Das mangelnde Licht – Nino Haratischwili

AutorNino Haratischwili
Verlag Frankfurter Verlagsanstalt
Erscheinungsdatum 25. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Hörbuch gelesen vonSimone Kabst
Seiten832
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3627002930

„Ich spürte, dass dieser Moment magisch war, und das nicht, weil etwas im eigentlichen Sinne Besonderes geschah, sondern weil wir in unserem Zusammenhalt eine unzerstörbare Kraft bildeten, eine Gemeinschaft, die vor keiner Herausforderung mehr zurückschrecken würde.“ (Zitat Seite 10)

Inhalt

Die Fotografie aus dem Jahr 1987 ist das einzige Bild, auf dem sie zusammen zu sehen sind, jung, voller Hoffnung auf die Zukunft. Es ist der Nachmittag vor ihrem großen Abenteuer, denn in der Nacht brechen sie durch ein Loch im Zaun in den Botanischen Garten ein. Damit ist die Freundschaft Dina, Keto, Ira und Nene, vier Mädchen aus dem Sololaki-Viertel, einem der buntesten Stadtteile von Tbilissi, endgültig besiegelt und die Lebensgeschichten scheinen untrennbar miteinander verbunden, bis Dinge passieren, die auch ihre Freundschaft zerstören. Erst 2019, viele Jahre später, treffen drei von ihnen in Brüssel wieder zusammen, als eine Retrospektive des fotografischen Gesamtwerkes von Dina eröffnet wird. Dina, die bekannte Fotografin, Ketos beste Freundin, fehlt. Sie ist tot, doch in ihren Bildern lebt sie weiter. Für Keto, Nene und Ira wird dieser Abend ein langer Weg zurück in die Vergangenheit, durch die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, an Dina, zurück zu den Ereignissen, die ihr Leben für immer geprägt haben, verbunden mit der wechselvollen Geschichte von Georgien. Zu viel ist geschehen, mit diesen Erinnerungen ist keine intakte Gegenwart möglich, oder doch?

Thema und Genre

Dieser Roman ist die Geschichte Georgiens in den politisch unsicheren Jahren der Umbrüche, Aufstände, Gewalt. Gleichzeitig ist es die Geschichte einer Generation, deren Leben durch diese Jugendjahre für immer geprägt wird. Themen sind Freundschaft, Träume und Liebe, aber auch Macht, Gewalt und Verlust. Es geht um traditionelle gesellschaftliche Strukturen, das Patriarchat der Vätergeneration, das von den Brüdern der vier Freundinnen in Bezug auf das Wertesystem übernommen wird, obwohl die jungen Männer selbst, zornig und selbstbewusst, aus genau diesem System ausbrechen wollen.

Charaktere

Dina war schon als Kind unangepasst und rebellisch, Ira dagegen vernünftig und pragmatisch, besorgt, die vorsichtige, romantische Nene zu beschützen. Keto, als Kind angepasst und zurückhaltend, war schon immer die ausgleichende Schlichterin zwischen Dinas Freiheitsdrang, Iras Vernunft und Nenes Träumereien. Die Autorin hat ein unglaubliches Einfühlungsvermögen für jede einzelne der zahlreichen Figuren, die in dieser Geschichte leben, für ihre Konflikte, Überzeugungen, Zweifel und Gefühle.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung beginnt im Jahr 1987 in Tbilissi, verläuft jedoch nicht chronologisch, sondern in Episoden, an die sich die Ich-Erzählerin Keto bei ihrem langsamen Rundgang durch die Austellung und beim Betrachten der einzelnen Fotografien erinnert. So erfahren wir die prägenden Erlebnisse und Ereignisse im Leben der vier Frauen, die, wie sie selbst feststellen, in den ersten fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens mehr erlebt haben, als die meisten Menschen nicht einmal in einem gesamten, langen Menschenleben. Der zweite Handlungsstrang umfasst diesen einen langen Abend in Brüssel im Jahr 2019 und verläuft chronologisch. Nino Haratischwili ist eine wunderbare Erzählerin mit einem offenen, genauen Blick auf die Geschichte ihres Geburtslandes Georgien, vor allem aber auf die Menschen. Besonders ihre Frauenfiguren sind, bei allen Zweifeln, starke Frauen, die in einem von männlicher Gewalt und Konflikten dominierten Umfeld in den späten Jahren des 20. Jahrhunderts ihren eigenen Weg gegen alle Widerstände gehen.

Fazit

Ein großartiger Roman, bewegend, episch, facettenreich und packend, auch die Sprache zieht uns sofort in den Bann der Geschichte und lässt uns nicht mehr los. Ich habe mit dem Hörbuch begonnen, dann jedoch auf Grund der eindrücklichen Sprache und Komplexität der Geschichte diese im Buch weitergelesen. So kann ich auch das Hörbuch empfehlen, gelesen von Simone Kabst, deren angenehme Stimme und einfühlsame, lebhafte Art zu lesen ebenfalls überzeugen.

Ins Unbekannte: Die Geschichte von Sabina und Fritz – Lukas Hartmann

AutorLukas Hartmann
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 28. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257072051

„Menschen sind und bleiben unterschiedlich. Man kann sie zu Gutem erziehen, aber nicht zurechtstutzen wie Nutzpflanzen.“ Zitat Seite 118)

Inhalt

Sabina Spielrein, eine junge Russin aus begüterten Verhältnissen, wird 1904 von ihren Eltern in eine psychiatrische Privatklinik in Zürich gebracht. Dort wird sie von Carl Gustav Jung, damals Oberarzt, behandelt. Er ermutigt sie, ihrem Wunsch zu folgen und Medizin zu studieren. Die Psychoanalyse wird ihr Fachgebiet. Der junge Schweizer Fritz Platten ist begabt und interessiert, er möchte lernen, aber die Armut seiner Eltern macht den Besuch des Gymnasiums unmöglich. 1918 ist er einer der Initiatoren des Schweizer Landesstreiks, kämpft für eine gerechtere Gesellschaft. Sabina gerät in eine Demonstration und für einige Augenblicke kreuzen sich zufällig ihre Wege. „Einer, der zuvorderst ging, fiel ihr besonders ins Auge. Er trug einen weit geschnittenen Mantel, sein ungewöhnlich langes Haar wehte im Wind.“ (Zitat Seite 117)

Thema und Genre

In diesem Roman mit einem realen geschichtlichen und biografischen Hintergrund geht es um die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit Schwerpunkt Russland und Schweiz. Es geht um Fortschritt, Forschung und den Beginn der Psychoanalyse, um Bindungen, Familie, um persönliche Ziele, Träume, Ideologien, Gewalt, Unterdrückung, Aufbruch und Scheitern.

Charaktere

Bis auf einen kurzen, zufälligen Augenblick kennen die beiden Persönlichkeiten, um deren Biografie es in diesem Roman geht, nicht. Sabina Spielrein, Russin, Ärztin, eine der ersten Frauen, die sich auf das Fachgebiet Psychoanalyse spezialisiert, in langjährigem Kontakt und Gedankenaustausch mit C.G. Jung und Siegmund Freud. Fritz Platten, Schweizer, Nationalrat, zunächst Sozialdemokrat, dann überzeugter Kommunist, Revolutionär. Zwei Persönlichkeiten mit Zukunftsvisionen, eigenwillig und unangepasst.

Handlung und Schreibstil

Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei konträre Lebensgeschichten, die der Autor abwechselnd erzählt. Während er dem Leben von Sabina Spielrein chronologisch folgt, schildert er die wichtigen Ereignisse und Stationen im Leben von Fritz Platten rückwirkend und nicht immer chronologisch, sondern je nach dessen jeweiligen Erinnerungen und gedanklichen Dialogen während der Nachtstunden seiner späten Lebensjahre. Die einzelnen Kapitel tragen als Überschrift die Ortsangabe und die Jahreszahl, wodurch die Zuordnung beim Lesen übersichtlich bleibt. Der ruhige Erzählstil nimmt sich Zeit und das Vernetzen der fiktiven Romanhandlung mit den biografischen Fakten wirkt logisch und gelingt wunderbar, ohne je konstruiert zu wirken. Der Autor nimmt sich Zeit für beide Persönlichkeiten, es sind nicht nur Ereignisse und Erfahrungen in deren Leben, sondern ebenso viel Raum nehmen ihre Entwicklung, ihre Gedanken, Überzeugungen, aber auch Zweifel und widersprüchliche Entscheidungen ein. So ergibt sich ein packendes, lebendiges Gesamtbild.

Fazit

Diese beiden Biografien zu lesen fand ich sehr spannend, dieses immer wiederkehrende Auseinandersetzen mit dem eigenen Lebensweg und den Entscheidungen, auch das Hinterfragen, ergibt für mich einen sehr vielseitigen Roman, interessant zu lesen. Gerade bei Romanen mit biografischem Hintergrund, mit Personen, die wirklich gelebt haben und deren Biografien man nachlesen kann, ist es nicht einfach, den richtigen und glaubhaften Weg zwischen Fakten und Fiktion zu finden, für mich ist es Lukas Hartmann perfekt gelungen.

Senf mit Safran: Deutschland für Anfänger – Kaveh Ahangar

AutorKaveh Ahangar
Verlag Kampenwand Verlag
Erscheinungsdatum 25. Oktober 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten148
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3986600747

„Ich war bereit, in die Freiheit zu fliegen. Ich war bereit, mich selbst und die neue Welt zu entdecken.“ (Zitat Seite 59)

Inhalt

 „Für mich beginnt mein Leben mit der ersten Erinnerung an den ausgehungerten, trockenen Boden unseres Gartens am Stadtrand von Abadan, im Südwesten des Iran.“ (Zitat Seite 11) Dieses Zitat ist ein Teil der Einleitung zum ersten Teil dieses Buches, in dem die Kindheitsjahre des Jungen in Iran geschildert werden. Wir lernen seine Familie und seinen besten Freund Kurosh kennen. Er erlebt den Sturz des Schahs mit, die Rückkehr von Ayatollah Khomeini und die damit verbundenen Veränderungen. Dann beginnt der erste Golfkrieg und seine Kindheit ist zu Ende. Mit seinem Vater flieht er über die Türkei nach Deutschland.

„Ich roch förmlich ihre Stärke in der disziplinierten Organisation. Wirtschaftlich standen die Deutschen ebenfalls ganz weit oben. Ein Industrieland, das mir alle Türen öffnete.“ (Zitat Seite 64). Dies sind die ersten Eindrücke, als der Junge mit seinem Vater in Frankfurt gelandet ist, neugierig und bereit für ein neues Leben in Deutschland. Doch so einfach ist es nicht, sein Vater muss bald darauf nach Iran zurückkehren, der Junge hat Glück, bekommt die Aufenthaltserlaubnis und eine verständnisvolle Gastfamilie. Es folgen Jahre, die geprägt sind von neuen Erfahrungen, Missverständnissen und der Suche nach der eigenen Balance zwischen den Kulturen.

Umsetzung

Die Geschichte dieses Jungen aus Iran wird in zwei großen Teilen erzählt, die in kurzen Kapiteln Alltagsepisoden zu vielen wichtigen Themen, Ereignissen und Erfahrungen schildern. Es geht um die dauernde Konfrontation mit völlig unbekannten Alltagsdingen, alles muss neu gelernt werden, es gibt viele verwirrende Situationen. Themen sind Schule, Unterricht, die deutsche Sprache, die gewaltigen kulturellen Unterschiede, Pubertät, Sexualität, Integration und die Erfahrungen, dass „Refugees Welcome“ manchmal nur schöne Worte sind, es geht um Einsamkeit, Freundschaft und die Liebe. Hinter allem die Frage nach der eigenen Identität und Heimat. Es sind wahre Geschichten, teilweise eigene Erfahrungen, Beobachtungen und Eindrücke, die in diesem Buch geschildert werden, teilweise Erlebnisse von Freunden und Bekannten, ebenfalls aus Iran. Die vielen unterschiedlichen Erfahrungen und manchmal durchaus lustigen Missverständnisse werden in tagebuchähnlichen Kapiteln erzählt, in einer klaren, schnörkellosen Sprache. So kommt dieses Buch mit relativ wenigen Seiten für einen so dichten, breit gefächerten Inhalt aus und lässt beim Lesen Platz für eigene Gedanken.

Fazit

Wer bin ich und wo ist meine Heimat? Um diese Frage geht es in diesem leisen, nachdenklichen Buch über einen Jungen, der im ersten Golfkrieg aus Iran nach Deutschland flüchtet, um hier ein neues Leben zu beginnen.

Lektionen – Ian McEwan

AutorIanMcEwan
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 28. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten720
SpracheDeutsch
ÜbersetzungBernhard Robben
ISBN-13978-3257072136

„Die Zeiten seiner wilden Reisen waren zwar vorbei, aber der Wunsch nach Abenteuern und einer unmöglichen Freiheit verdarb ihn immer noch für die Gegenwart, die doch die meisten Befriedigungen des Lebens bereithielt. Es war eine Frage der inneren Einstellung. Sein wahres Leben, das grenzenlose Leben, fand anderswo statt.“ (Zitat Seite 237)

Inhalt

Im Spätsommer 1959 kommt Roland Baines, elf Jahre alt, mit seinen Eltern aus Libyen nach England. Für ihn beginnt, dreitausend Kilometer von seinen Eltern entfernt, das Internatsleben. Die Erfahrungen dieser Jahre verändern sein ganzes weiteres Leben. Er hat viele Pläne, reist, vermeidet Bindungen. Doch dann trifft er Alissa, verliebt sich, heiratet. Wenige Monate nach der Geburt seines Sohnes Lawrence verlässt Alissa völlig überraschend ihn und das Baby. Er ist fassungslos, sucht nach Alissa, doch sie will nicht gefunden werden. Gleichzeitig bringt das Leben mit seinem Sohn auch Routine und Ordnung in sein eigenes Leben. Mit den Jahren beginnt er, über sein Leben nachzudenken, über wichtige Entscheidungen, die er getroffen hat und die Konsequenzen. „Die Vergangenheit war nicht mehr zu retten, aber die Gegenwart konnte er vor dem Vergessen bewahren.“ (Zitat Seite 477)

Thema und Genre

Dieser Roman schildert ein Menschenleben von der Kindheit bis ins Alter, die Ereignisse und Entscheidungen, gleichzeitig ist es ein zeitpolitischer Roman und ein Familien- und Generationenroman. Es geht um Lebenspläne, um das Leben als Schriftsteller, um Träume, Enttäuschungen, Beziehungen, Liebe, Fragen und die Suche nach dem Platz im eigenen Leben.

Charaktere

In jungen Jahren träumt Roland Baines von einem Leben in Freiheit, ohne Verpflichtungen. Auch nach der Zeit im Internat macht ihn dies ruhelos, voller Ideen, die er rasch wieder vergisst, nie zu Ende bringt. Er lässt sich durch sein Leben treiben, reagiert, aber agiert nicht. Die Charaktere und die Geschichten der Hauptfiguren enthüllen sich langsam, zunächst fehlen viele Details, doch  im Laufe der Handlung gewinnen wir immer mehr Einblicke in die Vergangenheit. Entscheidungen sind nachvollziehbar, erklärbar, auch wenn man selbst unterschiedlicher Meinung ist.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung schildert das Leben der Hauptfigur Roland Baines chronologisch über viele Jahre, Zeitsprünge sind durch die entsprechenden Jahreszahlen oder Altersangaben leicht zu erkennen. Doch dies ist nur eine Seite dieser facettenreichen Geschichte, denn einen wichtigen Teil machen seine Erinnerungen, Gedankengänge, Überlegungen aus und werden durch viele Gespräche zwischen den Hauptfiguren ergänzt. Die Geschichten der Elterngeneration ergeben sich zum Teil aus Tagebüchern und aus Erzählungen. Chronologisch ist jedoch nur Rolands Geschichte, alle diese ergänzenden Episoden tauchen plötzlich auf, wenn Roland sich daran erinnert, darüber nachdenkt, nach Antworten für sein Leben sucht. Diese Art des Erzählens, des Schilderns und die genauen Beobachtungen, so vielseitig wie die sprachliche Umsetzung, machen das Lesen dieses Romans zu einem packenden Erlebnis.

Fazit

Ein epischer Roman über das Leben, als Wienerin fällt mir der Songtitel „mei potschertes Leb’n“ ein, denn es ist kein einfaches Leben, das Roland führt. Held, Antiheld, gar kein Held, irgendwie doch ein Held, das alles in einer Figur. Gleichzeitig ein politisch-kritischer Roman über eine Generation, die den Fall der Mauer bereits im Erwachsenenalter erlebt hat, die damit verbundenen Hoffnungen, Erwartungen und dann in nur dreißig Jahren  erleben musste, dass immer mehr neue Mauern errichtet wurden und werden. Ich wollte mich während dieser Lesestunden mehrmals überreden, Roland Baines nicht zu mögen, sein Zaudern, seine Antriebslosigkeit – und doch ist es mir in keiner Minute gelungen, dieses Buch nicht großartig zu finden. „Es gab Strömungen, Handlungsstränge, Entwicklungen, die niemand hätte vorhersehen können, auf den nun verbrannten Seiten hatte er nicht einmal die entsprechenden Fragen gestellt.“ (Zitat Seite 696). Hier schreibt ein Autor, der nicht nur alle Facetten der Sprache kennt, sondern auch alle Facetten des Lebens.

Wo vielleicht das Leben wartet – Gusel Jachina

AutorGusel Jachina
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 18. August 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten591
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHelmut Ettinger
ISBN-13978-3351038984

„Die Jagd nach Seife, Verpflegung und Kohle für die Lok brachte nichts, doch Dejew hatte das wichtigste Gesetz des Jägers verstanden, Augen und Ohren stets weit offen zu halten.“ (Zitat Pos. 4387)

Inhalt

Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, der Aufstände und des Bürgerkrieges, verbunden mit Ernteausfällen und politischen Entscheidungen, führen in Russland zu einer katastrophalen Hungersnot, bei der Millionen Menschen sterben. Kinder landen in Kinderheimen und Sammelstellen. Fünfhundert dieser Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren soll der Zugführer Dejew von Kasan nach Samarkand bringen, unterstützt von der Kinderkommissarin Belaja. Den Auftrag erhält Dejew am 9. Oktober 1923, doch es gibt keinen Zug, so muss er zuerst eine Lokomotive und Waggons finden. Die Zeit drängt, sollen die Kinder eine Chance haben zu überleben. Die Strecke beträgt mehr als 4.000 Kilometer, die Reise wird mindestens vierzehn Tage dauern und er hat Verpflegung für genau drei, maximal vier Tage bekommen. Doch nicht nur das Essen fehlt, er braucht auch Kleidung, Medikamente für die Kinder, Kohle und Holz für die Lokomotive – es fehlt einfach alles. Doch Dejew, der ehemalige Soldat, der bisher nur Waren transportiert hat, ist fest entschlossen, die Kinder nach Samarkand zu bringen, durch den Bürgerkrieg und unwegsames Gelände, dorthin, wo es genug zu essen geben soll. Seine Ideen und sein persönlicher Einsatz sind waghalsig, kreativ und sehr gefährlich.

Thema und Genre

In diesem Roman mit geschichtlichem Hintergrund geht es um die Hungersnot in Russland in den 1920er Jahren, das Leben der Menschen, vor allem der Kinder. Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen, Obrigkeit, Mut, Zusammenhalt, Menschlichkeit und Liebe, aber auch um Bürgerkrieg, Gewalt und Vorurteile und auch um Schuld und Sühne.

Charaktere

Als ehemaliger Soldat ist der junge Dejew von seinen Erinnerungen traumatisiert. Er ist mutig, scheut keine Gefahren, verzweifelt, wütend und zornig, wenn es ihm nicht gelingt, die dringend notwendigen Dinge zu erhalten. Er beugt sich keiner Obrigkeit und seine beinahe Vorurteile bleiben auch dort bestehen, wo er auf Menschlichkeit trifft.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, in sieben großen Kapiteln, die als Überschrift jeweils die Anzahl der Menschen tragen, die im Mittelpunkt stehen, und dazu den betreffenden Teil der Strecke. Im Laufe der Handlung ergänzen Erinnerungen der einzelnen Figuren die aktuellen Ereignisse. Diese Vorgeschichten der Figuren zeigen jeweils die eigene Entwicklung, Vergangenheit, prägende Erlebnisse und erklären ihren Charakter näher, ihre Einstellung und Handlungen in der Hauptgeschichte. So wird Verhalten, über das man sich beim Lesen zuvor manchmal gewundert hat, erklärt und nachvollziehbar. Spannende Situationen wechseln ab mit Schilderungen von politischen Hintergründen, des Umfeldes und der Natur, die dieser Zug auf seiner langen Reise durchquert, sowie der Gedanken und Befindlichkeiten der einzelnen Hauptfiguren. Diese ausführlichen Schilderungen und die sich wiederholenden ähnlichen Beschreibungen des Zustandes der hungernden Kinder führen trotz der erschütternden Eindrücklichkeit zu Längen. Denn die Sprache spart nicht mit allen grausamen Details, um dann wieder extrem gefühlsbetont ins Schwülstige zu wechseln. Hier wäre meiner Meinung nach weniger mehr gewesen.

Fazit

Eine eindringlicher, beklemmender Roman, geschrieben gegen das Vergessen. Eine packende Geschichte, interessante Hauptfiguren und faktische Hintergründe, lebhafte, sprachgewaltige Schilderungen, obwohl ich mir gerade hier manchmal eine leisere Sprache gewünscht hätte, machen dieses Buch lesenswert.

Töchter Haitis – Marie Vieux-Chauvet

AutorMarie Vieux-Chauvet
NachwortKaiama L. Glover
Verlag Manesse Verlag
Erscheinungsdatum 28. September 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinNathalie Lemmens
ISBN-13978-3717525509

„Ich blickte ohne Widerstreben oder Abscheu auf mich, erkundete voll Inbrunst jene Seele, die zu mir gehörte, horchte auf den neuen Tonfall meines Denkens und verstand, was es damit auf sich hatte.“ (Zitat Seite 80)

Inhalt

Lotus Degrave hat durch ihren französischen Vater eine helle Hautfarbe und gehört damit Anfang der 1940er Jahre in Haiti zur elitären Gesellschaftsschicht. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter lebt sie allein in der von ihrer Mutter geerbten Villa in Port-au-Prince. Da allgemein bekannt ist, womit ihre Mutter ihr Geld verdient hat, wird Lotus von ihrer Gesellschaftsklasse ausgegrenzt. Andererseits wird sie von den Schwarzen auf Grund ihrer hellen Haut genau dieser verhassten, herrschenden Klasse zugeordnet. So lebt sie trotz der Feste, die sie in ihrer Villa gibt, ein einsames, isoliertes, gelangweiltes Leben. Dann lernt sie Georges Caprou kennen. Er ist der Anführer einer Gruppe von Männern, die sich gegen die Ungerechtigkeiten des herrschenden Regimes auflehnen und eine Revolution planen. Durch ihn sieht sie endlich die Armut, das Leid und das Elend der Menschen, das schon in der Nachbarschaft ihres großen Anwesens beginnt, und beschließt, sich zu ändern, selbst aktiv zu werden.

Thema und Genre

Dieser Roman der haitianischen Schriftstellerin Marie Vieux-Chauvet ist vielseitig, einerseits sozialkritischer Gesellschaftsroman, zeigt er in der Entwicklung der jungen Lotus auch Elemente des Coming-of-Age-, Familien- und Abenteuerromans. Es geht um die Situation der Frauen in den 1940er Jahren in Haiti. Zeitlos aktuelle Themen sind die Gesellschaftsstrukturen, die tiefen Gräben zwischen den Bevölkerungsschichten durch Hautfarbe und Abstammung, damit verbunden Unterdrückung, Armut, Hass und Gewalt, und die sich daraus ergebende brisante politische Situation.

Charaktere

Lotus ist eine junge Frau, die durch das strenge Klassendenken isoliert ist. Von ihrem Leben gelangweilt, oberflächlich und eingebildet, ändert sie sich, als sie die Armut und das Elend der Menschen um sich herum bewusst erkennt. Zunächst will sie vor allem Georges mit ihrer neuen Haltung beeindrucken. Nicht alles, was gut gemeint ist, ist auch gut durchdacht, immer wieder zweifelt sie an sich selbst, reagiert aufbrausend. „Die Erziehung einer Frau bereitet sie darauf vor, ihr Leben lang an sich zu zweifeln.“ (Zitat Seite 169)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird von Lotus selbst als Ich-Erzählerin geschildert. Die Handlung verläuft chronologisch und wird durch Erinnerungen ergänzt. Da die Autorin besonders auf die Situation der Frauen während dieser Zeit des Klassendenkens und der politischen Umbrüche eingehen will, erleben wir durch die gesamte Handlung auch die persönliche Entwicklung von Lotus Degrave mit, ihre Gedanken und ihre Selbstzweifel. Es sind diese inneren Monologe, in denen sie sich ausführlich mit ihren eigenen Befindlichkeiten und Gefühlen beschäftigt, welche die Sprache manchmal ausufernd, beinahe schwülstig, erscheinen lassen. Ich persönlich hätte daher die Geschichte lieber in einer personalen Erzählform gelesen. Andererseits ist es die Sprache der Zeit, in der dieser Roman geschrieben wurde, er ist 1954 erschienen. Besondere Ausdrücke im Text sind mit Fußnoten versehen und werden in den Anmerkungen am Buchende erklärt. Wichtig ist das Nachwort, welches mit einer kurzen Biografie der Schriftstellerin beginnt und dann die geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge näher erläutert und die Figur der Lotus in diesem Kontext betrachtet. Dies sind wissenswerte Ergänzungen, die auch dem besseren Verständnis für die Hintergründe und Anliegen dieses Romans dienen und Informationen über ein Land, über das ich bisher wenig wusste.

Fazit

Ein facettenreicher, eindrucksvoller Roman, der interessante und zeitlos aktuelle Einblicke in die Gesellschaftsstrukturen, die Stellung und das Leben der Frauen und die Politik des Inselstaates Haiti bietet.

Dschinns – Fatma Aydemir

AutorFatma Aydemir
Verlag Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsdatum 14. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3446269149

„Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“ (Zitat Seite 193)

Inhalt

In einer Woche wird Hüseyin Yılmaz sechzig Jahre alt und kann in Frührente gehen. Fast dreißig Jahre lang hat er in Deutschland gearbeitet und gespart, nun, 1999, hat er sich in Istanbul eine schöne, große Wohnung gekauft. Gerade sind die Möbel geliefert worden, sein Lebenstraum ist dabei, sich zu erfüllen, doch er kann ihn nicht mehr genießen. Dann an diesem ersten Tag in seiner neuen Wohnung erleidet er einen plötzlichen Herzinfarkt und stirbt. Ermine, seine Frau, und auch seine vier Kinder reisen aus Deutschland an und treffen in dieser Wohnung in Istanbul aufeinander und es ist nicht nur die Wohnung, die ihnen fremd ist. „Die Wohnung ist nur noch wie ein Museum, das Museum der Träume von Hüseyin Yilmaz. Und wer braucht schon Museen?“ (Zitat Seite 40)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Mitglieder einer Familie, die Eltern und vier Kinder. Sie alle haben unterschiedliche Wünsche und Träume und auch ihre Geheimnisse. Es geht um Kinder, heute erwachsen, die zwischen den Kulturen aufgewachsen sind. Gefangen in den Traditionen der Eltern, wollen sie in ihrer neuen Heimat Deutschland anerkannt werden und ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben leben.

Charaktere

Hüseyin ist in Deutschland verschlossen geworden und zeigt seine Gefühle nicht. Ermine ist durch ein Erlebnis während der ersten Jahre ihrer Ehe geprägt. Über Deutschland weiß sie auch nach Jahren nichts, sie kennt nur Schule, Kindergarten, den nahen Supermarkt und lebt weiterhin dem überlieferten Frauenbild ihrer Heimat entsprechend. So müssen Sevda, die älteste Tochter, Hakan, Peri und auch der erst fünfzehn Jahre alte Ümit versuchen, selbst ihren Weg zu finden und in ihren Sehnsüchten verstanden zu werden. „Der Tisch ist groß und rund, er erzählt von Plänen für gemeinsame Familienessen und Spieleabenden mit Okeysteinen. Also Dingen, die man in dieser Familie nie macht.“ (Zitat Seite 36)

Handlung und Schreibstil

Die Autorin erzählt die Geschichte einer Familie zwischen unterschiedlichen Träumen, Sehnsüchten, gegenseitigen Missverständnissen und Verletzungen, indem sie jeder Figur eine eigene Stimme gibt. Einer Art Prolog, Hüseyin in der neuen Wohnung in Istanbul, folgen fünf Abschnitte, einer für jedes Familienmitglied. So erfahren wir die detaillierten Lebensgeschichten jeder einzelnen Figur, ihre Eigenheiten, Ansichten, Probleme und mit jedem Kapitel öffnen sich weitere Einblicke in die Konflikte dieser Familie, deren Mitglieder einander teilweise zu fremd geworden sind, um einander noch zu verstehen. Gleichzeitig erfahren wir durch die unterschiedlichen Sichtweisen und Blickwinkel mit jedem Abschnitt mehr über die Hintergründe. Die Sprache erzählt einfühlsam, glaubhaft und authentisch, wechselt gekonnt zwischen Distanz und Nähe.

Fazit

Dieser Roman ist die Geschichte einer Familie zwischen den Kulturen, zwischen den traditionellen Werten der ländlichen Osttürkei und dem modernen Deutschland des Jahres 1999, wobei die Themen zeitlos sind. Jede der insgesamt sechs Figuren hat ihr eigenes Kapitel mit den persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Problemen, Geschichten die sich langsam zu einem Gesamtbild fügen. Diese besondere Art, von einer Familie zu erzählen, ist großartig, packend, lesenswert.

Nebenan – Kristine Bilkau

AutorKristine Bilkau
Verlag Luchterhand Literaturverlag
Erscheinungsdatum 8. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630875194

„Sie dreht sich um, betrachtet den Garten und fühlt sich auf einmal wieder beobachtet. Doch niemand ist zu sehen, das ist nur ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich hier an dieser Türe zu schaffen macht.“ (Zitat Seite 119)

Inhalt

Viele haben das Dorf am Nord-Ostsee-Kanal längst verlassen, auch die fünf Kilometer entfernte Kreisstadt zeigt zahlreiche Leerstände. Doch Julia fühlt sich sofort zu der Stadt mit ihren leeren Lokalen und Hinterhöfen hingezogen. Im Vorjahr hatten ihr Freund Chris und sie das alte Backsteinhaus in dem Dorf entdeckt, hergerichtet und sind aus der Großstadt hierhergezogen. Vor drei Monaten hat Julia ihren Keramikladen in der Kreisstadt eröffnet. Eines Tages kauft dort Astrid dort eine blaue Schale, für Marli, ihre Jugendfreundin. Astrid ist Ärztin, sie hofft, innerhalb dieses Jahres die Nachfolge für ihre Praxis lösen zu können, ihr Mann Andreas ist schon im Ruhestand. Astrids Tante Elsa, Mitte Achtzig, wohnt im Dorf im Haus neben Julia und so ist auch Astrid oft im Dorf. Anfang Januar fällt es Julia auf, dass sie die Familie Winter, die mit drei Kindern im Haus gegenüber wohnt, schon längere Zeit nicht mehr gesehen hat, sind sie noch nicht aus den Ferien zurück oder einfach ausgezogen? Astrid will einen Brief für Mona Winter abgeben, auch sie wundert sich. Doch außer Julia, Astrid, Elsa und einem Kind, das Julia im Garten des Hauses trifft, scheint sich niemand Gedanken über die verschwundene Familie zu machen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben in ländlichen Gegenden und vor allem um Dinge, die fehlen, verschwundene Nachbarn, fehlende Nachfolger, ein unerfüllter Kinderwunsch, Lücken in der eigenen Familiengeschichte, Alltagsprobleme, Konflikte und die Suche nach Antworten.

Charaktere

Julia mit ihrer Sehnsucht nach einem eigenen Kind, Astrid mit ihrem Wunsch nach einer Nachfolge für ihre Praxis und Elsa, die dabei ist, die Dinge ihres Lebens zu ordnen: es sind diese drei unterschiedlichen Frauen mit ihren Wünschen und Sorgen, die im Zentrum dieser Geschichte stehen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung beginnt im Winter, zu Beginn eines neuen Jahres und endet im Sommer. Sie wird ergänzt durch Erinnerungen und Gespräche, die Ereignisse aus der Vergangenheit erzählen. Abwechselnd steht entweder Julia oder Astrid im Mittelpunkt eines Kapitels. Zunächst begegnen sie einander, ohne sich zu kennen, Astrid kauft eine Schale, die Julia angefertigt hat, ohne zu wissen, dass Julia auch die Nachbarin von Elsa ist. Diese und weitere Begegnungen im Dorf und in der Kreisstadt verbindet die Autorin gekonnt zu einer gemeinsamen Geschichte, der Geschichte der Menschen, die schon immer hier gelebt haben und jener, die neu zugezogen sind. Die Sprache erzählt einfühlsam, lässt den Figuren Raum, ist nicht bemüht, auf jede Frage auch eine Antwort zu finden. Großartig sind die Schilderungen des Umfeldes, der Landschaft am Kanal, der das Dorf in einen Nord- und Südteil trennt, der alten Häuser und teilweise verwilderten Gärten, der Kreisstadt, der unterschiedlichen Stimmungen der Natur.

Fazit

Eine leise, einfühlsam und lebendig erzählte Geschichte über das Leben, über Lücken, Wünsche, Abschiede und Neubeginn. Ein Roman über den Alltag und die Themen unserer Gegenwart, der den Mut hat, Fragen für die eigenen Gedanken der Lesenden offen zu lassen, statt einfach Lösungen zu präsentieren, und dennoch positiv bleibt.

Dürrst – Simon Froehling

AutorSimon Froehling
Verlag Bilgerverlag
Erscheinungsdatum 1. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten266
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3037621004

„Als junger Erwachsener wolltest du dich als spontaner und chaotischer Mensch sehen, und es hat lange gedauert, bis du dir eingestehen konntest, dass du nur in der Routine aufblühst, dass du Alltagsrituale brauchst.“ (Zitat Seite 70)

Inhalt

Andreas Durrer, genannt „Dürrst“, verlässt mit sechzehn Jahren sein bürgerliches, gut situiertes Elternhaus und zieht in eine WG. Gleichzeitig schreibt er sich in den Vorkurs der Schule für Gestaltung ein. Sein erster großer Erfolg ist eine Installation, eine Nachbildung von „Giovanni’s Room. Inzwischen ist er achtunddreißig Jahre alt, hat einen Job in einem Museum, künstlerische Höhenflüge wechseln einander mit psychischen Sturzflügen ab. Nach Jahren der kurzen Abenteuer hält er sich für bereit, sich zu verlieben und eine Beziehung zu führen. Auch als Künstler will er wieder durchstarten, mit einem neuen Projekt an seine früheren Erfolge anschließen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um ein in allen Facetten intensiv gelebtes Leben. Themen sind die Kunst, die Kunstszene, die queere Szene, das breite Spektrum an zwischenmenschlichen Beziehungen.

Charaktere

Dürrst ist ein Künstler, dessen Leben zwischen Phasen extensiver Kreativität, Rastlosigkeit und völliger Antriebslosigkeit schwankt. Er ist immer noch auf der Suche nach Antworten auf die Frage, was er wirklich will vom Leben. Einerseits wünscht er sich eine echte Beziehung, gleichzeitig aber fühlt er sich eingeengt und auch die Angst, verlassen zu werden, ist immer präsent.

Handlung und Schreibstil

Der Autor wählt für diesen Roman eine eher seltene Erzählform, ein personaler Ich-Erzähler in der zweiten Person und durch dieses „du“ wird die gesamte Geschichte zum Monolog des Ich-Erzählers Andreas, genannt Dürrst. So wie die Gedanken sich nicht immer an chronologische Abläufe halten, wird auch diese Geschichte in Fragmenten erzählt, Erinnerungen, die er mit anderen teilt, über prägende Erlebnisse spricht, während seine Gedanken sich an wesentlich mehr erinnern, das er jedoch für sich behält, in seiner stillen Zwiesprache. Der chronologische Ablauf ist nur als ungefährer Rahmen, immer wieder unterteilt, zu erkennen. Diese besondere Erzählform, in Verbindung mit der eindringlichen, angenehm geradlinigen Sprache, führt zu einem ungemein intensiven, dichten Leseerlebnis, dieses „du“ zieht uns beim Lesen sofort wie ein starker Sog mitten in die Handlung, in das Geschehen. Wir sind Dürrst, fühlen mit ihm, sind wie sein Freundeskreis bei ihm, mit ihm unterwegs und sorgen uns um ihn in besonders rasanten, heftigen Phasen.

Fazit

Ein ungemein dichter, vielschichtiger Roman, eine Geschichte, rasant und direkt, einfühlsam, packend und mit einer besonderen Intensität von der ersten bis zur letzten Seite, die uns zunächst atemlos und sprachlos zurücklässt.

Die Erweiterung – Robert Menasse

AutorRobdert Menasse
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 10. Oktober 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten653
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518430804

„So geht Politik. Im Grunde ist Politik ein Spiel mit Kulissen, es ist wie im Theater: Vorne hast du symbolische Handlunge, dahinter die Technik.“ (Zitat Pos. 1276)

Inhalt

Begonnen hat alles mit dem Helm des Skanderbeg. Es ist ein ungewöhnlicher Helm mit einem Ziegenkopf auf dem Helmscheitel, zu sehen im Weltmuseum in Wien und ein Symbol für die Geschichte der Skipetaren in Europa. Der Ministerpräsident von Albanien hatte vor seiner Wahl versprochen, sich dafür einzusetzen, dass Albanien Mitglied der Europäischen Union wird. Nun sollen auf Grund der Weigerung Frankreichs nicht einmal die Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. Genau das ist der Moment, in dem Ismael Lani, sein Pressesprecher, den Ministerpräsidenten an Skanderbeg, ihren Nationalhelden, erinnert und Fate Vasa, Künstler und ebenfalls enger Berater des Ministerpräsidenten, die Idee aufnimmt und weiterführt. Albanien fordert die österreichische Regierung auf, den Helm zurückzugeben, was abgelehnt wird. Doch kurz darauf wird der Helm aus dem Museum in Wien gestohlen und rückt so in der Mittelpunkt der Ereignisse rund um die geplante Balkan-Konferenz über eine mögliche EU-Erweiterung.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Europa und die Europäische Union, um die Politik mit ihren Spielchen und Intrigen, aber auch um gesellschaftliche und persönliche Konflikte, Freundschaft, Familie, Beziehungen. Ein Kernthema ist die wechselvolle Geschichte des Westbalkans.

Charaktere

Auch in diesem Roman bringt der Autor seine unterschiedlichen Figuren auf den Weg, einige völlig unabhängig voneinander, andere gemeinsam, oder ihre Wege kreuzen sich im Laufe der Handlung. Mit charmant-bissiger Eleganz definiert er Charaktere, ihre Wünsche, Träume, oder den Verlust derselben. „Wir sind, sagte er, auf der Stelle tretend einen Schritt weiter.“ (Zitat Pos. 5861)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt während der Jahre 2019 und 2020 und wird ergänzt durch Rückblicke in Form von Erinnerungen und Erzählungen über Ereignisse, die in der Vergangenheit stattgefinden haben. Wir folgen den Hauptfiguren, die abwechselnd im Mittelpunkt der Handlung der einzelnen Kapitel stehen. Der Autor lässt sich Zeit, er schickt seine Figuren los, zeigt sie auch in ihrem persönlichen Umfeld, lässt uns an ihren Alltagsproblemen, Zweifeln und Sehnsüchten teilhaben, gleichzeitig führt er uns mit kritischem Witz durch die vielen Facetten der europäischen Politik. Doch der Schein trügt. Gerade hat man es sich noch im unterhaltsamen Lesevergnügen gemütlich gemacht, neugierig, mal schmunzelnd, mal nachdenklich, folgen wir den Entscheidungen und Wirrnissen der einzelnen Figuren, da wenden sich die Ereignisse und es beginnt ein rasanter Showdown.

Fazit

Was mit „Die Hauptstadt“ begann, wird mit diesem facettenreichen Roman, der auch sprachlich begeistert, genial und großartig weitergeführt.  

Quecksilberlicht – Thomas Stangl

AutorThomas Stangl
Verlag Matthes & Seitz Berlin
Erscheinungsdatum 18. August 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten267
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3751800846

„Wenn ich selbst erzählen müsste, warum ich mich an die Bücher und ans Lesen und später ans Schreiben angehängt habe, wie an etwas, das stärker, fester und lebendiger ist als ich, dann müsste ich wahrscheinlich mit meiner Großmutter oder meinen Großmüttern beginnen.“ (Zitat Pos. 555)

Inhalt

Es beginnt in einem Hinterhof eines Hauses in Wien Simmering, der schreibende Ich-Erzähler stellt sich einen Augenblick im Leben seiner damals dreizehn Jahre alten Großmutter vor, ein Ereignis, das ihr Leben für immer verändert hat. „Du schaust mich an, diese befremdliche Figur aus einer befremdlichen anderen Zeit. Ich muss mir einbilden, dass du mich anschaust, sonst würde es nicht funktionieren.“ (Zitat Pos. 51) Der Autor nimmt Episoden, Situationen aus dem Leben seiner Großmütter und seiner Familie, sowie aus dem Leben des ersten Kaisers von China, und verbindet diese Fragmente neu und beinahe beliebig mit Momenten aus dem Leben von berühmten englischen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, ordnet die Fragmente neu und bringt sie so alle wieder zurück ins Leben.  

Thema und Genre

Im Mittelpunkt stehen das Schreiben und die Literatur als Möglichkeiten des Erinnerns und des unsterblichen Weiterlebens nach dem Tod als Romanfiguren dort, wie die eigene Biografie mit Romanfiguren verknüpft wurde.

Charaktere

Der schreibende Ich-Erzähler stellt seine Frage, ob die Sprache die Wirklichkeit neu erfinden kann, in den Mittelpunkt seiner Geschichte. Zwischen die geschichtlichen Figuren, die er durch sein Schreiben wieder ins Leben gerufen hat, schreibt er immer wieder auch sich selbst. Er schreibt, er beobachtet die leeren Straßen während der Pandemie, holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

Handlung und Schreibstil

Es ist eine Geschichte über das Leben und den Tod, realistisch und philosophisch und immer von allen Seiten betrachtet. Chronologische Abläufe lassen sich in diesem Gefüge nur vage erkennen und entschlüsseln sich nur langsam. Einen Teil bildet die eigene Familiengeschichte in Kindheitserinnerungen, persönlichen Erfahrungen, erzählten Geschichten und auch den Auslassungen darin. Die Gedankenreise führt den schreibenden Ich-Erzähler und auch uns Lesende aber viel weiter, zurück in das Reich von Qin Shihuangdi, erster Kaiser von China, in das ländliche England des neunzehnten Jahrhunderts, zu den englischen Dichterinnen, die dort gelebt haben, in das London des neunzehnten Jahrhunderts und wieder zurück nach Wien, damals und heute. Auch die Sprache ist eine unruhige Reise durch diese wie Schnipsel in die Luft geworfenen, irgendwie wieder aufgefangenen und mit zufälliger Leichtigkeit aneinandergereihten Fragmente, die dann doch, erstaunlicherweise, ein stimmiges Ganzes ergeben.

Fazit

Quecksilberlicht, schon der Titel und das Buchcover bleiben beim Lesen in den Gedanken haften und aus diesem diffusen Licht treten die einzelnen Personen heraus, erzählen kurz aus ihrem Leben, teilen ihre Gedanken mit uns, verschwinden wieder, um dann mit immer neuen Details und Geschichten wieder aufzutauchen. Der Tod begleitet alle diese Fragmente, doch in der Literatur und nun auch in diesem Roman leben sie alle weiter. Für Lesende, die Geschichten mit klar definierten Erzählsträngen schätzen, ist dieser ungewöhnliche Roman vermutlich nicht die richtige Wahl. Wenn man jedoch bereit ist, die gewohnte Wohlfühlzone zu verlassen, so erlebt man mit diesem Buch facettenreiche, ungewohnte und fordernde Lesestunden.

Blutbuch – Kim de l’Horizon

AutorKim de l’Horizon
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 19. Juli 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832182083

„Aber das geht nicht, diese Ploterei, vorgetrampelte Pfade im Sand. Der Weg muss im Gehen entstehen.“ (Zitat Pos. 441)

Inhalt

Die Erzählfigur ist sechsundzwanzig Jahre alt, lebt in Zürich und schreibt an einem Brief an die an Demenz erkrankte Großmutter. Es geht darin auch um Dinge, über die nie geredet wurde, doch das ist nur ein kleiner Teil. Es geht um die bisherigen Lebenserinnerungen der Erzählfigur, doch auch das ist nur ein Teil, denn es geht auch um das Leben der Großmutter, um ein mögliches Füllen der Lücken in der Geschichte der Familie und es geht auch darum, den weiblichen Vorfahren im jahrhundertealten Stammbaum endlich eine Stimme zu geben. Dies alles fächert sich weit auf, wie die Äste der Blutbuche, jener Baum in Großmutters Garten, an den sich die Erzählfigur am besten erinnert.

Thema und Genre

Dieser autofiktionale Roman geht neue Wege, zeigt, wie ein Familien- und Generationenroman der Gegenwart aussehen kann. Die traditionellen Gesellschaftsstrukturen werden hinterfragt und aufgelöst. Es geht um die Suche nach dem „Ich“, welches nicht in die althergebrachten Normen „er“ oder „sie“ gepresst sein will, um das Ankommen im eigenen Körper und gleichzeitig ist es auch eine facettenreiche Suche nach neuen Möglichkeiten der sprachlichen Ausdrucksweise.

Charaktere

„Ich schreibe dir, weil: Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.“ (Zitat Pos. 331). Zu Beginn des Schreibens fühlt sich der Körper der nonbinären Erzählfigur wie eine Fremdsprache an, das Schreiben ist auch eine Suche nach der eigenen Körpersprache. Der natürliche Jahreslauf der Blutbuche aus Dastehen, Laub abwerfen, Ausharren, neues Laub bilden, Verwandeln, steht auch für den Weg der Erzählfigur.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung ist in fünf Teile gegliedert. Die Abschnitte des ersten Teils entstehen aus Kindheitserinnerungen an die Großmutter, im zweiten Teil sind es Erinnerungen an Ereignisse und Situationen in der Kindheit der Erzählfigur. Im vierten Teil gehen die Recherchen viele Generationen weit zurück. Die Mutter der Erzählfigur hat die weibliche Blutlinie des Familienstammbaumes genau recherchiert und mit den auffindbaren Lebensgeschichten ergänzt und die Erzählfigur beschäftigt sich mit diesen Aufzeichnungen. Die völlig andere Erzählsprache im dritten Teil dagegen bewegt wird atemlos, rasant, manchmal rauschhaft, hemmungslos, als Ausdruck der ebenso hemmungslosen sexuellen Erfahrungen und Träume der Erzählfigur. Der fünfte Teil schließlich wird poetisch, geschrieben in englischer Sprache und es zeigt sich wieder, wie wenig Worte diese Sprache benötigt, um deutlich und intensiv Gefühle und Beschreibungen von Situationen und Naturerfahrungen wiederzugeben, wo die deutsche Sprache sich immer wieder in langen Satzgebilden verhakt. Die Erzählfigur wächst in Ostermundigen bei Bern auf. Im bernerdeutschen Dialekt heißt Mutter Meer, angelehnt an das französische mère, die Großmutter daher Großmeer, und das wird auch so geschrieben. Wasser ist, neben der Blutbuche, ein immer wiederkehrendes Motiv in diesem Roman und so gleiten die einzelnen Fragmente und auch die Sprache voran wie die Wellen des Meeres.

Fazit

Dieser Roman der Gegenwartsliteratur fordert uns Lesende mit allen Sinnen, denn er öffnet sich wie eine Wundertüte, wir finden eine Familiengeschichte, eine Generationengeschichte, eine Coming-of-Age-Geschichte, eine Geschichte über Freundschaft und die manchmal leise, manchmal aufbrausend pulsierende, zornige Suche nach einer Ausdrucksform für das eigene Ich und den Platz im eigenen Körper. Gleichzeitig ist es ein Streifzug durch die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten literarischer Ausdrucksformen.

Die Mauersegler – Fernando Aramburu

AutorFernando Aramburu
Verlag Rowohlt Buchverlag
Erscheinungsdatum 13. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten832
SpracheDeutsch
ÜbersetzerWilli Zurbrüggen
ISBN-13978-3498003036

„Das ist die Frist, die ich mir gesetzt habe, um meine Angelegenheiten zu regeln und herauszufinden, warum ich nicht mehr weiterleben will. Ich hoffe, dass mein Entschluss unwiderruflich ist. Im Moment ist er das.“ (Zitat Seite 11)

Inhalt

Inhalt

Toni, vierundfünfzig Jahre alt, finanziell unabhängig, Philosophieprofessor an einem Gymnasium in Madrid, beschließt am 31. Juli 2018 sich in genau einem Jahr, in der Nacht vom 31. Juli zum 1. August 2019, das Leben zu nehmen. Warum genau ein Jahr, weiß er selbst nicht so genau, aber es ist das absolute Limit. Nur sein bester und auch einziger Freund weiß von seinem Vorsatz. Toni will dieses ihm noch verbleibende Jahr genau dokumentieren und schreibt täglich seine Erinnerungen an Kindheit und Familie, seine Gedanken, Beobachtungen und Ereignisse des jeweiligen Tages nieder. Sein immer gleicher Tagesablauf wird empfindlich gestört, als er eines Tages überraschend bei seiner Hunderunde mit seiner Hündin Pepa im Park den Hund Toni trifft und die Besitzerin des Hundes, Águeda, die Frau, die er vor siebenundzwanzig Jahren verlassen hatte. Obwohl er sofort seine gewohnten Wege meidet, begegnet ihm Águeda immer wieder. Beobachtet sie ihn etwa?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Erinnerungen, die Hoffnungen und Enttäuschungen, um die Freude am Leben und den Verlust der Lebensfreude, um Familie, Beziehungen, Freundschaft und das Älterwerden.

Charaktere

Alle Figuren dieses Romans haben eines gemeinsam, sie sind aus unterschiedlichen Gründen Außenseiter der Gesellschaft. Meiner Meinung nach sind sie zu klischeehaft dargestellt. Die attraktive, schöne Frau, fordernd, kalt, untreu, und als Gegensatz die unattraktive, ungepflegte, übergewichtige Frau, die sich einfühlsam um ihre Mitmenschen kümmert. Die Hauptfigur Toni wäre gerne ein Mauersegler, frei und immer hoch in den Lüften unterwegs, übersieht jedoch, dass Mauersegler nie allein fliegen, sondern immer in Gruppen, wo sie sich mit diesen typischen Sirr-Rufen verständigen. Toni dagegen wurde mit den Jahren zum Einzelgänger ohne Lebensfreude und sieht alle seine Mitmenschen sehr kritisch, manche Mitglieder seiner Familie hasst er sogar.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt am 1. August, dauert 365 Tage und jedes Kapitel entspricht einem Tag. Mit jedem Monatsbeginn trägt die Überschrift zusätzlich den Namen des entsprechenden Monats und beginnt wie ein Kalender wieder mit der 1. Die Handlung selbst verläuft nur im Ablauf der aktuellen Tage chronologisch, denn es geht auch um Erinnerungen an die Vergangenheit, an einzelne Ereignisse, an die er sich plötzlich wieder erinnert und die er dann nochmals überdenkt und niederschreibt. Es sind einige gute, aber viele negative Erlebnisse, Situationen und Lebensabschnitte, die Toni als Ich-Erzähler mit uns teilt. Heute wie damals wird oft und heftig über die politische Situation in Spanien diskutiert, er schreibt auch darüber, aber eher als Zuhörer und Beobachter seiner Mitmenschen. Sehr gelungen sind die Schilderungen des Alltagslebens in Madrid, des Viertels, in dem Toni nun wohnt, mit seinen Lokalen, Geschäften und Parks.  

Fazit

Meine neugierigen Erwartungen an diesen neuen Roman des bekannten Autors wurden nicht erfüllt. Im Text auf der Buchrückseite wird Toni als Antiheld eingestuft, für mich wurde er mit der Anzahl der Seiten des Buches auf Grund seiner überheblichen Selbsteinschätzung eher zum „Anti-Menschen“, was meine Begeisterung an diesem Roman etwas getrübt hat.

Sisi – Karen Duve

AutorKaren Duve
Verlag Galiani-Berlin
Erscheinungsdatum 22. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten416
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3869712109

„Der krumme Weg ist hier doch immer der bequemere. Warum etwas direkt sagen, wenn man es auch hintenherum erledigen kann.“ (Zitat Pos. 1327)

Inhalt

So oft als möglich flieht Elisabeth, Kaiserin von Österreich, dem anstrengenden, intriganten Wiener Hofleben, das sie nicht nur einengt, sondern auch langweilt. Auf dem ungarischen Landsitz des Kaiserpaares, Schloss Gödöllö, kann sie sich freier bewegen und ihrer großen Leidenschaft, dem Reiten, nachgehen, so oft und lange sie will. Bei der Eröffnung der Wiener Weltausstellung 1873 erzählen ihr englische Würdenträger begeistert von den englischen Parforcejagden. Nach einem ersten Besuch im Jahr 1874 reist sie 1876 wieder nach England und nimmt dort an den schwierigsten Parforcejagden teil, während ihre bevorzugte Hofdame und Vertraute, Gräfin Marie Festetics, sorgenvoll auf ihre Rückkehr wartet, denn Elisabeth ist eine hervorragende Reiterin, aber gleichzeitig draufgängerisch und durch kein Hindernis aufzuhalten. Die Kaiserin ist der Mittelpunkt im Leben der Gräfin Festetics. Doch als die Kaiserin ihre junge Nichte Marie Louise Wallersee auf Schloss Gödöllö einlädt und diese, ebenfalls eine hervorragende Reiterin, bald zur Vertrauten der Kaiserin wird, fürchtet die Hofdame um Position bei der Kaiserin und schmiedet entsprechende Pläne.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Episoden aus dem Leben von Elisabeth, Kaiserin von Österreich. Der knappe Zeitrahmen umfasst die Jahre 1874 bis 1877, ergänzt durch Rückblicke. Themen sind Pferde, Jagden, Liebe, Klatsch und Intrigen.

Charaktere

„Bis ins kleinste Detail recherchiert und gnadenlos seziert: Karen Duve über eine Kaiserin, die ihrer Zeit oft weit voraus war und trotzdem bis heute unterschätzt wird.“ So steht es in der Beschreibung des Verlages. Doch leider zeigt dieser Roman nur einige Facetten ihrer vielschichtigen Persönlichkeit: wir erfahren viel über die außergewöhnliche begabte Reiterin und begeisterte Sportlerin Elisabeth, über die große Disziplin, mit der sie ihre Schönheit pflegte, über Skandale und Gerüchte über angebliche Affären, die bekannten, realen Liaisonen des Kaisers, aber wir erfahren nichts über die wesentlich spannenderen intellektuellen Seiten dieser vielseitig interessierten, gebildeten, außergewöhnlichen  Frau, die in ihren modernen Ansichten ihrer Zeit weit voraus war und durch ihren Freiheitsdrang und Wunsch nach Selbstbestimmung der Frauen eine frühe Vorreiterin für ein verändertes Frauenbild war.

Handlung und Schreibstil

Diese Jahre zwischen 1874 und 1877, die das Kernstück der Geschichte bilden, sind bereits geprägt durch Reisen und Aufenthalte fern vom Wiener Hof. Doch während ihr bevorzugter Rückzugsort bald darauf Korfu wurde, sind es in diesen Jahren noch Gödöllö, ihr Elternhaus in Possenhofen und, als neues Reiseziel, England. Es sind die Jahre, in denen die großartige, begeisterte, ehrgeizige Reiterin ihre Jagdleidenschaft auslebt. Geschildert werden einzelne Episoden und prägende Ereignisse, und auch die längst bekannten Anekdoten, Gerüchte und Intrigen am kaiserlichen Hof in Wien fehlen nicht. Doch dies alles findet sich bereits in der großartigen, umfassenden Elisabeth-Biografie von Brigitte Hamann. Wie vom Verlag angekündigt, wurde „gnadenlos seziert“, was in diesem Fall bedeutet, dass jene vorhin genannten Abschnitte so ausgesucht wurden, dass sie in das einseitige Bild der Kaiserin passen, das die Autorin mit diesem Roman vermitteln will. Daran ändert auch das ausführliche Literaturverzeichnis im Anhang nichts. Ein typischer Roman des in den letzten Jahren beliebten Genre „Berühmte Frauen, starke Frauen und die Liebe“. Auch die Sprache entspricht dem Genre Unterhaltungsroman.

Fazit

Ich hatte nicht mit diesem engen Zeitrahmen von wenigen Jahren, zugeschnitten auf den Schwerpunkt Pferde, Treibjagd und Skandälchen gerechnet. Viele andere wichtige Facetten werden nur gestreift und in meinen Augen sehr selektiv zusammengesetzt. Wer sich bereits mit dieser interessanten, facettenreichen, aber auch schwierigen und ambivalenten Persönlichkeit der berühmten österreichischen Kaiserin auseinandergesetzt hat, findet in diesem Roman nichts Neues. Mich konnte dieser Roman nicht überzeugen, aber ich bin sicher, er wird begeisterte Leserinnen finden.

Das Haus über dem Fjord – Kristin Valla

AutorKristin Valla
Verlag mareverlag
Erscheinungsdatum 20. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten320
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinGabriele Haefs
ISBN-13978-3866486492

„Ich stand in der Auffahrt, hatte die Autotür offen, dachte, dass das Haus noch immer schön sei. Es lag allein oben am Hang und sah aus, als ob es eigentlich keine Menschen brauchte.“ (Pos. 254)

Inhalt

Elin ist zehn Jahre alt, als ihre Weigerung, ein Kleid anzuziehen, ihr und ihrer Mutter das Leben rettet. Denn die beiden sind nicht in dem Auto, das von einem plötzlichen Erdrutsch verschüttet wird und in dem Elins Vater und ihre beiden älteren Brüder sterben. Im Herbst 2007 kehrt Elin, die in Oslo lebt und als Journalistin für eine Modezeitschrift tätig ist, in den kleinen Ort in der Provinz Nordland zurück. Vor zwei Jahren ist ihre Mutter gestorben und Elin beginnt, das Haus der Familie zu räumen, da sie es verkaufen will. Was will sie behalten, was entsorgen? Sie blättert den alten Terminkalender ihres Vaters aus dem Unglücksjahr 1985 noch einmal durch und plötzlich fällt es ihr auf – im Frühjahr vor dem Unglück dichte Termine, geschäftlich und privat, Reisen mit ihrer Mutter, Ballettaufführungen, Theater – es endet mit einer Eintragung ‚Ferien‘ im Juli und dann nichts mehr. Die Seiten des Herbstes sind völlig leer. Das Warum schickt Elin auf eine Suche in die Vergangenheit, die sie zunächst zu Gesprächen mit allen Dorfbewohnern und dann bis nach Frankreich führt.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Familie, Eltern und Kinder, Erinnerungen und prägende Kindheitserlebnisse, ein wichtiges Thema ist die Suche nach dem eigenen, bewusst gestalteten Leben.

Charaktere

Elin ist Journalistin und arbeitet jetzt als Chefin vom Dienst bei einem norwegischen Modemagazin in Oslo. Durch das Unglück 1985 endet ihre unbeschwerte Jugend abrupt, Verlust und Trauer prägen sie bis heute. Mit dem Schriftsteller Ola, dem besten Freund ihres ältesten Bruders, verbindet sie immer noch eine vertraute Freundschaft. Es sind sympathische Figuren, deren Geschichte wir in diesem Buch folgen.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch von Elin als Ich-Erzählerin geschildert. Sie beginnt im Sommer 1985, die Haupthandlung schließt im Herbst 2007 an, reicht bis in den Sommer 2008 und endet dann in der Gegenwart, im Sommer 2019. Im Mittelpunkt steht Elin znd ihr Leben, ihre Recherchen zu den Ereignissen im Jahr 1985 wechseln mit Beschreibungen ihrer aktuellen beruflichen Tätigkeit ab. Ergänzt wird die Handlung durch viele Rückblenden, Elins Erinnerungen und ergänzende Details, die sich durch die Erinnerungen der Personen ergeben, mit denen sie spricht und denen sie ihre Fragen stellt, bis sich die Geschichte zu einem stimmigen Gesamtbild fügt. Die Sprache ist sehr angenehm zu lesen, nimmt sich auch Zeit für die Beschreibung der Landschaft des Nordlands, der zwischenmenschlichen Aspekte, die Schilderung des Lebens in der Gemeinschaft eines kleinen Ortes, und der internationalen Modewelt, Elins Berufsumfeld – das alles bunt, nachvollziehbar und ohne Längen.

Fazit

„Wer unsere Eltern wirklich waren, werden wir vielleicht nie erfahren. Aber wer sie für uns sind, entscheiden wir zum Glück selbst.“ (Pos. 3096) Dies ist eines der Kernthemen in dieser vielschichtigen, stimmigen Geschichte, die mich in packenden, angenehmen Lesestunden nach Norwegen entführt hat.

„Montaignes Katze – Nils Minkmar

AutorNils Minkmar
Verlag S. FISCHER Verlag
Erscheinungsdatum 7. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3103972948

„Wenn wir all das überleben, dann freue ich mich auf einen dritten Band ihrer Essais. Darin darf dann gerne etwas über diese Tage stehen, aber bitte intelligent verschlüsselt. Hoffentlich hilft es späteren Menschen von Bildung, Politik besser zu verstehen und gnädig mit uns zu sein.“ (Zitat Pos. 1886)

Inhalt

In einer Regennacht im Februar 1584 trifft ein in Grau gekleideter reitender Bote auf dem Schloss von Michel de Montaigne ein. Les Grisons, so nennt man diese Männer, die streng geheime Botschaften von der Spitze Frankreichs überbringen und Montaigne weiß sofort, wer nach ihm schickt. Der bekannte Diplomat und Philosoph war gerade zum zweiten Mal zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt worden, hat vor kurzer Zeit sein zweites Buch veröffentlicht und zieht sich mit seiner Frau Françoise und der kleinen Tochter Léonore so oft als möglich auf sein Schloss zurück, um hier zu denken und an seinen Essais zu schreiben. Doch nun muss er sofort nach Paris reisen, begleitet von seiner Frau, um die Reise inoffiziell und privat erscheinen zu lassen. Es ist eine unruhige, konfliktreiche Zeit, voller Misstrauen, Intrigen und Gewalt. Auch nach zwölf Jahren wurde die Bartholomäusnacht weder von den Katholiken, noch von den Hugenotten vergessen. Daher ist die Frage, wer dem kinderlosen Heinrich III. als König nachfolgen wird, von extremer Wichtigkeit und dafür wird Montaignes Unterstützung gebraucht.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses historischen Romans steht Michel de Montaigne, der einflussreiche Politiker, Humanist und Schriftsteller. In dem von Unruhen, Aufständen und Glaubenskriegen zerrissenen Frankreich im späten 16. Jahrhundert, in dieser hochpolitischen Zeit der Bündnisse und Intrigen, sieht es Montaigne als seine Aufgabe, sich für eine Lösung einzusetzen, die eine Chance hat, Frankreich das Ende der Bürgerkriege, neuen Wohlstand und mehr Gerechtigkeit für alle zu bringen. „Wie lösen sich kriegerische Positionen auf? In der Szene hängt der Schlüssel zu den Sorgen unserer Zeit. Aber wie muss er beschaffen sein?“ (Zitat Pos. 188). Es sind Überlegungen und Gedanken wie dieser, welche diesen Roman zeitlos machen, Parallelen zu unserer Zeit ziehen.  

Charaktere

Dem Autor gelingt es durch sein Fachwissen und seine Recherchen, die bekannten historischen Persönlichkeiten interessant und authentisch zum Leben zu erwecken. Die fiktive Figur des jungen Schreibers Nicolas Poulain und seine Beobachtungen und Erlebnisse zeigen eindrücklich das Leben der einfacheren Bevölkerungsschichten in dieser Zeit.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung schildert chronologisch die Ereignisse des Jahre 1584, beginnend mit einer Nacht im Februar bis zum Jahresende, wobei Rückblenden und Erinnerungen die Zusammenhänge erklären. Die Geschichte ist in drei übergeordnete Abschnitte gegliedert, welche in Kapitel unterteilt sind. Es handelt sich um einen Roman, doch der geschichtliche Hintergrund und die bekannten Tatsachen sind immer präsent, werden nicht verändert und umgeben den fiktiven, aber durchaus möglichen Teil der Handlung. Durch sein umfassendes Wissen und seine spürbare Begeisterung für Montaigne und diese Zeit gelingt dem Autor mit diesem Roman eine überzeugend lebhafte, faszinierende und spannende Schilderung dieser Zeit und ihrer Persönlichkeiten. Dies trifft auch auf die Sprache zu. In einer der ersten Szenen eilt der junge Nicolas Poulain, der statt seines verschollenen Onkels Charles als Schreiber für Montaigne tätig sein soll, durch Paris. Er ist spät dran, bleibt aber doch stehen, um in Stuben und Läden zu schauen. Er beschreibt, was er gerade sieht und so ergibt sich beim Lesen sofort ein buntes Bild der geschäftigen Stadt Paris in diesem Februar 1584.

Fazit

Diese vielseitige, interessante und spannende Geschichte führt uns schon mit der ersten Seite in Montaignes Welt und in das Jahr 1584 in Paris und Bordeaux. Ein großartiges Buch und so packend, dass man es nur aus der Hand legt, wenn es unbedingt sein muss.

Die Dringlichkeit der Dinge – Markus Grundtner

AutorMarkus Grundtner
Verlag edition keiper
Erscheinungsdatum 22. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten230
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3903322554

„Ich hasse Gedanken, die ohne jegliche Rechtsgrundlage von meinem Kopf Besitz ergreifen und sich auch noch als dessen Eigentümer aufspielen Es ist Zeit, die wahren Besitz- und Eigentumsverhältnisse an meinem Kopf zu klären (Zitat Pos. 85)

Inhalt

Mag. Mathias Gandt, siebenundzwanzig Jahre alt, hat sein Jus-Studium erfolgreich beendet und sich bei einer angesehenen Wiener Rechtsanwaltskanzlei beworben. In zwei Jahren kann er zur Anwaltsprüfung antreten und genau so steht es auf seiner Liste der drei K für die nächsten fünf Jahre: Kanzlei, Karriere, Kind, in dieser Reihenfolge, ein geordneter Ablauf. Doch dann tritt vor dem offenen Bücherschrank am Wiener Margaretenplatz Klaudia Antonini in sein Leben. Nach dreizehn enttäuschenden Jahren in Wien ist die temperamentvolle Italienerin auf dem Weg zurück nach Triest. Doch mit Mathias, der sein Leben nach juristischen Grundsätzen organisiert, wagt sie einen Neubeginn in Wien und fügt den drei K ein viertes K hinzu: K wie Klaudia, wobei sie es mit der Reihenfolge nicht so genau nimmt.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Wendepunkte im eigenen Leben, Neubeginn, Beziehungen,  Lebensplanung, und dazu eine gute Portion an juristischen Themen wie Sachenrecht, Mietrecht, Vertragsrecht und den beruflichen Alltag von Rechtsanwälten.

Charaktere

Mathias ist ein von den Paragrafen überzeugter Jurist und ordnet auch seine Alltagsprobleme nach juristischen Denkmustern. Klaudia handelt spontan, erklärt wortreich, was sie will und was nicht. Mathias sucht die drei K, sie die 3 L: Liebe, Literatur, Lehre.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt in der Gegenwart, Ort der Handlung ist Wien. Die Hauptfigur Mathias ist der Ich-Erzähler. Seine erste richtige Anstellung als Konzipient, nicht mehr nur als Praktikant wie während seines Jus-Studiums, ist ein wichtiger Schritt auf seinem genau geplanten Weg zum Rechtsanwalt. Zwischen den sachlichen Formulierungen der Gesetzestexte fühlt er sich wohl und sicher und er erwartet, dass dieses Jahr, der Zeitraum der Handlung, ebenso strukturiert ablaufen wird. Diese Hauptfigur lässt der Autor auf eine temperamentvolle, spontane Italienerin mit einem Universitätsabschluss in Literatur treffen. Es sind diese Gegensätze, welche die Stärke dieser Geschichte ausmachen, originell, ungewöhnlich und dennoch charmant, und mitten aus dem Leben unserer Zeit gegriffen. Die Sprache verpackt sogar einen Ausflug in eine breite Palette von Rechtsformen und betitelt die Überschriften als Paragrafen mit jeweils einem treffenden Stichwort.

Fazit

Neugierig und gespannt folgt man den beiden Hauptfiguren. Gegensätze ziehen sich an, sagt ein Sprichwort, aber können solche Gegensätze in eine funktionierende Beziehung führen? Ein amüsantes, interessantes Buch, eine originelle Geschichte auch für Lesende ohne besondere juristische Vorkenntnisse. Für mich eine Entdeckung auf der österreichischen Longlist 2022, die mich überzeugt hat.

Mon Chéri und unsere demolierten Seelen – Verena Roßbacher

AutorVerena Roßbacher
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 10. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3-462-00119-8

„Tatsache war: Aus dem völlig vergagelten Kind war eine hundertprozentig chaotisch zusammengewürfelte Erwachsene geworden.“ (Zitat Pos. 2265)

Inhalt

Charly Benz ist dreiundvierzig Jahre alt und lebt in Berlin. Sie arbeitet im Marketing von LuckyLily, einer veganen Foodcompany, wobei Charly weder Veganerin, noch wenigstens Vegetarierin ist. „Ich hatte keine Ahnung von Marketing und machte einen guten Job. Diese Tatsache allein war so himmeltraurig, dass ich hätte heulen können.“ (Zitat Pos. 280) Ihre Post bringt sie alle zwei Wochen zu Herbert Schabowsky, der sie für sie öffnet und sortiert. Dies mit viel Kaffee, Mohawk Red Zigaretten und Gesprächen über Gott und die Welt. Charly ist so etwas wie eine chaotische Optimistin, die sich zu viele Sorgen macht, Single, manchmal einsam, aber nicht unglücklich. Dennoch – zur Zeit fühlt sie sich in der Eintönigkeit gefangen, aber aus eigenem Antrieb schafft sie keinen Neubeginn. Bis mehrere Dinge gleichzeitig geschehen: von ihrer Schwester Sybille hatte sie zum Geburtstag einen Gutschein für die Teilnahme an einer Familienaufstellung bekommen, doch Charly hatte keine Absicht, hinzugehen. Nun trifft sie mit Herrn Schabowsky die Vereinbarung, an dieser Familienaufstellung teilzunehmen, wenn er im Gegenzug dringend notwendige ärztliche Untersuchungen machen lässt, bei denen sie ihn begleitet. Beides setzt völlig unvorhersehbare Ereignisse in Gang.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Romans steht eine eigenwillige, moderne Frau, die sich ihren vielen Fragen und Themen zu stellen versucht. Es geht um Freundschaft, Familie, Beziehungen, Liebe in vielen Facetten, kurz, um die bunte, manchmal verwirrende Vielfalt des Lebens.

Charaktere

Charly isst nicht Schokolade, sondern verkohlte Croissants zum Frühstück, dazu Kaffee und Zigaretten. „Fazit: Mein Leben sah nicht gut aus. Verzehrte Croissants: fünf. Zigaretten: viele. Fertig.“ (Zitat Pos. 320) Sie ist vielleicht nicht perfekt, dafür unwiderstehlich und liebenswert, man wünscht sie sich sofort als BFF, ab der ersten Seite dieses Romans.

Handlung und Schreibstil

Charly Benz ist eine chaotische Ich-Erzählerin, die in Bezug auf ihre Person gerne mal untertreibt. Der Handlungsrahmen umfasst etwa ein Jahr, verläuft nicht unbedingt chronologisch, alles andere wäre bei dieser Ich-Erzählerin auch eher erstaunlich. Ergänzungen durch viele Erinnerungen und Rückblenden lassen Raum für eigene Überlegungen und ergeben in Verbindung mit den aktuellen Ereignissen ein sehr gelungenes Gesamtbild. Die Sprache passt perfekt zu dieser eigenwilligen Hauptfigur.

Fazit

Moderne Frauenliteratur, die zeigt, was in diesem Genre möglich ist, überzeugend und sehr erfrischend, weil ohne Protagonistinnen, die in jammerndem Selbstmitleid versinken. Eine originelle, einfühlsame und positive Geschichte von unglaublich komisch, schräg, skurril bis zu ernst, traurig, nachdenklich – bittersüß, wie das Schokoladekonfekt im Titel.

Kangal – Anna Yeliz Schentke

AutorAnna Yeliz Schentke
Verlag S. FISCHER Verlag
Erscheinungsdatum 9. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten208
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3103970814

 „Wir mussten andere werden, um sagen zu können, war wir dachten. Lieber eine andere sein, als keine Stimme zu haben. Als Kangal wurde ich nicht als ich und nicht als Frau erkannt.“ (Zitat Pos. 106)

Inhalt

Dilek hat mit Freundin Sinai Geografie studiert. Als Sinais Freund Baran verhaftet wird, fürchtet Dilek, dass ihre Identität aufgedeckt wird, unter der sie kritische Artikel im Netz veröffentlicht. Heimlich fliegt sie nach Frankfurt, nicht einmal ihren Freund Tekin hat sie eingeweiht. Dileks Cousine Ayla lebt mit ihrer Familie in Frankfurt, doch nach einem Streit der beiden Mütter vor vielen Jahren wurde der Kontakt bewusst abgebrochen. Dilek meldet sich bei Ayla, doch sie ist misstrauisch geworden und weiß nicht, ob sie ihr trauen kann. In Istanbul ist Tekin immer noch überzeugt, dass sie vorsichtig genug waren, um nicht entdeckt zu werden, und dass Dilek es bereuen wird, nach Deutschland gegangen zu sein.

Thema und Genre

Ein Thema ist die politische Situation in der Türkei, denn die Politik der letzten Jahre wird auch in Deutschland beobachtet, und die Meinung dazu entzweit die Menschen dort wie hier bis in die Familien. Doch es geht vor allem um eine junge Generation, die nach ihrer Identität und Zukunft sucht, um mutige junge Frauen, die ihren eigenen Weg gehen wollen, notfalls über Umwege. Auch die Bedeutung der Familie und der Familienstrukturen zwischen traditionell und modern sind ein Thema.

Charaktere

Es sind drei Hauptfiguren, Dilek, Ayla und Tekin, die abwechselnd ihre Sicht der Dinge schildern. Ayla will einerseits die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen, doch ihre eigenen Pläne für ihre Zukunft gibt sie nicht auf. Tekin ist im Netz gegen die Einschränkungen der persönlichen und der Meinungsfreiheit aktiv, er ist wachsam und vorsichtig, aber er unterscheidet zwischen Furcht und Angst und trifft keine voreiligen Entscheidungen. Dilek flieht nach Deutschland, weil sie Angst hat, verhaftet zu werden, doch sie fühlt sich auch in Deutschland nicht sicher und fragt sich, ob es richtig war, nach Frankfurt zu kommen. „Heute denke ich, ich hatte keine Wahl, morgen frage ich mich, ob ich nicht ein Feigling bin und es mir einfach mache, jetzt und hier.“ (Zitat Pos. 283)

Handlung und Schreibstil

„Seien sie sich bewusst, dass regierungskritische Äußerungen in sozialen Medien, auch wenn sie länger zurückliegen, aber auch das Teilen oder Liken eines fremden Beitrages Anlass für strafrechtliche Maßnahmen der türkischen Sicherheitsbehörden sein können.“ (Zitat Pos. 44) Diese Aussage bringt uns mitten in die Ereignisse. Die Handlung spielt in einem kurzen Zeitraum in der Gegenwart. Ergänzt wird sie durch Rückblicke, jede der Hauptfiguren erinnert sich an prägende persönliche Erfahrungen. Die Autorin erzählt die Geschichte in kurzen Kapiteln, im raschen Wechsel zwischen den drei Hauptfiguren. Die in der Überschrift des Kapitels genannte Figur wird im jeweiligen Kapitel zur Ich-Erzählerin, zum Ich-Erzähler. Ähnlich schnörkellos wie dieser straffe Aufbau ist auch die Sprache, während die Themen und Problematiken breit gefächert sind. Spannung entsteht durch die Entscheidungen und die vielen damit verbundenen Konflikte und Fragen.

Fazit

Kangal ist einerseits ein politischer Roman, es ist jedoch auch ein präziser Blick auf die aktuellen Themen unserer Gesellschaft, besonders die Situation der jungen Menschen zwischen Familientradition und Aufbruch, zwischen Türkei und Deutschland. In dieser Geschichte sind es vor allem die jungen Frauen, die selbstbewusst ihren eigenen Weg gehen wollen.

Spitzweg – Eckhart Nickel

AutorEckhart Nickel
Verlag Piper Verlag
Erscheinungsdatum 28. April 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3492071437

„Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich gerne über einen Speicher in meinem Gehirn verfügen, der alle Momente versammelt, in denen ich Menschen, Orte und Dinge zum ersten Mal gesehen habe, die später im Leben für mich wichtig werden.“ (Zitat Pos. 473)

Inhalt

Bevor der jugendliche Ich-Erzähler Carl kennenlernt, den Neuen in der Klasse, der mit niemandem spricht, etwas abgehoben in seiner eigenen Welt zu leben scheint, konnte er mit Malerei nichts anfangen. Dann kommt der Tag, an dem die Kunstlehrerin in ihrer Unterrichtsstunde das Selbstporträt der sehr talentierten Schülerin Kristen mit einer rüden Bemerkung kritisiert. Carl überredet den zunächst zögernden Ich-Erzähler, der Zeichenlehrerin eine Lektion zu erteilen. Kirsten verschwindet, nur ein von ihr gezeichnetes Bild in Anlehnung an Millais Ophelia bleibt zurück. Doch anders als besprochen, verschwindet das Mädchen tatsächlich und die beiden Freude begeben sich auf die Suche.

Thema und Genre

In diesem Coming-of-Age Roman geht es um die Kunst, vor allem um die Ausdrucksformen der Malerei als Spiegel und Interpretation der Wirklichkeit, um Literatur, Psychologie, Freundschaft und die erste Liebe in dieser besonderen Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenenleben, wo die Suche danach, wer man ist und wer man sein will, gerade erst beginnt.

Charaktere

Carl ist ein selbstbewusster junger Mann, er zelebriert sein Auftreten gleich einem modernen Romantiker unserer Zeit, beschäftigt sich intensiv mit der Malerei, besonders mit den Bildern des Malers Carl Spitzweg. Der junge Ich-Erzähler ist das genaue Gegenteil, er zieht sich zu Hause meistens sofort in sein Zimmer zurück, blickt aus dem Fenster und versinkt träumend in den Beobachtungen der Natur. Dies ändert sich durch seine Freundschaft mit Carl. „Ich litt unter der schmerzlichen Abwesenheit des Besonderen. Nur in der Kunst schien alles besonders, Carl konnte es sehen und erklären.“ (Zitat Pos. 2746)

Handlung und Schreibstil

Der junge Ich-Erzähler schildert die Ereignisse, die dieser besonderen Zeichenstunde folgen, im Kern chronologisch, doch mit vielen Unterbrechungen, psychologischen Betrachtungen, genauen Beobachtungen einer möglichen Realität. So ist der Ich-Erzähler ist ein unverlässlicher Erzähler, in den manchmal beinahe verzweifelten Versuchen, aus der empfundenen Langeweile seines Lebens auszubrechen, mit allen Unsicherheiten seiner jungen Jahre, führt er uns durch surreale, skurrile Schein- und Traumwelten. Die intensiven Gespräche mit seinem kunstbegeisterten Freund Carl, dessen an Monologe grenzenden  Erklärungen über die Fähigkeit der Kunst, eine ästhetische, oft auch bei genauem Hinsehen kritische Variante der Realität anzubieten, umgeben und ergänzen facettenreich die Kernhandlung. Die Sprache bringt die poetischen bis ausufernden Satzgebilde der Romantik in die Gegenwart unserer Zeit.

Fazit

Ein trotz der surrealen Vielfältigkeit leiser, poetischer Roman über das Erwachsenwerden, die damit verbundenen verwirrenden Fragen mit der Suche nach philosophischen Antworten,  und gleichzeitig ein intensiver Ausflug in die Malerei zwischen Biedermeier und Romantik.

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