Stern 111 – Lutz Seiler
Autor | Lutz Seiler |
Verlag | Suhrkamp Verlag |
Erscheinungsdatum | 2. März 2020 |
Format | Gebundene Ausgabe |
Seiten | 528 |
Sprache | Deutsch |
ISBN-13 | 978-3518429259 |
„Obwohl sein Leben hinter dem Bombenwäldchen in der Rykestraße 27 vielleicht schäbig und ärmlich aussah (das Matratzenfloß auf den kalten Dielen, ein toter Schwarzweißfernseher als Anlegestelle), hatte er das Wort Armut bisher nie gedacht. Und wenn schon: Ein armer Dichter zu sein, schien nicht verkehrt, wenn man ein Dichter war.“ (Zitat Seite 174)
Inhalt
Seine Eltern bitten Carl Bischoff, Student, sechsundzwanzig Jahre alt, nach Hause zu kommen, da sie mit ihm etwas besprechen wollen. Nach Hause, das ist Gera, gerade ist die Mauer gefallen und seine Eltern Walter und Inge, fünfzig und neunundvierzig Jahre alt, teilen ihm mit, dass sie weggehen. Er möge bitte auf die elterliche Wohnung aufpassen. Doch Carl kommt mit der Situation allein nicht zurecht und fährt nach Berlin. „Wie seine Eltern hatte er keine Adresse vor Augen gehabt, er war abgefahren ohne Ziel, nur mit irgendeiner Phantasie im Kopf, bei der man nicht wohnen konnte.“ (Zitat Seite 55). Er schließt sich einer Gruppe von Hausbesetzern an und bezieht selbst eine Wohnung in einem Abbruchhaus. Eine Werkbank, die jemand zurückgelassen hat, wird sein Schreibtisch. Dort verbringt er seine Zeit, schreibt an seinen Gedichten, hofft auf den Durchbruch, träumt davon, sein erstes eigenes Buch in Händen zu halten. Gleichzeitig hilft er mit, das Kellerlokal Assel als Treffpunkt, Kaffeekneipe auszubauen, als Asyl für die unterschiedlichsten Menschen, Außenseiter der Gesellschaft. Die Briefe seiner Mutter berichten ihm von der Reise seiner Eltern auf dem Weg zur Erfüllung eines jahrzehntealten Traumes.
Thema und Genre
In diesem Roman geht es um die Nachwendezeit in Deutschland, um viele Facetten von Zusammenhalt, Freundschaft und Liebe, um Hoffnungen, Chancen und Träume, aber auch um die mit den raschen Veränderungen verbundene Unsicherheit und Ängste.
Charaktere
Carl hat in diesen Jahren direkt nach dem Wendejahr 1989 sein eigenes Leben noch nicht entdeckt, zutiefst unsicher, zweifelt er an seinem Erfolg als Schriftsteller und die Angst vor Absagen blockiert ihn. Obwohl Carl mit Mitte Zwanzig zu diesem Zeitpunkt längst ein eigenes Leben führt, fühlt er sich als Kind, von seinen Eltern im Stich gelassen. Inge, seine Mutter ist dagegen flexibel, passt sich jeder Situation aktiv an, sie entscheidet operativ (eines ihrer Lieblingsworte), will endlich ihren und Walters Traum verwirklichen. Wir lernen in dieser Geschichte viele unterschiedliche Charaktere kennen und neugierig folgen wir ihnen, gespannt, wohin sie der Weg führen wird. Kurz treffen wir auch Ed und Kruso in Berlin wieder.
Handlung und Schreibstil
Es sind zwei Geschichten, die uns der Autor hier erzählt. Die erste, in deren Mittelpunkt Carl, ein angehender, junger Schriftsteller steht, spielt im gerade wieder vereinten Berlin, wo nicht nur die Menschen selbst, sondern auch die Stadt auf der Suche nach einem Weg aus dem Chaos in die Zukunft zu sein scheint. Die zweite Handlung erzählt von den Problemen und der schwierigen Situation jener Menschen, die Ostdeutschland sofort verlassen und im Westen auf einen Neubeginn hoffen.
Stern 111, der Titel, ist die Marke eines Kofferradios, das damals die erste Anschaffung der jungen Familie Bischoff gewesen ist und die Familie all die Jahre begleitet hat, ein Symbol ihrer Zusammengehörigkeit. Damals waren es die gemeinsam gehörte Musik und Meldungen, nun ersetzt durch die Berichte in den Briefen seiner Mutter. Die Ereignisse in der Gegenwart werden ergänzt durch Erinnerungen. Es sind einzelne Situationen oder Worte, die Carl zurück in seine Kindheit führen, nach Gera und in die Geborgenheit der Familie, die plötzlich im Jahr 1989 zu Ende ist. Als er in Berlin seine Liebe Effi wiedersieht und von einer gemeinsamen Zukunft träumt, ist es daher für Carl nicht einfach für sich selbst zu definieren, wie „zusammen sein“ funktioniert.
Faszinierend ist auch in diesem Roman die eindrückliche, aber gleichzeitig unglaublich leichte, lebhafte Erzählsprache des Autors.
Fazit
Der Autor ist ein großartiger Erzähler, der seinen Figuren auf ihrem Weg viel Freiraum lässt, man hat den Eindruck, er folgt ihnen nicht nur mit Empathie, sondern er ist selbst neugierig, wie und ob sie ihre Konflikte und Probleme lösen können, den eigenen Lebensweg entdecken. Ein ungewöhnlicher, packender Nachwende-Roman, den man mit Begeisterung liest.