Die Stadt der weißen Musiker – Bachtyar Ali

AutorBachtyar Ali
VerlagUnionsverlag
Datum28. Januar 2019
AusgabeTaschenbuch
Seiten432
SpracheDeutsch
ÜbersetzungPeschawa Fatah
Hans-Ulrich Müller-Schwefe
ISBN-13978-3293208261

„Was der Mensch dem Menschen erläutert, ist immer unvollkommen. Ich habe gelernt, dass der größte Geschichtenerzähler das Leben selber ist.“ (Zitat Seite 137)

Inhalt

Im Jahr 1998 wird der Schriftsteller Ali Sharafiar während seiner Reise nach Kurdistan auf dem Flughafen von Amsterdam von einem jungen Mann angesprochen. Er bittet den Schriftsteller, ein Päckchen mit Notenheften und CDs mitzunehmen, und persönlich der Musikerin Rauschani Mustafa Saqzi  zu übergeben. Doch dies ist nur ein erster Kontakt, denn in Wahrheit soll Ali Sharafiar eine Geschichte aufschreiben, es ist die wechselvolle, besondere Geschichte seines Lebens, die ihm der hochbegabte Flötist Dschaladati Kotr persönlich erzählt. „So also begann diese Geschichte. Ihr Ende wird sie an ganz anderem Ort, jenseits der vertrauten Welt und Zeit finden.“ (Zitat Seite 12)

Thema und Genre

Dieser Roman ist ein prächtiges, eindringliches Epos zwischen der unvorstellbaren Grausamkeit der Menschen im Krieg und der alles überdauernden Kraft der Kultur und Kunst, von Malerei, Literatur und Musik. Es geht um die Menschen, ihr Verhalten, ihre Hoffnungen, Gefühle, um die Liebe und um magische Orte, Phantasiewelten, wo alles möglich scheint. Ein wichtiges Thema sind Schuld und Sühne, Vergebung oder Vergeltung.

Erzählform und Sprache

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Dschaladati Kotr, der mit acht Jahren eine weiße Flöte bekommt und sofort wunderbare Melodien darauf spielen kann, bevor ihn Krieg und Flucht zwingen, genau diese musikalische Begabung wieder zu verlernen, um als einfacher Unterhaltungsmusiker zu überleben. Nun, viele Jahre später, wünscht sich Dschaladati, dass alle seine wahre Geschichte erfahren, seine Erinnerungen, sein Leben als Biografie, nicht nur oberflächliche Bilder und flüchtige Sätze. Ali Sharafiar dagegen geht es zunächst um die schriftstellerische Freiheit, um eine romanhafte Handung, um Sprache und Phantasie. Schließlich wird die Geschichte in fünf großen Abschnitten, Büchern, geschildert, jedes Buch in Kapitel unterteilt. Abwechselnd erzählt entweder Ali Sharafiar oder Dschaladati Kotr, oder im Vierten Buch gemeinsam. Dadurch ergibt sich für Bachtyar Ali die Möglichkeit, zwischen Ich-Erzähler und personalen Erzählformen zu wechseln und durch die unterschiedlichen Sichtweisen und sprachliche Umsetzung diese Geschichte nicht nur in der Handlung, sondern auch sprachlich unglaublich vielfältig zu erzählen. Die genauen Schilderungen des Umfeldes, der Städte, der Häuser, der Musik, der Menschen sind eindrücklich, von lebhafter Farbenpracht und facettenreich, die Grenze zwischen Realität, Phantasie und Magie verläuft fließend und wird durch die Ereignisse gleichsam mühelos in alle Richtungen überschritten. Dennoch schweigt Bachtyar Ali nicht über die grausame Realität von Krieg, Unterdrückung und Mord, schreibt mit einer schnörkellosen Klarheit, die uns beim Lesen an die Grenzen unserer Vorstellungskraft bringt.

Fazit

Ein epischer Roman mit einer Handlung zwischen Realität, Phantasie und Magie, schillernd, überbordend, poetisch, philosophisch und von einer besonderen, schwer zu beschreibenden Intensität. Eine Leseerfahrung, die unsere Gedanken und eigenen Überlegungen fordert und noch lange nachhallt.

Apeirogon – Colum McCann

AutorColum McCann
VerlagRowohlt Taschenbuch
Datum25. Januar 2022
AusgabeTaschenbuch
Seiten608
SpracheDeutsch
ÜbersetzungVolker Oldenburg
ISBN-13978-3499271878

„Ein Stein führt zu einer Kugel. Der nächste Selbstmordanschlag führt zum nächsten Luftangriff. Und immer so weiter.“ (Zitat Seite 288)

Inhalt

Abir Aramin, ein Mädchen aus Palästina, ist erst zehn Jahre alt, als sie von einem jungen israelischen Grenzpolizisten erschossen wird. Zehn Jahre davor war die junge israelische Studentin Smadar Elhanan bei einem Anschlag von drei Selbstmordattentätern getötet worden. Bassam Aramin, Abirs Vater, und Rami Elhanan, Smadars Vater, treffen zum ersten Mal in einer Gruppe von trauernden Menschen aufeinander, Israelis und Palästinenser, die nahe Angehörige und Freunde in diesen langen Jahren des Nahost-Konflikts verloren haben. Sie erkennen, dass sie eine gemeinsame, tiefe Trauer eint, und der Wunsch nach Frieden. Das ist der Beginn einer Freundschaft und des gemeinsamen, unermüdlichen Einsatzes für den Frieden.

Thema und Genre

Diese Geschichte ist ein facettenreicher politischer Roman, geschrieben in einer sehr poetischen Erzählsprache. Die Figuren sind fiktiv und stehen dennoch für ungezählte reale Schicksale, wie sie in diesem Konflikt täglich passieren. Es geht um Palästina und die israelische Besatzung. Dieser zeitlos aktuelle Roman ist 2020 erschienen, doch hat er in diesen Wochen eine nochmals neue Brisanz erhalten. Diese Geschichte ist ein Plädoyer dafür, friedlich Seite an Seite zu leben, zu lernen, miteinander auszukommen.

Erzählform und Sprache

Ein Apeirogon ist eine Figur mit einer zählbar unendlichen Menge an Seiten. So wird auch diese Geschichte in zwei Mal fünfhundert kurzen Kapiteln mit vielen unterschiedlichen Themen und Informationen geschildert, der erste Teil in einer Aufwärtsbewegung von eins bis fünfhundert Abschnitten, der zweite Teil als Abwärtsbewegung von fünfhundert bis zurück zu eins. Erzählt wird jedoch nicht nur die Geschichte von Rami und Bassam, sondern diese ist eingebettet in eine weite Fülle von Ideenschnipseln, sei es die politische Lage betreffend, die Geschichte Palästinas, die Menschen, aber auch die Natur, immer wieder taucht das Thema Zugvögel auf, die Schwingen der Freiheit über die von Menschen errichteten Mauern hinweg. Die Sprache ist bilderreich, intensiv, poetisch und beeindruckend.

Fazit

Apeirogon ist ein eindringlicher Roman mit einer zeitlos beklemmenden Aktualität. Kurz gesagt geht es darum, dass es immer zwei Seiten gibt, immer. „Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort; dort treffen wir uns.“ Diese auf Seite 312 zitierte Aussage stammt von dem persischsprachigen Dichter und Gelehrten Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī und besser, als mit dieser Aussage, kann der Inhalt dieses epischen Romans nicht zusammengefasst werden.  Wer dieses Buch noch nicht gelesen hat, sollte dies tun, jetzt, genau jetzt.