Tage ohne Cecilia – Antonio Muñoz Molina

AutorAntonio Muñoz Molina
Verlag Penguin Verlag
Erscheinungsdatum 24. August 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ÜbersetzerWilli Zurbrüggen
ISBN-13978-3328602002

„Im Traum bin ich in New York, doch diese Gewissheit entspricht überhaupt nicht dem, was ich sehe. Ich bin irgendwo in Lissabon und weiß nicht, wie ich dorthin gelangt bin.“ (Zitat Seite 230)

Inhalt

Ein Mann ist gerade von New York nach Lissabon gezogen. Während seine Frau Cecilia, eine Forscherin, zwischen dem Abschluss ihrer wissenschaftlichen Arbeit in New York und Kongressen pendelt, hat er Zeit, die Umzugskartons auszupacken und die Wohnung einzurichten, denn er ist schon im Vor-Ruhestand. Begeistert erzählt er, dass man aus den Fenstern der Wohnung wieder auf einen Fluss blickt, früher war es der Hudson, jetzt ist es der Tejo. So entsteht in einem ruhigen Viertel von Lissabon ein schönes neues Zuhause. Während er wartet, leistet die Hündin Luria dem Mann Gesellschaft und beide warten voll Vorfreude auf die Ankunft von Cecilia. Die Tage vergehen …

Thema und Genre

Der Schwerpunkt in diesem Roman sind psychologische Fragen zu Kernthemen wie die eigene Erinnerung an in der Vergangenheit erlebte Situationen und die Unberechenbarkeit dieser Erinnerungen, Ängste, der schmale Grat zwischen Realität und Scheinwelt.

Charaktere

Der Ich-Erzähler fühlt sich in Lissabon wohl und ist froh, New York verlassen zu haben, freut sich auf die Ankunft seiner Frau. Doch je länger der Mann wartet, desto mehr verliert er das Gefühl für Raum und Zeit, seine Gedanken pendeln zwischen den vielen Erinnerungen an die Zeit in New York und seiner neuen täglichen Routine in Lissabon. „Das jetzt ist in die Ferne gerückt. Die damalige Vergangenheit ist von mächtigerer Beschaffenheit als die Gegenwart.“ (Zitat Seite 212)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte kommt mit wenigen Personen aus. Im Mittelpunkt der Handlung steht der Mann, der nach einer Übersiedlung darauf wartet, dass seine Frau, eine erfolgreiche und vielbeschäftigte Wissenschaftlerin, in die neue gemeinsame Wohnung nachkommt. Er teilt mit uns seine Erinnerungen an die Zeit und Ereignisse in New York, aber auch die Bücher, die er gerade liest und denkt auch über aktuelle Themen nach. So breitet der Autor die an sich einfache Situation, ein Mann und seine Hündin warten auf seine Frau, weit aus, wie einen bunten Fächer, facettenreich, eindrücklich, beklemmend. Mit dem Mann warten wir auf Cecilia und mit jedem Detail fragen wir uns, ob die Geschichte, die er uns da erzählt, tatsächlich so ist, wie von ihm geschildert. Es sind die Gedanken und Zweifel, die diesem Roman die Spannung geben. Gleichzeitig nimmt sich der Autor Zeit für eindrückliche Schilderungen von Lissabon, des ruhigen Stadtteils, in dem die neue Wohnung liegt, aber auch für prägende Szenen in der turbulenten Stadt New York. Es ist mit die Sprache, die uns beim Lesen sofort in den Bann dieser Geschichte zieht.

Fazit

Eine intensive Geschichte mit vielen Facetten zwischen dem Lebensgefühl in der bunten Stadt Lissabon, aber auch den drängenden Themen und Problemen unserer Zeit, zwischen Liebe, Erinnerungen, Traum und Wirklichkeit.

Blauregen: Ein Zeitreiseroman – Marie von Stein

AutorMarie von Stein
Verlag tredition
Erscheinungsdatum 1. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten280
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3347687325

„Doch würde es gelingen, gegen den Willen des Grafen zu bestehen? Dies konnte allein der kommende Tag entscheiden.“ (Zitat Seite 152)

Inhalt

Im März 1671 läuft die alte Witwe aufgeregt zum Pastor. Gerade hat sie das Böse, das die Menschen hier bedroht, mit eigenen Augen gesehen: Isabein Luhmann hat mit einem Wolf Unzucht getrieben, sie ist eine Hexe, welche die Wölfe anführt. Zu viele Rudel teilen sich den enger werdenden Lebensraum im Kalletal mit den Menschen, die Bauern fürchten sich und rüsten zur Jagd auf die Wölfe. Anna Callendorp versucht verzweifelt, dies zu verhindern. Burkhard vom Fels, der neue Oberjagdmeister des Grafen zur Lippe, ist ihrer Meinung, doch wie kann er sich gegen die Befehle des Grafen stellen, der schon eine große Wolfshatz plant. Susanna Kallen ist in diesem Februar 2022 mitten in den Vorbereitungen für ihre Hochzeit mit Thomas. Zur Entspannung dreht sie eine kurze Joggingrunde, als sie den Ruf aus der Vergangenheit hört. Sofort biegt sie vom Weg ab und läuft zum Elfenborn.

Thema und Genre

Blauregen ist der dritte Teil der Serie RegenbogenReigen. Es ist ein historischer Zeitreiseroman mit Regionalbezug zum Kalletal und dem Lipperland. Es geht um die Natur, das Leben im späten 17. Jahrhundert, aber auch zeitlos brisante soziale Themen, die Situation der Frauen, damals wie heute. Ein wichtiges Thema ist die Wolfspopulation und ein mögliches Zusammenleben zwischen Wolf und Mensch, das damals wie heute am Fehlen von einfachen Dingen wie dem Schutz der Weidetiere durch Zäune scheitert. Natürlich fehlt auch diesmal eine gute Prise Magie nicht.

Charaktere

Susanne Kallen in der Gegenwart und Anna Callendorp verbindet ein magisches Band. Beide sind selbstbewusst und kämpfen für die Dinge, die ihnen wichtig sind. Damit begeben sie sich in große Gefahr.

Handlung und Schreibstil

Diese Geschichte einer Zeitreise spielt im Kalletal, die Umgebung und Örtlichkeiten sind dieselben, im Frühjahr 1671 und auch im Frühjahr 2022. Die Autorin kennt ihre Heimat sehr genau und schildert die Landschaft mit den Wäldern, Felsen, Feldern in eindrücklichen Bildern, man wird sofort in die jeweilige Situation, das Umfeld und die Zeit versetzt. Es ist ein Roman mit einer fiktiven Handlung und fiktiven Figuren, doch die Autorin hat das Leben in den Grafschaften im Kalletal in der Vergangenheit sehr gut recherchiert und so wirken beide Zeitebenen authentisch und glaubhaft. Auch diesmal gelingt es der Autorin, die sich langsam anbahnenden kleinen Veränderungen nachvollziehbar einfließen zu lassen, den magischen Regenbogen, der die Vergangenheit mit der Zukunft, unserer Gegenwart, verbindet. Ein ausführliches Glossar mit Erklärungen typischer Ausdrücke des Lippischen, aber auch älterer Redewendungen, Erklärungen der Ortsnamen und Eigennamen und Links zu vertiefenden Artikeln im Internet finden sich im Anhang.

Fazit

Es ist die Stärke dieser RegenbogenReigen-Serie, dass es nicht nur eine wunderbar magische Zeitreise ist, sondern auch zum Nachdenken anregt. Auch dieser dritte Roman verzaubert und garantiert Lesevergnügen.

Ein Haus und geteilte Leben: Teil zwei der Familiengeschichte von Rügen – Christiane Töllner

AutorChristiane Töllner
Verlag EDITION POMMERN
Erscheinungsdatum 10. August 2022
FormatTaschenbuch
Seiten230
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3939680710

„Aber als ein Haus ohne Gäste erreicht mich das Geschehen im Ort längst nicht mehr so wie früher. So geht diese Saison ziemlich an mir vorbei. Es fühlt sich an, als hätte es sich ausgesommert.“ (Zitat Seite 35)

Inhalt

Nach der „Aktion Rose“ am Beginn des Jahres 1953 sind Otto und Alma auf ihrer Flucht in Berlin angekommen und leben dort unter sehr bescheidenen Umständen. Das Haus vermisst sie sehr und sie vermissen ihre Heimat Rügen. Auch ihr Sohn Horst musste mit seiner Frau Rosi Greifswald verlassen, in den Westen fliehen. Er bewirbt sich um eine Stelle als Dozent auf Schloss Bieberstein in der Rhön, die er auch erhält. Immer mehr Freunde und Bekannte verlassen die DDR, das Haus beobachtet mit Sorge, wie es in Sellin leiser wird. Doch dann nimmt auch hier das Leben wieder Fahrt auf, wenn auch völlig anders als bisher. Das Haus wurde in kleine Wohneinheiten unterteilt und diese einzeln vermietet. Die Jahre vergehen, nun gibt es Radio und Fernsehen, und so ist auch das Haus über die aktuellen Ereignisse informiert, denkt darüber nach, es sind viele Themen: von der Politik, über das Tagesgeschehen, Kultur, bis zu den wichtigen Sportereignissen. Nach der Wende wartet das Haus sehnsüchtig auf Horst und Rosi, bis es im Jahr 1993 endlich so weit ist. Genau einhundert Jahre nach dem Bau des Hauses stehen sie nach mehr als vierzig Jahren zum ersten Mal wieder vor dem Haus und überlegen. Wird es ein neues Kapitel für das Haus „Helene“ geben?

Thema und Genre

Dieses Buch ist der zweite Teil der Geschichte des Hauses „Helene“ in Sellin auf Rügen und die damit verbundene Geschichte der Familie Töllner.

Charaktere

Der Erzähler ist das Haus 1903 erbaute Haus. Vor allem jedoch ist es die Geschichte der Menschen aus mehreren Generationen. Es sind Familienmitglieder, Freunde und Bekannte der Familie der Autorin.

Handlung und Schreibstil

Wie bereits im ersten Teil der Familiengeschichte ist es das Haus, das beobachtet, über die Beobachtungen und Informationen nachdenkt und diese erzählt. Es ist eine lebhafte, facettenreiche Mischung. Schilderungen des Alltags in der DDR, gleichzeitig auch in der Bundesrepublik, das Leben auf beiden Seiten der Mauer, werden mit der jeweils relevanten politischen und wirtschaftlichen Situation verknüpft. Auch über kulturelle Ereignisse berichtet das Haus und besondere Ereignise wie den Katastrophenwinter 1979 und so wird auch die Geschichte des Ostseebades Sellin und der Insel Rügen Teil der Handlung.

In der zweiten Hälfte des Buches geht es um das wiedervereinigte Deutschland, die Unsicherheiten in den Jahren danach und die  Veränderungen. Ein architektonisch interessantes Kapitel zeigt Bilder des baulichen Zustandes der  einzelnen bekannten Häuser nach der Wende und heute, nach umfassenden Erhaltungsarbeiten. Anekdoten, Briefausschnitte und viele Fotografien ergänzen den Text. Im Anhang am Buchende finden sich der Stammbaum, das Abbildungsverzeichnis und eine ausführliche Quellenangabe.

Fazit

Eine facettenreiche, packende Reise durch die letzten siebzig Jahre Zeitgeschichte Sellins, der Insel Rügen und Deutschlands, und gleichzeitig ein Streifzug durch die zeitlose, beeindruckende Schönheit der Natur dieser Insel. Wer diese wechselvollen Jahre erlebt hat, wird durch dieses Buch sicher auch in eigene Erinnerungen zurückgeführt. Für die jüngere Generation, die Urlaubsgäste aus allen Teilen Deutschlands und Europas, oder eine Wienerin auf Rügen wie mich, bietet dieses Buch eine Fülle von neuem Wissen, eindrücklich und persönlich berichtet, aus einer originellen Erzählperspektive geschildert, und mit unterhaltsamer Leichtigkeit zu lesen.  

Simón – Miqui Otero

AutorMiqui Otero
Verlag Verlag Klett-Cotta
Erscheinungsdatum 20. August 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten448
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMatthias Strobel
ISBN-13978-3608980745

„Du kannst sein, wer immer du sein willst, aber vergiss nie, wer du bist.“ (Zitat Position 4524)

Inhalt

Rico, Simóns Cousin, ist zehn Jahre älter und wie ein Bruder für Simón, sein Beschützer und großes Vorbild, so lange er denken kann. Der beste Tag für den jungen Simón ist immer der Sonntag, denn an diesem Tag bringt ihm Rico ein Buch mit, das Simón suchen muss, bevor er sich in die spannenden Abenteuer von neuen Helden vertiefen kann. Bis Rico eines Tages im Sommer 1992 spurlos verschwindet und Simón nach Jahren des Suchens lernen muss, seinen eigenen Weg zu finden und dass die Abenteuer seiner edlen Romanhelden nicht immer den Weg in das wirkliche Leben finden. „Manchmal muss man fortgehen, um nach Hause zurückkehren zu können. Manchmal kann man vielleicht nicht an einen Ort zurückkehren, aber sehr wohl zu einem Menschen.“ (Zitat Pos. 4808)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben und Schicksal einer großen Familie in Barcelona, um das Aufwachsen am Stadtrand in bescheidenen Verhältnissen. Vor allem jedoch geht es um Träume, Hoffnungen, Freundschaft, Liebe und um die Kraft der Literatur. Ein wichtiges Thema sind auch die politisch wechselvollen Jahre der lebhaften Stadt Barcelona, die sich 1992 euphorisch als Austragungsort der olympischen Sommerspiele präsentiert, und mehr als zwanzig Jahre später heftige Krisenjahre durchlebt.

Charaktere

Die Hauptfigur in dieser Geschichte ist Simón, dessen Leben wir von seiner Kindheit bis in seine Erwachsenenjahre Mitte dreißig folgen. Er ist ein Träumer, der sich mit den Helden seiner Abenteuerromane identifiziert, sie ins eigene Leben holt. „Der Zufall bringt das Leben durcheinander, die Fiktion hingegen ordnet es“ (Zitat Pos. 5461) Genau solche Zufälle bringen auch Simóns Pläne und Leben öfter als nur ein Mal durcheinander, und es sind die Frauen, besonders seine Lebensfreundin Estela, die ihn erden. Es ist eine Geschichte von Helden, die auch manchmal scheitern dürfen, und von den starken Frauen an ihrer Seite.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte umfasst, ergänzt durch Rückblenden und Erinnerungen, die Jahre zwischen 1992 und 2018 und wird chronologisch erzählt. Die Handlung ist facettenreich und von der ersten Seite an packend. Der Autor wählt, was in modernen Romanen inzwischen eher selten geworden ist, die Erzählstimme eines allwissenden Erzählers, was mit die sprachliche Faszination dieses Buches ausmacht. Diese Erzählform unterstützt die poetische, bildintensive Sprache, erlaubt dem Autor, auch tief in die Gedanken und Gefühle seiner Figuren einzudringen und künftige Entwicklungen anzudeuten, was die Handlung manchmal in Magie hüllt, die dennoch in der Realität besteht.

Fazit

Ein wunderbar dichter, intensiver und auch magischer Roman, eine Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte, Familienroman und Roman der Stadt Barcelona, in dem auch die Kraft der Literatur eine wichtige Rolle spielt.

Brooklyn soll mein Name sein – Eduardo Lago

AutorEduardo Lago
Verlag Alfred Kröner Verlag
Erscheinungsdatum 1. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten500
SpracheDeutsch
ÜbersetzungGuillermo Aparicio
ISBN-13978-3520624017

„Ich weiß nicht, nach was ich suche, ich weiß nur, dass es sich hinter den Tausenden von Wörtern verbirgt, die ich nicht aufhören kann zu schreiben. Ich weiß nicht, was es ist, was es sein kann, aber ich würde es gerne herausfinden und ihm eine Form verleihen, nur für dich. Für dich werde ich dieses Buch schreiben, Brooklyn.“ (Zitat Seite 266, 267)

Inhalt

Der Journalist Néstor Chapman entdeckt eines Abends bei einem Spaziergang durch Brooklyn Heights zufällig das Lokal „Oakland Bar & Grill“. Neugierig geworden, betritt er einen erstaunlichen Ort und an einem Tisch in einer Ecke sieht er einen Mann, der völlig unbeeindruckt von dem Trubel der anderen Gäste in ein Heft schreibt. So lernt er den Schriftsteller Gal Ackerman kennen und sie treffen einander regelmäßig im Oakland. Eines Tages nimmt Gal ihn in sein Studio mit und zeigt ihm eine Fülle von voll beschriebenen Heften, darunter auch das besondere „Brooklyn-Heft“, die Notizen für den Roman, den er für seine große Liebe Nadja Orlov schreiben wollte. Doch Gal weiß bereits, dass er nicht in der Lage ist, dieses Buch zu beenden. Néstor „Ness“ soll dies für ihn tun. Kurze Zeit später ist Gal tot und Néstor weiß, er hatte im Grunde nie eine Wahl, als das ihm anvertraute Archiv zu übernehmen und Gals Bitte zu erfüllen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben, um Literatur, um Freundschaft und Liebe. Wir treffen unterschiedliche Protagonisten und ihre Geschichten, die diesen Roman tragen. Natürlich geht es auch um New York, vor allem jedoch um Brooklyn und das Oakland, eine Bar in den Docks von Brooklyn, die für viele Menschen eine Art von Heimat geworden ist. „Sieh mal, dieses Licht, Néstor. Es ist das Licht, über das Louise in ihrem Gedicht spricht. Das Licht Brooklyns.“ Zitat Seite 26)

Charaktere

Es sind viele unterschiedlichen Protagonisten, die diese Geschichten beleben, jede Person ist auf ihre Art einzigartig und besonders. Manche tauchen nur kurz auf, stehen im Mittelpunkt einer Episode, eines Ereignisses, andere bleiben und begleiten uns durch das gesamte Buch.  

Handlung und Schreibstil

Der Roman wird nicht chronologisch erzählt, die einzelnen Kapitel reisen kreuz und quer zwischen den Jahren und Personen. Im Anhang findet sich eine genaue Chronologie der Ereignisse und ein ausführliches Personenregister. Die Rahmenhandlung, die alle weiteren Geschichten immer wieder eint und sich zwischen die einzelnen Episoden setzt, trägt Néstor als Ich-Erzähler. Er verbindet die Geschichten der einzelnen Hefte, erinnert sich an die Gespräche mit Gal, an Ereignisse, die Gal ihm aus seinem Leben und seiner Vergangenheit erzählt hat. Vor allem schildert Néstor diese besondere Zeit, die er selbst mit dem Sichten der Unterlagen, weiteren Recherchen und Gesprächen, und dem Schreiben verbracht hat. Diese Art des Erzählens in Verbindung mit den eindrücklichen, bunten, lebhaften Beschreibungen der Menschen und prägenden Orte, macht den besonderen Sog und Charme dieses außergewöhnlichen Romans aus.

Fazit

Es ist schwer, dieses beeindruckende Leseerlebnis zu beschreiben, die Vielfalt der Figuren, Schicksale, Orte, die tiefe Freundschaft, welche die Personen verbindet und sich durch die Geschichten zieht. Ich hatte das Buch gerade erst erhalten, wollte nur kurz die ersten Seiten lesen und geriet sofort in den Bann dieser faszinierenden Erzählform und Sprache. Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen und es reihte sich sofort in die Liste meiner zeitlos gültigen Lieblingsbücher ein.

Der Schrank – Simon Sailer

AutorSimon Sailer
IllustratorJorghi Poll
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 28. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten104
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650608

„Eine Wand gehörte dem Schrank. Er lehnte daran, als wäre er der eigentliche Bewohner des Raums, der wahre Herr des Hauses, und blickte verärgert auf das verhängte Bett.“ (Zitat Seite 30)

Inhalt

Lena Kovac ist Möbelpackerin. Eigentlich wäre der Auftrag an diesem Nachmittag kein Problem: einen Schrank in einer Villa im neunzehnten Wiener Bezirk abholen und in eine Wohnung im ersten Bezirk bringen. Doch dann hat das Team vom Vortag den Wagen nicht vollgetankt und Korni, neben Yilmaz der Dritte in ihrem Team, kommt wie immer zu spät. Die Zeit wird knapp, denn der Schrank muss unbedingt noch am selben Tag ankommen. Sie holen den wuchtigen Schrank ab, doch als sie ihn im Wagen fixieren, bricht ein Bein ab. Lena trifft die erste von mehreren Entscheidungen, und ihre Welt gerät aus den Fugen.

Thema und Genre

Eine erstaunliche, schwer zuordenbare Erzählung, die als Wiener Alltagsstudie beginnt und rasch ins Genre Phantastik wechselt.

Charaktere

Die toughe Lena ist mit ihrem Leben zufrieden, sie ist gewohnt, verlässlich und effizient zu arbeiten. Das ist nicht einfach an solchen Tagen, wo der Chef sie unter Zeitdruck setzt, die beiden Kollegen mehr Pausen verlangen und sie selbst am Abend pünktlich zu Hause sein wollte.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt am Abend, Lena kommt nach Hause, Feierabend, während ihr Freund Hakan seinen Nachdienst antritt. Am Nachmittag des nächsten Tages wartet der letzte Auftrag. Sobald sie den Schrank abgeholt haben, passieren eigenartige Dinge, die immer rätselhafter und skurriler werden. Wir wissen nicht, wer die Geschichte Lenas erzählt und der Erzähler überlässt es uns, über mögliche Erklärungen nachzudenken. Er berichtet über erstaunliche Ereignisse und Begegnungen, vielleicht als Folge von Lenas Entscheidungen, wir wissen es nicht. Vielleicht ist es ja auch nur ein schlimmer Alptraum und Lena erwacht am Morgen, der Tag mit dem Schranktransport beginnt erst.

Fazit

Eine erstaunliche Geschichte, in deren Mittelpunkt ein robuster alter Schrank und viele Tiere stehen und deren zunächst gemütliche, humorvolle Szenen rasch ins grotesk-phantastisch-Schaurige kippen und viel Raum zum Nachdenken über mögliche Hintergründe und Erklärungen lassen.   

Spanische Dörfer: Wege zur Freiheit – Maria Braig

AutorMaria Braig
Verlag BookRix
Erscheinungsdatum 15. Juni 2022
FormatKindle Ausgabe
Seiten204 (Printversion)
SpracheDeutsch
ASINB0B471VJKF

„Vielleicht gibt es gar kein Ziel, sondern nur verschiedene und immer neue Wege?“ (Zitat Seite 152)

Inhalt

Sie löscht ihre Vergangenheit aus ihren Gedanken und nennt sich zunächst La Marche, der Weg. Sie flieht allein aus Afrika, denn sie will frei sein. Als sie in Spanien aus dem Meer steigt, voll Hoffnung auf dieses Europa, begegnen sie einander für einen kurzen Augenblick. Er zählt niemandem von dieser Begegnung, doch er vergisst sie nicht. Auch sie behält seine Stimme im Ohr, auf einer langen Reise, die sie schließlich nach München führt. La Marche, jetzt nennt sie sich Manso, Enrique und Leon, sie sind anders und nirgendwo zu Hause. Bis Leon, Enriques bester Freund, der schon immer die schrägsten Ideen hatte, einen Artikel in einer Zeitung liest und plötzlich eine besonders verrückte Idee hat, er weiß, das ist die Lösung.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um brisante Themen unserer Zeit, um Schicksale von Menschen, die nicht in das allgemeine Bild der „Norm“ passen: Manso, Afrikanerin, Flüchtling ohne gültige Papiere, Enrique, ein junger Architekt, aufgewachsen als Henriqua, und Leon, der ein Chromosom mehr hat, als die meisten anderen Menschen. Lesealter junge Erwachsene, nach oben offen.

Charaktere

Manso, Enrique und Leon sind auf der Suche nach einem Leben nach ihren Vorstellungen. Manso will frei und unabhängig sein, aber was genau ist es, das sie sucht? Enrique ist noch unsicher, wie seine Zukunft aussehen soll. Zur Zeit ist er ein arbeitsloser Architekt, der in München als Kellner jobbt und seine Heimat Spanien und das Meer vermisst. Leon weiß genau, was er will: er studiert Lehramt und will als Lehrer unterrichten, doch werden die Kinder und ihre Eltern ihn so akzeptieren, wie er ist?

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt und durch Erinnerungen ergänzt. Eine wichtige Rolle spielen die Gedanken, Gefühle und Hoffnungen der drei Hauptfiguren. Enrique und Manso stehen abwechselnd im Mittelpunkt einer personalen Erzählform, während Leon als Ich-Erzähler die Lesenden direkt anspricht. So wissen wir manche Ereignisse schon vor seinem besten Freund Enrique, der jetzt in München lebt und Neuigkeiten aus Leons Leben erst durch Briefe, Telefongespräche oder bei den seltenen persönlichen Besuchen erfährt. Diese abwechslungsreiche Erzählweise ist mit einer modernen, geradlinigen Sprache kombiniert. Die Autorin folgt ihren Figuren einfühlsam, zeigt ihre Probleme und Konfliktsituationen, lässt sie Entscheidungen treffen, die von Zufällen zu möglichen Lösungen führen.

Fazit

Eine nachdenklicher, positiver Roman über aktuelle Probleme unserer Zeit, aber auch über Träume, Hoffnungen und Freundschaft. Eine Geschichte auch für alle, die ihre eigene Meinung und Standpunkte vielleicht überdenken wollen.

Lektionen in Dunkler Materie – Ursula Knoll

AutorUrsula Knoll
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 28. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten248
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650684

„Dunkle Materie ist für alles der Grund. Ein Zeug, von dem man nur weiß, dass es Schwerkraft ausübt, dass es viermal so viel davon gibt wie von sichtbarer Materie und dass es durch seine Gravitation wie ein Kitt die Strukturen im Universum zusammenhält.“ (Zitat Seite 51)

Inhalt

Während Katalin gerade auf der Raumstation ISS im Weltall unterwegs ist und mit der KI Simon diskutiert, sorgt ihre Zwillingsschwester Eszeter als Polizistin für Ordnung im Alltag von Wien und als Managerin ihres Hedgefonds auch im internationalen Dschungel der Finanzwelt. Die Umweltaktivistin Dr. Milka Andrić ist Mitglied einer NGO und setzt sich für menschenwürdige Arbeitsbedingungen bei der Produktion von Lebensmitteln ein, denn für sie ist das Gegenteil von Armut nicht Reichtum, sondern Gerechtigkeit. Seit beinahe zwanzig Jahren teilt Milka eine WG mit Martin und Ines. Ines Geiger, die in der Asylbehörde Anträge prüft und dabei laufend von ihrem Vorgesetzten mit internen Weisungen unterbrochen wird, zusätzliche Schulungen, Nachschulungen, Formulierungshilfen für ablehnende Bescheide. Fatima leitet einen Kindergarten, dessen Öffnungszeiten mit den Arbeitszeiten der seit ihrer Trennung von Katalin alleinerziehenden Mutter Heide unvereinbar sind – sie alle erkennen plötzlich, dass man immer etwas tun kann, und jede von ihnen trifft eine spontane Entscheidung.

Thema und Genre

Es ist ein Roman, der unterschiedliche Geschichten erzählt, mit einzelnen Situationen und Episoden als Auslöser für Veränderungen. Es geht um gesellschaftspolitische Probleme, Forschung, Wirtschaft, Finanzmärkte, doch auch um Themen wie zwischenmenschliche Beziehungen in ihren unterschiedlichen Formen, Freundschaft, Familie.

Charaktere

Im Zentrum dieses Romans stehen Frauen, jede auf ihre Weise individuell, mutig, zunächst der jeweiligen persönlichen Situation noch irgendwie angepasst, werden sie aktiv, als sie immer wieder an ihre Grenzen stoßen.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman spielt in Wien. Die Handlung greift viele brisante Themen unserer Zeit auf, konfrontiert die Protagonistinnen mit spontanen Konfliktsituationen und gibt ihnen Raum, Entscheidungen zu treffen, spontan und teilweise chaotisch. Nicht immer verlaufen die Ereignisse chronologisch und auch mögliche Beziehungen zwischen ihren Figuren deckt die Autorin nicht sofort auf, sondern lässt uns die Zusammenhänge erst nach und nach erkennen, manchmal treffen die Figuren unerwartet und zufällig aufeinander. Diese Geschichten sind keine Wohlfühllektüre, dennoch ist man ihnen und vor allem den einzelnen Protagonistinnen sofort verfallen, folgt ihrem Alltag, ihren Entscheidungen. Denn die Autorin schreibt engagiert, direkt, aber auch mit viel Einfühlungsvermögen und Humor. Es ist diese schwer zu beschreibende Mischung, die diesen Roman lesenswert und empfehlenswert macht.

Fazit

„Was also sollten sie mit diesem bisschen ungebetenen Glücks namens Leben in Zukunft anstellen?“ (Zitat Seite 247). Das Leben stellt unterschiedliche Anforderungen an die modernen Frauen in diesem Roman, doch sie haben eines gemeinsam: sie wollen etwas verändern, im persönlichen Umfeld, aber auch im großen Ganzen.

Die Schrecken des Eises und der Finsternis – Christoph Ransmayr

AutorChristoph Ransmayr
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 1. Januar 1987
FormatTaschenbuch
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3596254194

„Tatsächlich aufmerksam wurde ich auf Mazzini erst, nachdem er im Eis verschwunden war. Denn das Rätselhafte und Beklemmende an diesem Verschwinden begann seine Existenz rückwirkend und in einem Ausmaß zu durchdringen, daß allmählich alles, was dieser Mann getan und womit er sich beschäftigt hatte, rätselhaft und beklemmend wurde.“ (Zitat Seite 24, 25)

Inhalt

Anfang Juli 1872 erreicht die  „Admiral Tegetthoff“ Tromsø, von wo aus sie am 14. Juli 1872 die Segel Richtung Nowaja Semlja setzt. Damit beginnt die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition unter dem Kommando von Carl Weyprecht und Julius Payer, deren Ziel die Entdeckung und Erforschung bisher unbekannter Gebiete der Arktis ist. Bereits am 30. Juli friert die Tegetthoff zum ersten Mal im Eis fest, denn in diesem Jahr 1872 breiten sich die Treibeisfelder sehr früh und wesentlich weiter südlich aus, als erwartet. Der Mannschaft der Admiral Tegetthoff stehen Monate voller Gefahren, unvorstellbarer Kälte, Entbehrungen und die endlose Dunkelheit der langen arktischen Wintermonate bevor.

Mehr als einhundert Jahre später entdeckt Josef Mazzini in einer Wiener Buchhandlung den Expeditionsbericht aus dem Jahr 1876, verfasst von Julius Ritter von Payer. Er ist sofort fasziniert und sammelt alle Unterlagen über diese abenteuerliche Entdeckungsreise. Am 26. Juli 1981 beginnt Mazzini seine eigene Reise an Bord eines norwegischen Forschungsschiffes mit dem Ziel, den Spuren der österreichisch-ungarischen Eismeerfahrt zu folgen.

Thema und Genre

In diesem facettenreichen Abenteuerroman geht es um die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition, die wichtige Erkenntnisse auf dem Gebiet der Polarforschung erbrachte.

Charaktere

Die bekannten Teilnehmer der Expedition sprechen durch ihre Aufzeichnungen zu uns. Ihre Beweggründe, ihre Ängste und Gefühle werden vom Autor im Laufe der Handlung sprachlich umgesetzt und verdichtet, ebenso wie der Charakter und das Verhalten der fiktiven Figur Josef Mazzini.

Handlung und Schreibstil

Der Autor mischt Ausschnitte aus den vorhandenen Aufzeichnungen der Ereignisse in Logbüchern, Tagebüchern, Handschriften und Briefen und dem von Julius Payer später selbst verfassten Buch mit fiktiven Erzählelementen, welche diese Fakten ergänzen und sie sprachlich bildintensiv und beeindruckend darstellen. Parallel dazu lernen wir den 1948 in Triest geborenen, in Wien lebenden Josef Mazzini kennen, der immer mehr in den Bann dieser Expedition gerät und sich 1981 selbst auf den Weg macht, um diese Reise nachzuvollziehen. Die Erlebnisse dieser fiktiven Figur bilden einen zweiten Handlungsstrang, der abwechselnd zu der Handlung aus den Jahren 1872-1874 geschildert wird, wobei die einzelnen Ereignisse jeweils im Zeitablauf chronologisch  erzählt werden. Das Buch enthält auch ein Verzeichnis der Mannschaft und viele ganzseitige Abbildungen aus dem Originalwerk von 1876.

Fazit

Ein facettenreicher, interessanter Abenteuerroman, der durch die sprachliche Umsetzung und die gewählten Erzählformen packend zu lesen ist und durch Vielseitigkeit und Spannung überzeugt.

Violeta – Isabel Allende

AutorIsabel Allende
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 18. Juli 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinSvenja Becker
ISBN-13978-3518430163

„Verteidige deine Unabhängigkeit, lass nicht zu, dass jemand anders für dich entscheidet. Du musst lernen, alleine klarzukommen.“ (Zitat Seite 127)

Inhalt

Am Ende eines langen, nicht immer einfachen, aber in allen Facetten sehr intensiv gelebten Lebens, schreibt Violeta del Valle ihr Leben für ihren Enkel Camilo auf, chronologisch, als Ergänzung zu ihren zahlreichen spontanen und emotionalen Briefen an Camilo. 1920 während der Pandemie geboren, damals war es die Spanische Grippe, wird ihr Leben in diesen Tagen des Jahres 2020 enden, wieder während einer Pandemie, wie sie es selbst formuliert, diesmal ist es Corona. Violeta hat fünf ältere Brüder und als Jüngste und vom Vater ersehntes Mädchen wird sie während ihrer ersten Lebensjahre nicht nur vom Vater, sondern auch von den ebenfalls im Haushalt lebenden Tanten Pía und Pilar verwöhnt. Violeta ist eigenwillig, wild und störrisch, bis Miss Taylor als englisches Kindermädchen in die Familie kommt, mit der Violeta eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Josephine Taylor fördert ihre Wissbegierde, setzt ihr Grenzen, ohne jedoch ihren widerspenstigen Charakter einzuengen und bestätigt sie in ihrem Wunsch nach Freiheit und Eigenständigkeit, die Violetas späteres Leben prägen werden.

Thema und Genre

Dieses Familien- und Generationenepos ist gleichzeitig ein Bericht über einhundert Jahre der wechselvollen Geschichte Südamerikas mit Schwerpunkt Chile.

Charaktere

Im Laufe der Jahre begegnen wir unterschiedlichen Mitgliedern der Familie del Valle und ihren Freunden. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Violeta del Valle, eigenwillig, unangepasst, leidenschaftlich. Eine starke, gemeinsam mit ihrem ältesten Bruder auch geschäftlich sehr erfolgreiche Frau, die in ihren Aufzeichnungen auch offen über ihre Fehler, Schwächen und Zweifel schreibt.

Handlung und Schreibstil

Violeta verfasst diese Geschichte ihres Lebens für ihren Enkel Camilo und tut dies als Ich-Erzählerin. Daher schwingen in allen Schilderungen ihre persönlichen Gefühle mit, auch  dann, wenn sie über die wichtigen gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen dieser langen Zeitperiode schreibt, besonders über die auch für die Familie gefährliche Zeit der Diktatur, wo jeder Schritt und jedes Wort genau beobachtet wurden. Die Handlung wird chronologisch geschildert, mit einigen erklärenden Erinnerungen und ist in übergeordnete Kapitel eingeteilt, die jeweils zwanzig Jahre umfassen. Zusammen mit den besonders prägenden Erlebnissen, die immer auch mit jenen wichtigen Frauen und Männern verbunden sind, die sie über viele Jahre ihres Lebens begleitet haben, ergibt dies ein großartig zu lesendes Generationenepos, von der ersten bis zur letzten Seite interessant, spannend und überzeugend.

Fazit

Die Bücher der Schriftstellerin Isabel Allende haben eines gemeinsam: von der ersten Seite an folgt man gebannt der Geschichte ihrer Figuren, nicht gewillt, die Lektüre zu unterbrechen, bevor man den letzten Satz gelesen hat. Andererseits möchte man innehalten und wünscht sich, das Buch möge nicht so rasch zu Ende sein – doch dies ist mir auch diesmal nicht gelungen, einmal begonnen, konnte ich diesen packenden, vielschichtigen Roman nicht aus der Hand legen.

Im Atlas – Andreas Jungwirth

AutorAndreas Jungwirth
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 28. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten296
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650677

„Im Laufe einer jeden Reise, gegen Ende hin, gibt es diesen Moment, wo alles, was David in einem Land erlebt hatte, in eine zeitliche Ferne gerückt scheint, sich weit in der Vergangenheit abgespielt hat, obwohl er sich noch in diesem Land befindet.“ (Zitat Seite 266)

Inhalt

David ist Bühnenbildner, sein Freund Stefan ist studierter Betriebswirtschaftler. Beide sind beruflich eingespannt, doch Anfang Oktober ist es so weit, acht Tage Marokko, von Marrakesch aus weiter in Richtung Süden. Stefan hat alles organisiert, inklusive Mietwagen und Fahrer. Obwohl am Tag vor Beginn ihrer Reise über die Ermordung von zwei jungen Touristinnen nahe Imhil berichtet wird, überredet David Stefan, die Reise nicht abzusagen. Rasch kommt es zu Spannungen, sie halten es für besser, in einem Land wie Marokko ihre Beziehung zu verheimlichen, aber ihren Fahrer Kalifa können sie mit ihren Geschichten nicht täuschen, doch ist das überhaupt wichtig? Es zeigt sich, dass im Hintergrund ihrer gemeinsamen Reise die Frage, ob und wie es mit ihnen beiden weitergehen soll, immer präsent ist. Als David ausgerechnet nach Imhil will, um mehr über die Hintergründe der beiden Morde zu erfahren, verschwindet ihr Fahrer samt Auto, und David und Stefan sind auf sich alleine gestellt.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht eine Reise durch Teile Marokkos, doch dieser Roadtrip ist nur der vordergründige Rahmen für eine Reise in die jeweils eigene Vergangenheit von David und Stefan, es geht um Geheimnisse, Ehrlichkeit in einer Beziehung und den Mut, den Partner wirklich in das eigene Leben zu lassen.

Charaktere

David ist sechsundvierzig Jahre alt und hat bisher länger dauernde Beziehungen vermieden, hat immer für eine rasche Trennung gesorgt. Als Künstler hofft er immer noch auf den großen Durchbruch. Stefan ist ein Jahr älter, er ist der organisierte, erfolgreiche Geschäftsmann, provoziert David auch rhetorisch bewusst, fordert ihn heraus, endlich ehrlich Stellung zu beziehen.

Handlung und Schreibstil

Der Erzähler schildert diese Tage chronologisch, ergänzt durch Rückblenden in Form von Erinnerungen an prägende Ereignisse. Er berichtet personal, wird aber einige Male in seinen Andeutungen auch allwissend, was das Lesen abwechslungsreich, intensiv und interessant macht. Im Mittelpunkt der Geschichte steht David, wir kennen seine Gedanken und Gefühle, seine Hoffnungen als Künstler, durch ihn erhalten wir Einblick in die Welt des Theaters, das Erarbeiten einer neuen Inszenierung, während wir von Stefan nicht mehr wissen, als David von ihm erfährt. Die Gedanken, die Stefan vor David geheim hält, kennen auch wir nicht. Mit jedem Tag dieser Reise lesen wir lebhafte Beschreibungen der Schönheiten und Eigenheiten des Landes Marokko, seiner Menschen, Landschaften und Natur. Andererseits tauchen wir immer weiter in die Hintergründe dieser noch relativ jungen Beziehung ein und verfolgen gespannt Seite um Seite nicht nur die abenteuerlichen Erlebnisse von David und Stefan, sondern fragen uns, ob die Erfahrungen dieser acht Tage sie verändern werden.

Fazit

Ein Roman mit vielen Facetten, die Schilderung einer Reise durch Marokko, ein Roadtrip, das Reisen aber auch als Metapher für die Wege in eine Beziehung und zu den Möglichkeiten, welche die Zukunft bietet, wenn man bereit ist, Entscheidungen zu treffen.

Das Glück im Großen und Ganzen – Teresa Kirchengast

AutorTeresa Kirchengast
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 30. Mai 2022
FormatBroschiert
Seiten200
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650707

„Sie war sich nur noch nicht sicher, wie interessant sie ihr Leben überhaupt haben wollte. Oder ob es ihr nicht besser ginge in einem Leben des Mittelmaßes mit den Extremen am Rand und freier Sicht auf einen unaufgeregten Alltag.“ (Zitat Seite 22)

Inhalt

Die drei Frauen Molly, Anke und Marie teilen sich eine Wohnung und staunen immer wieder, wie gut sie einander verstehen, obwohl sie so unterschiedlich sind. Sie sind Mitte zwanzig und dieser Sommer hat es in sich. Es gibt viel zu besprechen an den Sommerabenden auf dem Balkon mit der schönen Aussicht, auf den gerade drei Sessel passen und natürlich Himbeerkracherl für alle. Molly verliebt sich, zum ersten Mal in ihrem Leben bedingungslos, doch da gibt es ein Problem. Anke dagegen versucht, sich aus ihrer Beziehung zu lösen und Marie könnte sich verlieben, muss aber erst herausfinden, ob sie das überhaupt will. Es ist der Sommer der Fragen des Lebens. Würden sie Antworten finden, zum Beispiel auf die Frage, ob sie sich selbst als glückliche Menschen bezeichnen würden?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die vielen Facetten von Beziehungen, Freundschaft, Familie, aber auch um gesellschaftskritische Themen wie Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen.

Charaktere

Molly, aus einer Professorenfamilie stammend, liebt ihren Beruf als Schusterin, ist resolut, eigenwillig und meistens fröhlich und positiv. Anke arbeitet als Konditorin und Bäckerin, ist eher zurückhaltend. Marie studiert Kunstgeschichte, schreibt an ihrer Magisterarbeit über österreichische Schimpfwörter und macht sich sehr viele Gedanken, über alle und alles.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung spielt während eines Sommers und wird chronologisch erzählt. Geschildert wird der Alltag der drei Hauptfiguren und ihre unterschiedlichen Erlebnisse, ergänzt durch die Schilderung der gemeinsamen Abende und teilweise Wochenenden und durch Erinnerungen, die sie einander erzählen. Es ist die Geschichte einer Frauengeneration von heute im Wissen um die Probleme der aktuellen Zeit, teilweise noch auf der Suche, wie sie sich ihr Leben vorstellen, aber auch mutig, sich auf Erfahrungen einzulassen. Die Sprache ist modern, locker und angenehm zu lesen, passt in die Welt der Mitte-Zwanzigjährigen und durch das besondere Thema der Abschlussarbeit von Marie fließen originelle Wortkreationen locker in die Handlung ein.

Fazit

Eine entspannte Sommergeschichte zwischen nachdenklich und humorvoll, mit drei sehr sympathischen Protagonistinnen, mit denen man gerne befreundet sein würde.

Quatre-Bras – Michael Kanofsky

AutorMichael Kanofsky
Verlag Verlag duotincta GbR
Erscheinungsdatum 7. Juli 2022
FormatBroschiert
Seiten221
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3946086710

„Bringen Sie erst das zu Ende, was Sie begonnen haben, bleiben Sie dabei, und nur dabei, vor allem dann, wenn Sie glauben, zwischen den Worten und Sätzen festzustecken und nicht weiterzukommen und sich fragen, welchen Sinn es hat, Tag und Nacht in die Schreibmaschine zu hacken.“ (Zitat Seite 17)

Inhalt

Es war in diesem besonderen Sommer, als der Ich-Erzähler, wir kennen seinen Namen nicht, damals noch Student der Literaturwissenschaften in München, seine Sommersemesterferien in Paris verbrachte. Schreibend, schon damals mit dem brennenden Wunsch, Schriftsteller zu werden. In einer Buchhandlung erkennt er plötzlich sein großes Vorbild, den Schriftsteller Julio Cortazár und sie kommen ins Gespräch. Dies ist der Beginn einer jahrelangen Freundschaft. Angeregt durch die Gespräche mit dem erfahrenen Schriftsteller wächst im Ich-Erzähler die Idee, eine literarische Biografie über seinen ehemaligen Schulfreund, den erfolgreichen deutsch-brasilianischen Milliardär Antonio-Luiz Kleber zu schreiben.

Thema und Genre

Dieser Roman, der zweite Teil der Packeis-Trilogie, ist fiktiv, obwohl einige der handelnden Figuren real sind. Auch die Schilderungen aus dem Leben eines Schriftstellers, den täglichen Schreibprozess und die Tage, eingeschlossen zwischen Bergen von unbeschriebenen weißen Seiten, daher auch der Titel „Im Packeis“, zeigt einen deutlichen Bezug zum realen Leben des Autors.

Charaktere

Es sind sehr unterschiedliche Hauptfiguren, denen wir in diesem Roman begegnen. Den namenlosen Schriftsteller verbindet eine Jugendfreundschaft und Erinnerungen an diese unbeschwerte Zeit mit dem äußerst erfolgreichen Geschäftsmann Antonio-Luiz Kleber und andererseits eine Freundschaft mit dem berühmten, älteren Schriftsteller, der auch sein Mentor ist. Mir war Julio Cortázar bisher überhaupt kein Begriff, doch nun wurde ich neugierig auf sein Werk.

Handlung und Schreibstil

Quatre-Bras, ein Ort, wo sich vier Wege in vier unterschiedliche Richtungen kreuzen und die Entscheidungen getroffen werden, welcher Richtung man folgen wird. Wer den ersten Teil der Trilogie kennt weiß, dass man bei Michael Kanofsky keine einfache, chronologisch fortlaufende Handlung erwarten sollte. Auch diesmal entführt uns der Autor in Städte wie Berlin, München, Brüssel, Paris, in die Bretagne und zurück, dann sogar in die schillernde Weltstadt Rio de Janeiro. So folgen wir dem herrlich schrägen namenlosen Ich-Erzähler auf seinen Gedankenspaziergängen zurück in die Vergangenheit und sehen ihm an seinem aktuellen Schreibplatz in Berlin über die Schulter. Wie es nach dem Abitur, als sich ihre Wege trennten, mit seinem Freund Antonio-Luiz weiterging, erzählt ihm dieser während des Treffens in Rio. Dazwischen die phantastischen Ideenflüge und Gedankensprünge des Ich-Erzählers, die für Schmunzeln und Überraschungen sorgen, ebenso wie die lebhafte Sprache, die ebenfalls zwischen vielen Ausdrucksvarianten wechselt. „Wichtig ist, wie du erzählst. Du bist ein Maler: deine Leinwand ist das leere Blatt Papier vor dir. Du schafft eine Welt, die vorher nicht da war.“ (Zitat Seite 157)

Fazit

Eine ungewöhnliche Geschichte zwischen Coming-of-Age, Road-Trip, Literatur und Schreiballtag. Auch dieser zweite Teil der Packeis-Trilogie ist Lesevergnügen und macht schon jetzt Vorfreude auf den dritten Teil.

Die Lüge – Mikita Franko

AutorMikita Franko
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 3. Mai 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten384
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMaria Rajer
ISBN-13978-3455013672

„Und obwohl wir einer normalen Familie immer ähnlicher wurden, beschlich mich das Gefühl, dass irgend etwas nicht stimmte.“ (Zitat Pos. 324)

Inhalt

Mikita, doch alle nennen ihn Miki, ist fünf Jahre alt, als seine Mutter stirbt. Sein Onkel Slawa, der Bruder seiner Mutter, ist nur sechzehn Jahre älter als Miki. Er war schon immer wie ein großer Bruder für ihn und nimmt Miki jetzt auf. Doch Slawa lebt nicht allein, er lebt mit dem Arzt Lew zusammen. So hat Miki eine neue Familie, ohne Mutter, dafür mit zwei Vätern und das darf niemand wissen. Je älter Miki wird, desto mehr bedrückt ihn die Situation und dazu kommen noch seine eigenen Gefühle, die ihn in Verwirrung stürzen. Sein Leben ist plötzlich ein wütendes Chaos und er erkennt sich selbst nicht mehr. Was ist nur mit ihm los?

Thema und Genre

In diesem modernen Coming-of-Age- und Gesellschaftsroman, der in Russland spielt, geht es um Freundschaft, Familie, Verständnis, Pubertät, Psychologie. Themen sind alle Facetten von Liebe und unterschiedliche Beziehungsformen.

Charaktere

Mikita verbringt seine Kindheit und Jugend in einer Familie mit zwei Vätern. Zunächst fällt ihm das nicht auf, doch im Schulalter beginnen die mit dieser Situation verbundenen Lügen und Geheimnisse. Dies, in Verbindung mit den Problemen der Pubertät führen zu einem Gefühlschaos zwischen Depression und Aggression.

Handlung und Schreibstil

Mikita wächst mit zwei Vätern auf und erzählt als Ich-Erzähler. Die Handlung umfasst chronologisch und zeitnah die wichtigen Jahre der Kindheit und Jugend. Ergänzt werden die aktuellen Ereignisse durch Erinnerungen an einzelne, prägende Episoden der frühen Kinderjahre. Die Form des Ich-Erzählens lässt auch Raum für die Schilderung der intensiven Gefühle und Stimmungen, Konflikte und Probleme dieser speziellen Familienform in der unterdrückten Öffentlichkeit des konservativen Russland. Mikita ist ein sympathischer, ehrlicher Erzähler und die Geschichte ist nachvollziehbar. Die Sprache passt zum Alter des Ich-Erzählers und wir glauben ihm.

Fazit

Ein einfühlsamer Roman zu einem zeitlos aktuellen Thema, geschrieben in der erfrischend direkten, offenen Sprache eines jungen Ich-Erzählers. Eine trotz zahlreicher Konflikte und Probleme sehr positive Geschichte.

Es ist ein Mädchen – Camille Laurens

AutorCamille Laurens
Verlag dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
Erscheinungsdatum 18. Mai 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ÜbersetzungLis Künzli
ISBN-13978-3423290166

„Morgens nach der Dusche klatsche ich im schummrigen Neonlicht des Badezimmers meine Haare nach hinten, spanne meinen Kiefer an und dort, unter den buschigen Augenbrauen, mit nackter Haut, gleiche ich meinem Vater, in meinem Gesicht steckt ein Junge. Ich kann mich nicht entscheiden.“ (Zitat Seite 138)

Inhalt

Laurence wird 1959 in Rouen geboren, als zweite Tochter der Familie des Arztes Jean-Matthieu Barraqué. Eine große Enttäuschung für den Vater, der nach der ersten Tochter Claude mit einem Sohn gerechnet hatte. Die Kommentare der Familie und Bekannten „Ah, das ist doch auch gut“ hört Laurence natürlich noch nicht, aber ihre Kindheit und Jugend in dieser gutbürgerlichen Familie sind geprägt von den Vorschriften, wie sich Mädchen zu verhalten haben. Ihre Schwester Claude entflieht Rouen und der Familie sofort nach dem Abitur, sie geht nach Kanada, um nie mehr zurückzukommen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester kehrt Laurence nach Studium und Heirat nach Rouen zurück, da sie ihr erstes Kind erwartet – einen Sohn.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die vielen Formen von Misogynie, verdeckt oder offen, denen Frauen schon ab ihrer Geburt als Mädchen in der zweiten Hälfte des modernen zwanzigsten Jahrhunderts ausgesetzt waren und auch heute noch sind.

Charaktere

Laurence lernt rasch, was es bedeutet, ein Mädchen zu sein. Auch später, als erwachsene Frau, kann sie sich den Zwängen ihrer Erziehung und Gesellschaft kaum entziehen. Ich hatte eine stärkere Hauptfigur erwartet, die sich früher und bewusster zur Wehr setzt.

Handlung und Schreibstil

Die Autorin schildert am Beispiel eines Frauenlebens alle Facetten von Misogynie, Erziehung, Ungleichbehandlung, Rollenbildern, bis zu Unterdrückung, sexuellen Übergriffen und Gewalt, denen eine Frau von Geburt an ausgesetzt sein kann und ist. Durch diesen Fokus auf eine einzige Beispielfigur, Laurence, ergibt sich eine Fülle von erlebten Situationen und Ereignissen, deren Realität und Glaubwürdigkeit man während des Lesens zu hinterfragen beginnt. Vom Verlag werden die Romane von Camille Laurens als autofiktional eingestuft, doch für mich war es an manchen Stellen schwierig, zwischen Phantasien, Fiktion und möglicher, nachvollziehbarer Realität zu unterscheiden. Entsprechend positiv und interessant ist für mich daher der Wechsel zwischen den Erzählperspektiven, wenn die Ich-Erzählerin Laurence bei den Erinnerungen an besonders prägende Ereignisse auf Distanz zu sich selbst geht.

Fazit

Dieser Roman, oder eher eine dichte Beschreibung und Aufzählung der möglichen Diskriminierung von Frauen in Worten und Taten wurde und wird vor allem von Leserinnen mit zustimmender Begeisterung aufgenommen. Obwohl ich mir der Wichtigkeit dieses facettenreichen, zeitlos aktuellen Themas bewusst bin, wurde es für mich im Laufe der Geschichte too much, zu viel gewollt und damit zu konstruiert, um mich zu überzeugen. Dennoch ein lesenswertes Buch, das zum Nachdenken und Diskutieren anregt.

Stern 111 – Lutz Seiler

AutorLutz Seiler
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 2. März 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten528
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518429259

„Obwohl sein Leben hinter dem Bombenwäldchen in der Rykestraße 27 vielleicht schäbig und ärmlich aussah (das Matratzenfloß auf den kalten Dielen, ein toter Schwarzweißfernseher als Anlegestelle), hatte er das Wort Armut bisher nie gedacht. Und wenn schon: Ein armer Dichter zu sein, schien nicht verkehrt, wenn man ein Dichter war.“ (Zitat Seite 174)

Inhalt

Seine Eltern bitten Carl Bischoff, Student, sechsundzwanzig Jahre alt, nach Hause zu kommen, da sie mit ihm etwas besprechen wollen. Nach Hause, das ist Gera, gerade ist die Mauer gefallen und seine Eltern Walter und Inge, fünfzig und neunundvierzig Jahre alt, teilen ihm mit, dass sie weggehen. Er möge bitte auf die elterliche Wohnung aufpassen. Doch Carl kommt mit der Situation allein nicht zurecht und fährt nach Berlin. „Wie seine Eltern hatte er keine Adresse vor Augen gehabt, er war abgefahren ohne Ziel, nur mit irgendeiner Phantasie im Kopf, bei der man nicht wohnen konnte.“ (Zitat Seite 55). Er schließt sich einer Gruppe von Hausbesetzern an und bezieht selbst eine Wohnung in einem Abbruchhaus. Eine Werkbank, die jemand zurückgelassen hat, wird sein Schreibtisch. Dort verbringt er seine Zeit, schreibt an seinen Gedichten, hofft auf den Durchbruch, träumt davon, sein erstes eigenes Buch in Händen zu halten. Gleichzeitig hilft er mit, das Kellerlokal Assel als Treffpunkt, Kaffeekneipe auszubauen, als Asyl für die unterschiedlichsten Menschen, Außenseiter der Gesellschaft. Die Briefe seiner Mutter berichten ihm von der Reise seiner Eltern auf dem Weg zur Erfüllung eines jahrzehntealten Traumes.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Nachwendezeit in Deutschland, um viele Facetten von Zusammenhalt, Freundschaft und Liebe, um Hoffnungen, Chancen und Träume, aber auch um die mit den raschen Veränderungen verbundene Unsicherheit und Ängste.

Charaktere

Carl hat in diesen Jahren direkt nach dem Wendejahr 1989 sein eigenes Leben noch nicht entdeckt, zutiefst unsicher, zweifelt er an seinem Erfolg als Schriftsteller und die Angst vor Absagen blockiert ihn. Obwohl Carl mit Mitte Zwanzig zu diesem Zeitpunkt längst ein eigenes Leben führt, fühlt er sich als Kind, von seinen Eltern im Stich gelassen. Inge, seine Mutter ist dagegen flexibel, passt sich jeder Situation aktiv an, sie entscheidet operativ (eines ihrer Lieblingsworte), will endlich ihren und Walters Traum verwirklichen. Wir lernen in dieser Geschichte viele unterschiedliche Charaktere kennen und neugierig folgen wir ihnen, gespannt, wohin sie der Weg führen wird. Kurz treffen wir auch Ed und Kruso in Berlin wieder.

Handlung und Schreibstil

Es sind zwei Geschichten, die uns der Autor hier erzählt. Die erste, in deren Mittelpunkt Carl, ein angehender, junger Schriftsteller steht, spielt im gerade wieder vereinten Berlin, wo nicht nur die Menschen selbst, sondern auch die Stadt auf der Suche nach einem Weg aus dem Chaos in die Zukunft zu sein scheint. Die zweite Handlung erzählt von den Problemen und der schwierigen Situation jener Menschen, die Ostdeutschland sofort verlassen und im Westen auf einen Neubeginn hoffen.

Stern 111, der Titel, ist die Marke eines Kofferradios, das damals die erste Anschaffung der jungen Familie Bischoff gewesen ist und die Familie all die Jahre begleitet hat, ein Symbol ihrer Zusammengehörigkeit. Damals waren es die gemeinsam gehörte Musik und Meldungen, nun ersetzt durch die Berichte in den Briefen seiner Mutter. Die Ereignisse in der Gegenwart werden ergänzt durch Erinnerungen. Es sind einzelne Situationen oder Worte, die Carl zurück in seine Kindheit führen, nach Gera und in die Geborgenheit der Familie, die plötzlich im Jahr 1989 zu Ende ist. Als er in Berlin seine Liebe Effi wiedersieht und von einer gemeinsamen Zukunft träumt, ist es daher für Carl nicht einfach für sich selbst zu definieren, wie „zusammen sein“ funktioniert.

Faszinierend ist auch in diesem Roman die eindrückliche, aber gleichzeitig unglaublich leichte, lebhafte Erzählsprache des Autors.

Fazit

Der Autor ist ein großartiger Erzähler, der seinen Figuren auf ihrem Weg viel Freiraum lässt, man hat den Eindruck, er folgt ihnen nicht nur mit Empathie, sondern er ist selbst neugierig, wie und ob sie ihre Konflikte und Probleme lösen können, den eigenen Lebensweg entdecken. Ein ungewöhnlicher, packender Nachwende-Roman, den man mit Begeisterung liest.

Kleine Wunder um Mitternacht – Keigo Higashino

AutorKeigo Higashino
Verlag Limes Verlag
Erscheinungsdatum 13. April 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten416
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinAstrid Finke
ISBN-13978-3809027102

„Jedenfalls sind wir da in etwas Unglaubliches verwickelt. So eine Gelegenheit kriegt man nicht zweimal im Leben.“ (Zitat Seite 43)

Inhalt

Die drei Freunde Shota, Atsuya und Kohei sind in einem gestohlenen Auto unterwegs, als plötzlich die Batterie leer ist. Es ist zwei Uhr früh und Shota hat zuvor in der Nähe ein altes, leerstehendes Haus gesehen, wo sie sich verstecken können. Vor vielen Jahren war dieser Gemischtwarenladen als Kummerkasten bekannt. Wer am Abend einen Brief durch den Briefschlitz im Rollladen steckt, findet am Morgen eine Antwort im Milchkasten hinter dem Haus. Doch das können die jungen Einbrecher nicht wissen. Daher wundern sie sich zunächst, als plötzlich ein Briefumschlag durch den Briefschlitz geworfen wird. Nur ein Wort steht darauf „Mondhase“. Neugierig geworden, lesen sie den Brief und es wird für sie eine magische Nacht, in der mehr geschieht, als nur „kleine Wunder“.

Thema und Genre

Dieser Roman spielt in Japan. Es geht es Traditionen und Familie, um wichtige Entscheidungen und ihre Auswirkungen, um die manchmal eigenartigen Wege, die das Leben nimmt, nennt man es nun Zufall oder Schicksal.

Charaktere

Es sind unterschiedliche Charaktere, alte und junge, die uns in dieser Geschichte begegnen. Sie alle sind auf der Suche nach Antworten auf ihre kleinen und großen Fragen, von Schulnoten bis zu wichtigen Entscheidungen, die, einmal getroffen, das Leben verändern können.

Handlung und Schreibstil

Ausgehend von einer einzigen Nacht in der Gegenwart entwickelt sich eine magische Geschichte. Es sind klug und fein gesponnene Fäden, die sich langsam zu einem Ganzen mit überraschenden Zusammenhängen verbinden. Hier zeigt sich die Erfahrung des Autors von bekannten Kriminalromanen, denn auch in dieser völlig anderen Handlung geht es um Details und unvorhersehbare Wendungen. Die Sprache erzählt poetisch und in der Übersetzung bleiben die japanische Kultur und Denkweise erhalten.

Fazit

Eine poetische, einfühlsame Geschichte, die zum Nachdenken anregt und verzaubert.

Hundepark – Sofi Oksanen

AutorSofi Oksanen
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 13. Januar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten480
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinAngela Plöger
ISBN-13978-3462000115

„Wort für Wort schlug sie einen Stein nach dem anderen aus den Fundamenten meines sorgfältig aufgebauten Lebens. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass das geschehen würde.“ (Zitat Pos.233)

Inhalt

2006 ist Olenka als aufstrebendes Model in Paris gescheitert und sie lebt wieder bei Mutter und Tante in einem kleinen Dorf in der Oblast Mykolajiw im Süden der Ukraine. Sie fühlt sich verantwortlich und braucht Geld, um für die beiden Frauen zu sorgen. Durch Zufall entdeckt sie eine Anzeige und nach einem Vorstellungsgespräch erhält sie den Job. Sie macht rasch Karriere. Dann verliebt sie sich zur falschen Zeit in den falschen Mann. Sie muss untertauchen, beginnt in Helsinki ein neues Leben, doch 2016 holt sie ihre Vergangenheit ein und jetzt geht es um mehr, als nur um ihr eigenes Leben.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Ausbeutung junger Frauen aus ärmsten Verhältnissen, die auf eine bessere Zukunft hoffen. Skrupellose Organisationen im eigenen Land, hier geht es konkret um die Ukraine, werben die Frauen als Leihmütter und Eizellenspenderinnen für reiche kinderlose Ehepaare aus Ost und West an. Es sind  international tätige, weit verzweigte und sehr lukrative Geschäftszweige. Wichtige Themen sind Politik, Wirtschaft, Kinderwunsch und moderne Medizin, die ukrainische Mafia, die Familie, und prägende Ereignisse in der Vergangenheit.

Charaktere

Olenka ist zielstrebig, hartnäckig, übernimmt die Verantwortung, ihre Mutter und Tante zu unterstützen. In ihrer Tätigkeit muss sie skrupellos handeln, macht Fehler, trifft falsche Entscheidungen, doch man fühlt und hofft mit ihr. Es sind unterschiedliche Figuren, denen wir in diesem Roman begegnen, authentisch bis ins Detail, und ihre Handlungen sind nachvollziehbar.

Handlung und Schreibstil

Die aktuellen Ereignisse finden im Jahr 2016 statt und beginnen auf einer Parkbank in Helsinki. Geschildert werden sie von der Ich-Erzählerin Olenka. Gleichzeitig unterbricht Olenka diesen Handlungsstrang immer wieder und erzählt in Gedanken ihre eigene Geschichte, ihre Kindheit, die Geschichte ihrer Familie. Diese Abschnitte, ergänzt durch Schilderungen von besonders prägenden Erlebnissen und Situationen, verlaufen nicht chronologisch, sondern ergeben sich aus einem Stichwort, einer spontanen Erinnerung in der Gegenwart, die ihre Gedanken spontan zurück in die Vergangenheit führen, zu dem Mann, den sie immer noch liebt und auf dessen Verständnis sie immer noch hofft. Diese Art des Erzählens, die Stück um Stück, Detail um Detail mehr von den Zusammenhängen aufdeckt, garantiert in Verbindung mit den Themen eines Kriminalromans ein sehr spannenden Leseerlebnis. Die Autorin schreibt schonungslos und offen, klagt jedoch nicht an, sondern folgt ihren Figuren mit Empathie, die sich auf uns Lesende überträgt.

Fazit

Dieser Roman, erschienen im Jahr 2019, überzeugt durch fundierte, kenntnisreiche Einblicke in die Situation in der Ukraine und erhält durch die heutige Situation zusätzliche Aktualität. Eine besondere Form des Erzählens, authentische, nachvollziehbar handelnde Figuren, eine facettenreichen Sprache von poetisch, einfühlsam, bis rasant und packend, und brisante Themen ergeben eine eindringliche, sehr spannende Geschichte.

Mary Shelley: Freiheit und Liebe – Barbara Sichtermann

AutorBarbara Sichtermann
Verlag Osburg Verlag
Erscheinungsdatum 22. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten300
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3955102777

„Zu ihrer Liebe gehörten auch der Geist, die Lektüre und das Schreiben, gehörte die schaffende und interpretierende Arbeit an Texten, und damit sparten sie nicht.“ (Zitat Pos. 825)

Inhalt

1814 bricht Mary Godwin, erst sechzehn Jahre alt, mit ihrer großen Liebe, dem Dichter Percy Bysshe Shelley, heimlich nach Frankreich auf, obwohl dieser verheiratet ist. Ihre Stiefschwester Claire Clairmont begleitet die beiden auf ihren Reisen durch Europa. Es ist ein unruhiges Leben, oft geprägt von Geldsorgen, das diese beiden unangepassten, zutiefst dem liberalen Gedanken verbundenen Künstler führen. Den Sommer 1816 verbringen sie am Genfer See, in der Gesellschaft des damals schon berühmten Dichters Lord Byron, der dort für sich und den Schriftsteller und Arzt John Polidori die Villa Diodati gemietet hat. Es ist ein kalter, verregneter Sommer. Die dunklen, nur von Gewitterblitzen erhellten Abende in der Villa Diodati verbringen sie mit Diskussionen und dem gemeinsamen Lesen von Schauergeschichten. Dann hat Lord Byron die Idee zu einem Wettbewerb, wer von ihnen schreibt die beste Schauer- oder Gespenstergeschichte. So entstehen zwei Werke, welche Jahrhunderte prägen sollten: The Vampyre von John Polidori, ursprünglich Lord Byron zugeordnet und Frankenstein or The Modern Prometheus von Mary Shelley, anonym erschienen und ursprünglich Percy B. Shelley zugeordnet. 1822 stirbt Percy bei einem Segelunfall und Mary kehrt mit ihrem Sohn nach England zurück, wo sie sich bewusst entscheidet, als unabhängige Schriftstellerin vom Schreiben leben zu wollen.

Thema und Genre

Diese Romanbiografie schildert das Leben einer eigenwilligen, ihren Idealen verbundenen Frau. Beim Lesen sollte man immer vor Augen haben, wann diese Ereignisse stattgefunden haben, nämlich während der ersten zwanzig Jahre des 19. Jahrhunderts, und damit war sie ihrer Zeit weit voraus.

Charaktere

Die biografischen Daten und Quellenangaben zeigen die intensive Recherchearbeit der Autorin und ergeben so nachvollziehbare, authentische Darstellungen der einzelnen Personen, ihrer Handlungen und ihres Lebens.

Handlung und Schreibstil

Mary Godwin, geboren am 30. August 1797 in London, ist die Tochter des Philosophen William Godwin und der bekannten Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Mary Wollstonecraft. Ihre Mutter stirbt jedoch wenige Tage nach der Geburt und Marys Leben ist durch ihre strenge Stiefmutter oft schwierig, bis Mary auf den charmanten Freigeist Percy Bysshe Shelley trifft, einen Bewunderer ihres Vaters. Damit beginnt das turbulente, unabhängige, aber niemals einfache Leben der Schriftstellerin Mary Shelley. Diese Romanbiografie folgt ihrem Leben chronologisch, beschreibt auch die persönlichen Rückschläge durch tragische Verluste, Perioden, in denen sie nur das Schreiben und ihr Wille aus drohenden Depressionen ziehen. Auf Grund der genauen Daten, Originalzitate und Textauszüge, der umfangreichen Recherchen, Quellenangaben und Sekundärliteratur würde ich dieses Buch als Biografie, verfasst in einer sehr angenehm zu lesenden Romansprache beschreiben. Die Spannung liegt im Leben von Mary Shelley selbst, auch hier musste nicht fiktiv nachgeholfen werden.

Fazit

Eine sehr gut recherchierte Biografie, verfasst in der angenehm zu lesenden Sprache eines Romans. Mary Shelley war eine starke Frau, in ihren Ansichten ihrer Zeit weit voraus, und ihr Leben verlief in der Realität schon so packend und facettenreich, dass nichts hinzugedichtet werden muss, um alle Wünsche nach einer interessanten, spannenden Lektüre zu erfüllen.

Der Aufgang – Stefan Hertmans

AutorStefan Hertmans
Verlag Diogenes
Erscheinungsdatum 27. April 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten480
ÜbersetzungIra Wilhelm
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257071887

„Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends fiel mir ein Buch in die Hände, aus dem ich erfahren sollte, dass ich zwanzig Jahre im Haus eines ehemaligen Mitglieds der SS gewohnt hatte.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt

Im Spätsommer 1979 sieht Stefan Hertmans das Haus in Gent, im Stadtteil Patershol, zum ersten Mal. Es wirkt verwahrlost, feucht, stand schon längere Zeit leer. Dennoch lässt es den Autor nicht mehr los und er kauft es. Mehr als zwanzig Jahre später sieht er ein Buch, verfasst von Professor Adriaan Verhulst, Historiker, bei dem auch Hertmans studiert hatte. Er entdeckt, dass Adriaan Verhulst seine Kindheit in genau diesem Haus verbracht hatte. Dies weckt sein Interesse und er beschließt, die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner zu erzählen.

Thema und Genre

Dieser Roman ist die Geschichte eines Hauses in Verbindung mit der Geschichte jener Familie, die es viele Jahre lang bewohnt hat. Er basiert auf historischen Fakten, die sich aus umfangreichen Recherchen in Dokumenten, Büchern, den Tagebüchern von Mientje Verhulst und Gesprächen mit noch lebenden Zeitzeugen ergeben, ergänzt durch fiktive Elemente. Themen sind der politische Konflikt zwischen Flamen und Wallonen, die Besatzung Belgiens durch die Nationalsozialisten und die Zeit danach, aber auch Kindheitserinnerungen, Familie und Beziehungen.

Charaktere

Im Mittelpunkt der Geschichte steht das Leben von Willem Verhulst und seiner zweiten Ehefrau Harmina „Mientje“ Wilhers, die Eltern von Adriaan Verhulst.

Handlung und Schreibstil

Der Autor erzählt, berichtet, es ist ein Roman über Belgien, der auf genau recherchierten Erinnerungen von Zeitzeugen, noch lebenden Familienmitgliedern, aufbaut, in Verbindung mit der umfangreichen Dokumentation, die man dem Autor zur Verfügung stellt. Wo er in seinen umfangreichen Recherchen keine Aussagen und Unterlagen fand, erklärt er, dass dies heute niemand mehr weiß, lässt Lücken, statt diese Lücken durch fiktive Vermutungen zu schließen. Die Handlung ergänzt der Autor durch Anekdoten und seine persönlichen Erinnerungen. Wir folgen Menschen vom Beginn ihres Lebens bis zum Ende, gleichzeitig besichtigen wir das Haus, in dem die wichtigsten Ereignisse dieser Menschen stattfanden, mit dem Autor im Jahr 1979 in der entgegengesetzten Richtung. Vom Keller bis zum Dachboden betreten wir die einzelnen Räume, sehen sie jetzt und damals, als die Familie Verhulst das Haus mit Leben gefüllt hat. Der Aufgang, eine fließende Bewegung statt eines Spannungsbogens.

Fazit

„Vielleicht möchte man durch den Besuch eines Ortes der Erinnerung, selbst wenn diese nicht die eigene ist, den Lauf der Geschichte für einen Augenblick aufhalten.“ (Zitat Seite 186). Mit diesem interessanten Roman, der ruhig und sachlich der Geschichte dieser Familie folgt, gleichzeitig aber atmosphärisch dicht das Haus selbst während der ersten Besichtigung des Autors vor dem Kauf beschreibt, ist dem Autor dies gelungen.

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