über ihr aktuelles Leben nachzudenken.

Thema und Genre

In diesem Frauen- und Familienroman geht es um Kindheit, Erinnerungen, Familiengeschichte und um die Liebe in allen Facetten. Plötzlich ist nicht nur die Vergangenheit ein Thema, sondern auch mögliche Veränderungen und neue Wege.

Charaktere

In diesem Roman begegnen wir starken Frauen, die, völlig unterschiedlich, doch immer füreinander da sind. Nora, die Mutter, die ihre Karriere als Pianistin beendet hat, als Toni auf die Welt kam, ist die Seele des Hauses in Gragaard, klug, einfühlsam und mit einer großen Liebe zu ihren Töchtern und zu ihrem Garten. Toni schreibt Listen, seit sie schreiben kann, will alles perfekt machen, was dazu führt, dass sie zwischen Job und Familie manchmal auf die Lebensfreude und auf sich selbst vergisst. Ada ist nicht nur optisch das genaue Gegenteil. Sie ist eine kreative Künstlerin, die schon als Kind gemalt hat und lange Zeit das Gefühl hatte, im Schatten ihrer selbstbewussten Schwester zu stehen.

Handlung und Schreibstil

Besonders Ada hängt sehr an diesem Haus, doch auch ihre gestresste Schwester Toni spürt den alten Zauber der Kindheit und Jugend, als sie sich doch Zeit nimmt, die Gegenstände durchzusehen, zu sortieren und auch Unbekanntes über ihre Mutter zu entdecken. Die Geschichte spielt, wie der Titel sagt, innerhalb von zwei Wochen, allerdings unterbrochen durch Rückblenden, die langsam die gesamte Familiengeschichte bis zu diesen Tagen im Juni ergänzen. Die Sprache erzählt einfühlsam, mit feinem Humor und schildert lebendige Bilder in einer positiven Grundstimmung, die aber niemals übertrieben wirkt.

Fazit

Ein poetischer, leiser Roman, der Mut macht, der die Kraft der Erinnerung und den Trost im liebevollen Abschied über die Trauer eines Verlustes stellt. Eine nachdenkliche, aber immer positive Geschichte, die uns ihre sympathischen Figuren und das alte Haus mit seiner Seele und dem wunderbaren Bauerngarten am Meer sofort nahebringt.

Margos Töchter – Cora Stephan

AutorCora Stephan
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 7. Mai 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462052275

„Jeder Mensch hat eine Mutter. Jana Seliger hatte zwei. Eine war ihr nah, obwohl sie fern war, von der anderen wusste sie nur, dass sie von zweifelhaftem Charakter sein musste.“ (Zitat Pos. 32)

Inhalt

Jana Seliger ist erst dreizehn Jahre alt, als ihre Ziehmutter Leonore bei einem Autounfall stirbt. Leonore war erst zweiundvierzig Jahre alt und an den angeblichen Selbstmord kann Jana nicht glauben, bis heute nicht. Inzwischen ist Jana erwachsen und selbst Mutter von Zwillingen. Sie weiß inzwischen, dass sie zwei Mütter hat, Leonore und ihre leibliche Mutter, die sie als Kleinkind bei Leonores Eltern Margo und Henri zurückgelassen hat. Im Herbst 2011 wird ihr Antrag auf Einsicht in die Unterlagen des MfS nach neun Jahren überraschend bewilligt. Obwohl Max, ihr Ehemann, ihr rät, die Vergangenheit ruhen zu lassen, will sie endlich wissen, wer ihre wahren Eltern waren und warum ihre Mutter sie damals im Stich gelassen hat, auch wenn Leonore für sie immer die echte Mutter bleiben wird.

Thema und Genre

Dieser zeitgeschichtliche Familien- und Generationenroman beginnt mit Leonores Jugend in der Aufbruchsstimmung der sechziger Jahre und führt den Leser durch die Zeit des geteilten Deutschland und endet im Jahr 2012. Es geht um Republikflucht und um politische Überzeugungen auf beiden Seiten der Mauer, die auch nach dem Mauerfall fortbestehen. Es geht um Opfer, Familiengeheimnisse und um die Liebe.

Charaktere

Die Frauen der Familie Seliger, Margo, Leonore und Jana sind starke Frauen, doch die unangepasste Leonore, rebellisch und neugierig, prägt die Geschichte der Familie besonders. Auf einem Jugendlager in der DDR trifft sie die selbstbewusste Clara, von der sie sich verstanden fühlt. Längst erwachsen, stehen die beiden Frauen einander wieder gegenüber und Leonore trifft eine Entscheidung, die ihr Leben völlig verändert. Alle Romanfiguren bleiben stimmig und ihre Beweggründe sind nachvollziehbar.

Handlung und Schreibstil

Die Autorin beschreibt die Zeit eindrücklich, in lebendigen Farben, und macht so das Buch zu einer auch zeitgeschichtlich interessanten, spannenden Lektüre, sei es, weil man diese Zeit selbst erlebt hat, aber sicher auch für jüngere Lesergruppen, die hier in Romanform einen vielschichtigen Einblick in das Leben einzelner Menschen in diesen prägenden Jahren erhalten.

Die Handlung wird in mehreren Erzählsträngen abwechselnd erzählt. In Teil I stehen abwechselnd Jana in der Jetztzeit im Mittelpunkt und Leonore in den Jahren 1964 bis 1991, in Teil II wird Claras Geschichte erzählt und Teil III verbindet alle Schicksale. Rückblenden ergänzen die Geschehnisse und bieten auch einige Überraschungen. Ein Personenverzeichnis am Ende des Buches erleichtert den Überblick. Die Sprache schildert einfühlsam und intensiv.

Fazit

Ein zeitgeschichtlicher Generationenroman, ein fesselndes, lebendiges Bild der prägenden Jahre des Aufbruchs, aber auch des Spannungsfeldes zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland. Die vielschichtige, spannende Familiengeschichte mit starken, beeindruckenden Charakteren garantiert Lesevergnügen, das nachhallt.

Die Welt ist voller Sommer, Eine Familiengeschichte von Rügen – Christiane Töllner

AutorChristiane Töllner
Verlag EDITION POMMERN
Erscheinungsdatum 23. März 2020
FormatTaschenbuch
Seiten208
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3939680574

„Seit mehr als hundert Jahren bin ich mal Mittelpunkt dieser Geschichte, mal Zuschauer, mal ganz nah, dann abgeschnitten und weit entfernt. Ich habe während dieser Zeit Vieles erlebt, erfahren, gesehen und gelernt. Ich möchte sie jetzt gerne erzählen.“ (Zitat Seite 5)

Inhalt

Fritz Töllner hatte 1899 in Sellin zunächst die Villa Hedwig gebaut, doch diese war rasch zu klein geworden und so hat er sie drei Jahre später wieder verkauft und auf einem 2.000 m2 großen Grundstück 1903 die Villa Helene gebaut, ein neues Haus für die Familie, mit Fleischerei und Pensionszimmern für Sommergäste. Dieses Haus erzählt die abwechslungsreiche Geschichte der Familie Töllner.

Thema und Genre

Diese biografische Familiengeschichte ist gleichzeitig die Geschichte der Entwicklung des Bädertourismus und der Seebäder am Beispiel des Ortes Sellin. In diesem ersten Band stehen die Jahre 1903 bis 1953 im Mittelpunkt.

Handlung und Gestaltung

Es ist das Haus selbst, das sich an die wechselhafte Geschichte erinnert, beginnend mit dem Jahr 1903, gefolgt von dem kalten Winter 1904 und dem gespannten Warten auf die ersten Sommergäste und den Beginn der Saison im Frühling. Es folgt der Bau der ersten Seebrücke im Jahr 1906 und die erfolgreiche Entwicklung der Seebäder. Zwei Weltkriege und die mühevolle, entbehrungsreiche Zwischenkriegszeit hat diese Familienvilla gut und sicher überstanden, bis zu jenen Schicksalstagen der Aktion Rose im Frühjahr 1953, denen sich die Familie Töllner in letzter Minute durch die Flucht in den Westen entziehen kann.

Es sind Bücher wie dieses, das die Geschichte wirklich spannend und erlebbar machen. Dieses Alltagsleben von Menschen wie du und ich, mit den glücklichen und traurigen Tagen, versetzt uns beim Lesen in diese Zeit zurück. Wir erleben den Beginn des Bädertourismus, den Aufstieg von Sellin im Schatten von Binz, aber auch damals schon ruhiger, mit mehr Persönlichkeit und Flair.

Woher kann ein Haus dies alles wissen? Die Autorin löst das auf eine originelle, plausible Art. Das Haus ist ein interessierter Zuhörer und Beobachter. „Ich höre nicht nur die Stimmen von Familie Töllner innerhalb meiner etwas mehr als vier Wände, sondern der Wind trägt mir über die Dächer und Gärten der anderen Häuser außerdem den neuesten Tratsch und Klatsch und Wichtigkeiten durch Fenster und Türen.“ (Zitat Seite 28).

Viele Fotografien, Dokumente, Originaltexte und ein genau recherchierter, geschichtlicher, internationaler Hintergrund ergänzen die erzählte Familiengeschichte.

Fazit

Ein Leseerlebnis nicht nur für Menschen, die hier leben und aufgewachsen sind, und Menschen, die ihren Urlaub an der Ostsee und vielleicht sogar auf der schönen Insel Rügen verbrinden, sondern auch für die interessierte jüngere Generation. Es sind diese Geschichten der Vorfahren, die nicht verloren gehen dürfen, sondern erzählt und angehört werden sollen. Ich musste beim Lesen dieser packend und lebhaft erzählten Lebensgeschichte einer Familie an ein Zitat des bekannten Autors Alessandro Baricco (Novecento, Piper Verlag, Seite 19) denken: „Du bist nicht wirklich aufgeschmissen, solange du noch eine gute Geschichte hast und jemanden, dem du sie erzählen kannst.“