Tochter einer leuchtenden Stadt – Defne Suman

AutorDefne Suman
Verlag List Hardcover
Erscheinungsdatum 30. März 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten496
SpracheDeutsch
ÜbersetzerGerhard Meier
ISBN-13978-3471360552

„Seit Anbeginn hat der Mensch etwas erschaffen und zugleich Krieg geführt. Was heute dir gehört, gehörte gestern einem anderen, und morgen wird es wieder ein anderer bekommen.“ (Zitat Pos. 3393)

Inhalt

An diesem Tag im September 1905 kommt der Inder Avinash Pillai, ein britischer Spion, zum ersten Mal in die blühende Metropole und lebhafte Hafenstadt Smyrna, das heutige Izmir. Als er an Bord des Passagierschiffes Afrodit gerade den Sonnenuntergang über der Stadt bewundert, ahnt er nicht, was ihn eines Tages mit dem Mädchen verbindet, das an genau diesem Tag geboren wird. Dieses Geheimnis enthüllt sich ihm Jahre später durch Zufall, als er ein altes Foto sieht, während er an diesem Septembertag 1922, wieder an Bord eines Schiffes, einen letzten Blick auf die brennende Stadt wirft. Das Mädchen selbst entkommt den Flammen und wird von einer türkischen Familie gerettet. Gebannt lauscht auch sie den Geschichten der Romni Yasemin, ohne zu ahnen, dass eine dieser Geschichten auch sie betrifft.

Thema und Genre

In diesem Frauen- und Generationenroman geht es um den Untergang der weltoffenen, multiethnischen Stadt Smyrna, türkisch Izmir, als Folge eines Großbrandes am 13. September 1922, am Ende des Griechisch-Türkischen Krieges. Themen sind die gesellschaftliche Stellung der Frauen im Smyrna des frühen 20. Jahrhunderts, Traditionen, Familie und natürlich die Liebe.

Charaktere

Im Mittelpunkt des Romans stehen Frauen aus vier unterschiedlichen Kulturkreisen: levantinisch, griechisch, türkisch und armenisch, denn es sind die Frauen, die im Hintergrund, aber selbstbewusst auch im Vordergrund, die Geschicke ihrer Familien bestimmen.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird abwechselnd in mehreren Erzählsträngen geschildert, die zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden. Das vor dem Feuer gerettete Mädchen wird von seiner neuen Familie Scheherezade genannt und sie ist es, die später diese Geschichte aufschreibt, daher wird ein Teil in der Ich-Form geschildert, der Großteil des Romans jedoch in der personalen Erzählform. Die jeweiligen Zeitangaben finden sich manchmal im Text der einzelnen Kapitel und Abschnitte, sind aber sehr ungenau gehalten. Hier hätte ich mir präzisere Angaben gewünscht, auch eine genauere Einbindung der historischen Fakten. Insgesamt ist es eine unruhige Erzählform und für mich waren die „Hints“, also Andeutungen, Hinweise auf zukünftige Ereignisse, zu viel. Die Sprache beeindruckt bei den Schilderungen der Stadt, der Menschen, des Alltagslebens, der Stimmungen und ihrer Gefühle, wird jedoch überbordend bei den Beschreibungen einzelner Szenen während des großen Feuers.

Fazit

Die Idee hinter dem Roman, der Plot in Verbindung mit den bekannten historischen Tatsachen, hatten mich neugierig gemacht. Leider konnte mich die Autorin nicht vollkommen überzeugen, sie bleibt sowohl bei der Handlung, als auch bei den Figuren, der Problematik, den Konflikten an der Oberfläche, die geschichtlichen Hintergründe werden nur gestreift. So wurde daraus ein weiterer Frauenroman mit historischem Hintergrund, ein Genre, das sich in den letzten Jahren großer Beliebtheit erfreut. Wer nicht mehr erwartet, wird auch dieses Buch sehr gerne lesen.

Das russische Testament – Shumona Sinha

AutorShumona Sinha
Verlag Edition Nautilus
Erscheinungsdatum 6. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten184
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinLena Müller
ISBN-13978-3960542605

„Sie entdeckte die aufregende Grenze zwischen Wirklichkeit und Erfindung, zwischen dem, was geschrieben steht und dem, was noch geschrieben werden wird, die Lust am Unvollendeten.“ (Zitat Seite 33)

Inhalt

Tanias Vater ist Buchhändler in Kalkutta und verkauft internationale Literatur, die ins Bengali übersetzt worden war. Da ihre Mutter sie ablehnt, zieht sich Tania schon in ihrer Kindheit in die Welt der Bücher zurück. Immer wieder sind es Bücher von russischen Autoren und in jedem der Bücher findet sie die Adresse der Verlage Raduga und Progress, Subowski Bulvar, Moskau. Als Studentin beginnt Tania mit genauen Recherchen auf den Spuren des Raduga Verlages und des Verlegers und Schriftstellers Lew Kljatschko. Am Institut für russische Sprache und Literatur lernt sie Russisch und schreibt einen Brief an die Adresse des Verlages. Doch der Verlag musste schon 1930 unter Stalin schließen, Lew Kljatschko starb nur wenige Jahre später. Der Brief jedoch gelangt nach Boston, zur Enkelin des Verlegers. Diese schickt den Brief weiter an ihre Großmutter Adel, die in einem Altersheim in St. Petersburg lebt. „Ich weiß nicht, wie mich diese junge Frau ausfindig gemacht hat. Ich bin erstaunt über die Entschlossenheit, mit der sie über drei Kontinente hinweg die unsichtbaren und meist längst vergessenen Punkte verbunden hat.“ (Zitat Seite 11, 12)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Unterdrückung, Politik und den Wunsch nach Freiheit gegen alle Widerstände. Vor allem jedoch geht es um Bücher und die Kraft der Literatur.

Charaktere

Zwei Frauen und ein Mann: was sie trennt ist mehr als ein halbes Jahrhundert und mehr als sechstausend Kilometer Luftlinie. Auch die unterschiedlichen, persönlichen Erfahrungen mit der Ideologie des Kommunismus trennen die Welten dieser Menschen, denn Adels freidenkender Vater riskierte unter der Zensur und den Bespitzelungen der Stalinzeit sein Leben, Tania dagegen schloss sich als junge Studentin in Kalkutta den Aktivisten der kommunistischen Studentenbewegung an. Was sie eint, sind Bücher, die Liebe zur Literatur, Maxim Gorki und die Suche nach einem freien, selbstbestimmten Leben.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman erzählt zwei voneinander unabhängige Geschichten. Eine Geschichte schildert die Kindheit und Jugend Tanias in den 1980er Jahren in Kalkutta, die personale Erzählform stellt Tania in den Mittelpunkt. In der zweiten Geschichte schildert die Russin Adel Kljatschko als Ich-Erzählerin ihr Leben, vor allem jedoch ihre Erinnerungen, in deren Mittelpunkt die Geschichte ihres Vaters steht. Die Sprache der Autorin ist lebhaft, eindrucksvoll und präzise.

Fazit

Eine ungewöhnliche Geschichte, getrennt durch ein halbes Jahrhundert und mehr als sechstausend Kilometer, verbunden durch die Liebe zur Literatur und den Wunsch nach persönlicher Freiheit.

Melody – Martin Suter

AutorMartin Suter
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 22. März 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257072341

„Ich habe mein ganzes Leben versucht, der Welt ein bestimmtes Bild von mir zu vermitteln.  Ihre Aufgabe besteht darin, dieses auch für die Nachwelt zu bewahren.“ (Zitat Seite 26)

Inhalt

Für Tom Elmer, dreißig Jahre alt, zwei Master-of-Law-Abschlüsse, ist dieser Job ein Glücksfall, großzügige Bedingungen, ein Jahresvertrag. Dr. Peter Stotz, geboren 1938, ehemaliger Politiker mit Sitz in den Verwaltungsräten von Banken und Großkonzernen,  einflussreich, erfolgreich, Kunstmäzen, sucht jemanden mit juristischen Kenntnissen und Sichtung des umfangreichen Archivs eines ganzen Lebens und die Ordnung seines Nachlasses. Bald ist Tom klar, dass es Peter Stotz vor allem darum geht zu erzählen und jemanden zu haben, der zuhört, bei den gemeinsamen Mahlzeiten und an den langen Abenden, denn Tom wohnt in der Villa. Alle Erinnerungen von Peter Stotz drehen sich um ein Thema: Melody Alaouni, die Liebe seines Lebens, die drei Tage vor der Trauung spurlos verschwunden ist. Dies ist nun über vierzig Jahre her, doch wie schon auf der Fassade der Villa in vergoldeten Lettern zu lesen ist: Tempus fugit, amor manet.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Sein und Schein, das eigene Leben und die Erinnerungen zwischen Fakten und Fiktion, um den Wunsch, das während langer Jahre der Öffentlichkeit präsentierte Bild auch zu bewahren. Es geht um Liebe, Beziehungen in vielen Facetten und Bedeutungen, um die unterschiedlichen Formen von Wahrheit.

Charaktere

Martin Suter ist ein Meister der leisen Zwischentöne in den Eigenheiten und Befindlichkeiten seiner Figuren. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen drei unterschiedliche Charaktere: Peter Stotz, schwer krank, der auch nach über vierzig Jahren die Erinnerungen an die Liebe seines Lebens pflegt. Tom Elmer ist neugierig, wenn auch mit der Verschwiegenheit eines Anwalts, und das Rätsel um das Verschwinden der jungen Frau wird für ihn zu einer Aufgabe, die er lösen will. Der dritten Hauptfigur, Melody,  begegnen wir nur auf den vielen Porträts, die an den Wänden der Villa hängen, und in Peters Erzählungen. „Das Porträt einer jungen Frau. Sie saß in einem Polstersessel vor einer Bücherwand, hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß und sah fragend auf, als wäre sie vom Betrachter gestört worden.“ (Zitat Seite 17)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in zwei unterschiedlichen Erzählperspektiven geschildert. In der aktuellen Zeit steht Tom Elmer im personalen Mittelpunkt. Die Vergangenheit, besonders seine Zeit mit Melody und die nachfolgenden Jahre der Suche nach ihr erzählt Peter Stotz als Ich-Erzähler in den vielen langen Gesprächen mit Tom. Dies macht die spannende Geschichte noch abwechslungsreicher und lässt uns Lesenden auch Raum für eigene Überlegungen, denn gerade Geschichten, selbst erzählt von dem, der sie erlebt hat, lassen viel Spielraum für Interpretationen und Varianten. Wer schon Romane von Martin Suter gelesen hat weiß, dass es bei diesem Autor nie nur eine Wahrheit gibt, und auch Offensichtliches plötzlich Überraschungen birgt. Die Sprache erzählt gekonnt und elegant, mit vielen feinen Nuancen.

Fazit

Kurz gesagt, dieser Roman beinhaltet alles, was man sich von einer anregenden, spannenden, unterhaltsamen Lektüre erhofft, eine überzeugende Geschichte, facettenreiche Figuren und interessante Themen zum Nachdenken.  

Karpathia – Mathias Menegoz

AutorMathias Menegoz
Verlag Frankfurter Verlagsanstalt
Erscheinungsdatum 30. August 2017
FormatGebundene Ausgabe
Seiten680
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinSina de Malafosse
ISBN-13978-3627002381

„Außerhalb des Fürstentums Transsilvanien hinterließ das Geschehnis nur in den seltsamen Berichten Spuren, die von Klausenburg nach Wien geschickt wurden und, weit im Osten, in den noch seltsameren Berichten der zaristischen Geheimdienste.“ (Zitat Seite 623)

Inhalt

Hauptmann Graf Alexander Korvanyi sieht das Duell, das er beinahe mit Absicht provoziert, als perfekte Möglichkeit, die kaiserliche Armee in Ehren verlassen zu können. Denn schon als er Cara von Amprecht kennengelernt hatte, hatte ihm diese erklärt, sie würde niemals eine Offiziersgattin in dauernd wechselnden Garnisonen werden. Nun jedoch nimmt sie seinen Antrag an. Die freiheitsliebende Cara ist froh, den strengen Regeln der Wiener Gesellschaft zu entkommen und freut sich auf den Neubeginn, auf dieses Abenteuer, als Alexanders Ehefrau mit ihm auf seiner Burg inmitten der weitläufigen Ländereien in der wilden Korvanya in Transsilvanien zu leben. Doch der junge Graf kennt diesen weithin unbekannten Teil des habsburgischen Reiches nur aus den Familiengeschichten. Niemand hatte das junge Paar auf die Realität vorbereitet. 1784 war ein blutiger Aufstand der Walachen von den adeligen Magyaren ebenso blutig niedergeschlagen worden. Die Leibeigenschaft auf Alexanders Gütern, der bewusst geschürte Aberglaube an Vampire und die Armut der Menschen machen das Zusammenleben von Magyaren, Siebenbürger Sachsen und Walachen auch jetzt, im Jahr 1833, unberechenbar, eine trügerischen Ruhe vor einem gefährlichen Sturm, der jederzeit ausbrechen kann.

Thema und Genre

Dieser historische Abenteuerroman spielt während der österreichischen Kaiserzeit im weit von Wien entfernten Fürstentum Transsilvanien. Ein buntes, unterschiedliches und untereinander verfeindetes Völkergemisch, die gesellschaftliche Hierarchie, aber auch die Lebensumstände der armen Bauern, die vom magyarischen Adel aus selbstverständlich angesehene Leibeigenschaft sind die Kernthemen dieser Geschichte. Natürlich geht es auch um gefährliche Abenteuer, Ehre, Verrat und mutige Einzelkämpfer. Obwohl auch Vlad, Aberglaube und die Furcht vor Vampiren Themen sind, ist dies kein typischer Vampirroman.

Charaktere

Dieser Roman überzeugt durch die vielen unterschiedlichen Figuren, auf die wir im Laufe der Geschichte treffen. Ihre Eigenheiten und Charaktere zeigen auch im historisch realen Kontext, wie gut der Autor recherchiert hat.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt im Jahr 1833, ergänzende Details aus der historischen Vorgeschichte werden in erinnerten Gesprächen geschildert. Die Handlung verläuft chronologisch, rasant und abwechslungsreich, was aus diesem Buch einen packenden Abenteuerroman macht. Gleichzeitig sorgen die interessanten Schilderungen der rauen Landschaft, der Lebensumstände der unterschiedlichen Völker, die damals in Transsilvanien lebten, und auch der kritische Blick auf die in dieser Zeit selbstverständlichen Herrschaftsverhältnisse innerhalb der Gesellschaftskreise dafür, dass dieser Roman wesentlich mehr ist, als nur eine Abenteuergeschichte. Auch die lebhafte, vielseitige Erzählsprache, die sich sogar die Zeit nimmt, die Kampfszenen episch und bildintensiv zu beschreiben, überzeugt.

Fazit

Ein facettenreiches, interessantes Bild dieser Zeit, ein historischer Abenteuerroman, den man mit Spannung und Vergnügen liest

Lichte Horizonte – Daniela Engist

AutorDaniela Engist
Verlag Alfred Kröner Verlag-Edition Klöpfer
Erscheinungsdatum 23. März 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten 208
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3520750013

„Wenn man nicht gerne fängt und nicht gerne gefangen wird, ist man dann nicht furchtbar allein? Aber wie allein ist man erst, wenn man dasteht und wartet!“ (Zitat Seite 131)

Inhalt

Anne ist als Autorin zu diesem Festival-Wochenende eingeladen, Stéphane als Musiker, sie treffen einander beim gemeinsamen Frühstück der Teilnehmer. Ein Gespräch, gegenseitige Anziehung und in Annes Gedanken bereits ein „was wäre, wenn“. Sie schreiben einander Emails, öffnen sich in dieser Virtualität gegenseitig, schreiben über ihre Gedanken und Wünsche. Doch beide haben Familie und beide sind sich darüber einig, dass sie nicht aus ihrem gewohnten Leben ausbrechen wollen. Dies wird Anne besonders deutlich, als Stéphane ihr schon am Beginn der Weihnachtstage schreibt, er werde ihr während der Feiertage nicht schreiben können. Als tatsächlich keine Emails von Stéphane eintreffen, ist Anne traurig und gereizt. Doch dann, zwei Tage vor Jahresende, beginnt sie zu schreiben, keine Emails, sondern an ihrem neuen Buch. Es würde wieder nicht das Buch zum Thema Geschwister werden, das sie schreiben wollte, sondern ein ganz anderes. Es wird eine Reise in der Vergangenheit, auf der Suche, wer sie damals war, wer sie heute ist.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben einer Frau, irgendwo zwischen Mitte und Ende Vierzig. Zwischen ihren Erinnerungen, ihrer nach mehr als zwanzig Jahren im Alltag festgefahrenen Ehe und der Sehnsucht nach Stéphane will sie schreibend herausfinden, wer sie heute ist und ob sie immer noch die ist, die sie sein will. Gleichzeitig handelt diese Geschichte auch vom Entstehen eines Romans.

Charaktere

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Anne, Ehefrau, Mutter, Schriftstellerin. So wie sie sich beim Schreiben ihres neuen Romans fragt, wie viel sie von sich selbst preisgeben will und wie viel verbergen, fragt sie sich auch, ob der Zauber ihrer Emails mit Stéphane nur in der Phantasie und dem Traum von einer möglichen Realität besteht und ob dies genug sein kann. Stéphane möchte nicht ein einer Geschichte vorkommen, er schreibt, so sagt er, seine Chansons auch nicht nach der Wirklichkeit.

Handlung und Schreibstil

Anne ist die Ich-Erzählerin. Sie erzählt uns die Geschichte dieser Tage im Dezember und Januar, verbindet diese jedoch mit vielen Erinnerungen, weit zurück in ihre Jugend, die erste Liebe, ihre Beziehungen und das Scheitern derselben. Sie schreibt über ihre Wünsche und Träume, über die frühe Zeit ihrer Ehe mit Alexander, mit dem sie inzwischen mehr als zwanzig Jahre verheiratet ist. Gleichzeitig jedoch bindet sie uns in den Schreibprozess ein, eine Geschichte in der Geschichte, denn wir erleben fiktiv, wie das vorliegende Buch geschrieben wird. Die Sprache ist klar, dennoch intensiv, und passt zu dieser Geschichte mit ihren Unterbrüche, im dauernden Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Drei große Abschnitte tragen den Titel Anlaufen – Abspringen – Aufkommen. Am Ende des Buches finden sich einige kurze, ergänzende Texte.

Fazit

Eine facettenreiche Geschichte, die gekonnt auch das Schreiben einer Geschichte selbst in die Handlung einbindet, so mit den Handlungen und Möglichkeiten spielt und uns viel Raum für eigene Gedanken lässt.

Lichte Tage – Sarah Winman

AutorSarah Winman
Verlag Klett-Cotta
Erscheinungsdatum 18. Februar 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinElina Baumbach
ISBN-13978-3608980875

„Ich weiß noch, dass ich dachte, wie grausam es sei, dass unsere Pläne irgendwo da draußen immer noch existierten. Eine andere Version der Zukunft, irgendwo da draußen, in immerwährendem Umlauf.“ (Zitat Seite 153)

Inhalt

Das Tombola-Los von Dora Judd ist das erste Gewinnlos und sie darf sich ihren Gewinn aussuchen. Ihr Mann Leonard will, dass sie die Flasche Scotch nimmt, doch sie hat sich längst für das Bild entschieden: eine Kopie von Van Goghs berühmten Sonnenblumen. Für sie wird dieses Bild zum Fenster, einem sonnigen Fenster als Symbol für ihre unerfüllten Träume von Schönheit, Licht, Freiheit und Kunst.

Doras Sohn Ellis und Michael sind Freunde, seit sie sich, zwölf Jahre alt, im Januar 1963 das erste Mal trafen. Damals kam Michael nach Oxford, um hier bei seiner Großmutter zu leben. Auch Ellis und Michael prägt die Sehnsucht nach Freiheit und Sonne. Im August 1969 reisen sie nach Frankreich und während der letzten Urlaubstage beginnen sie zu überlegen, was wäre, wenn – wenn sie einfach blieben.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Sehnsüchte und Träume, die nicht gelebt werden, um Freundschaft, Verlust, den Wunsch nach Freiheit und um die Liebe. Es ist eine Geschichte über das Leben und die Aufgaben, vor die es uns stellt, doch „Manchmal macht das Leben Fehler.“ (Zitat Seite 94)

Charaktere

Ellis ist ein begabter Zeichner, aber er beugt sich dem Druck seines Vaters und beginnt eine Ausbildung in der nahen Autofabrik, es fehlt ihm der Mut, sich zu widersetzen. Auch Michael hat Träume und muss erkennen, dass es Träume bleiben werden. Dieses Wissen prägt sein Leben.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung wird zwar fortlaufend erzählt, doch die einzelnen Abschnitte wechseln in der Zeit zwischen Gegenwart und erinnerter Vergangenheit, unterbrechen einander, dadurch wird die Geschichte facettenreich und interessant zu lesen. Auch die Erzählform wechselt. Ellis steht im personalen Mittelpunkt der Geschichte, doch als er Michaels Aufzeichnungen liest, wechselt die Perspektive und Michael wird zum Ich-Erzähler. Dadurch sehen wir manche Situationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, vor allem aber erfahren wir auch von Ereignissen, die parallel im Leben des anderen stattgefunden haben. Die angenehm zu lesende Sprache mit ihrer einfühlsamen Klarheit macht trotz der ernsten Themen das Buch zu einem Wohlfühlroman.

Fazit

Es ist eine leise, poetische Geschichte, die Sprache weckt Erinnerungen an eine Zeit der Jugend, als theoretisch alles möglich war, an Sommer und Freiheit, aber auch an Momente im Leben, in denen man Entscheidungen trifft, die für das zukünftige Leben und alle weiteren Ereignisse prägend sind.

Berta Isla – Javier Marías

AutorJavier Marías
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 31. August 2022
FormatTaschenbuch
Seiten672
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinSusanne Lange
ISBN-13978-3596703418

„Es gab eine Zeit, da war sie sich nicht sicher, ob ihr Mann ihr Mann war, wie man auch im Dämmerschlaf nicht weiß, ob man denkt oder träumt, ob man seinen Geist noch lenkt oder die Erschöpfung ihn in die Irre führt.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Tomás Nevinson hatte schon bald klare Vorstellungen, wie seine Zukunft aussehen würde: verheiratet mit seiner Jugendliebe Berta Isla in Madrid, ein glückliches Privatleben, auch  beruflich erfolgreich. Auf Grund seiner herausragenden sprachlichen Begabung studiert er  in Oxford. Nach vier Jahren erwartet er ein Abschlussexamen mit Bestnoten und danach wird er, noch nicht einundzwanzig Jahre alt, nach Madrid zurückkehren. Als ihm sein Tutor den Vorschlag macht, für den britischen Geheimdienst zu arbeiten, glaubt Tomás, die freie Wahl zu haben, ablehnen zu können, was er auch sofort tut. Doch knapp danach tritt ein Ereignis ein, das ihm keine Wahl mehr lässt und sein Leben und auch das Leben seiner späteren Ehefrau Berta für immer verändert. Obwohl seine Anstellung bei der britischen Botschaft in Madrid seine Reisen nach London für Berta zunächst logisch erscheinen lässt, beginnt sie, Fragen zu stellen, als seine Abwesenheiten immer länger werden und er in diesen Zeiten nicht erreichbar ist. Doch sie erhält keine Antworten, aber wenigstens die Bestätigung, dass es so ist. Dann verschwindet er im Mai 1982 spurlos, Jahre vergehen und niemand weiß, ob er noch lebt.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es nicht um die aktive Tätigkeit der Geheimdienste, sondern vor allem darum, wie dieses Doppelleben, der Wechsel zwischen unterschiedlichen Identitäten und die damit verbundenen Geheimnisse, die Menschen verändern. Themen sind politische Überzeugungen, Beziehung, Familie, Liebe und Vertrauen.

Charaktere

Tomás ist völlig verändert, als er nach dem Abschluss seines Studiums zu Berta zurückkehrt. Ihr fällt auf, dass er nie mehr über die Zukunft nachzudenken scheint, so, als stünde führ ihn alles schon fest. Seinen neuen Patriotismus kann Berta nicht teilen und sie versteht nicht, warum er sich für dieses Leben entschieden hat. Dennoch trennt sie sich nicht von ihm und als er verschwunden ist, gibt ein Teil von ihr die Hoffnung nicht auf, sie hört nicht auf, auf seine Rückkehr zu warten.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch, jedoch aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt. Einerseits schildert der Erzähler personal die Geschichte von Tomás, anderseits erzählt Berta Isla selbst ihre Geschichte in der Ich-Form und diese bildet den Hauptteil des Romans. So erfahren wir Lesenden zeitgleich mit den tatsächlichen Abläufen die Geschichte von Tomás in Oxford, kennen die Hintergründe für seine Entscheidung, die Berta nicht kennt. Wir kennen das Leben von Tomás in diesen Jahren, mehr, als er Berta erzählt, aber auch Bertas Leben während der Abwesenheit von Tomás, Dinge, die er nicht weiß, außer, sie erzählt es ihm. Es ist diese brillant gewählte Art, die Geschichte von Tomás und Berta zu erzählen, die für Spannung sorgt, vor allem aber auch die Problematik und Konflikte aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, uns Lesende zu eigenen Überlegungen anregt und dafür auch Raum lässt. Denn die Sprache nimmt sich viel Zeit für Schilderungen, für die Entwicklung und Charakterisierung besonders der beiden Hauptfiguren.

Fazit

Spannend, mit einer Vielfalt an interessanten Themen, ist dieser Roman vor allem eine einfühlsame, packende Studie der menschlichen Verhaltensweisen.

Als Großmutter im Regen tanzte – Trude Teige

AutorTrude Teige
Verlag S. FISCHER Verlag
Erscheinungsdatum 22. Februar 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten384
SpracheDeutsch
ÜbersetzerGünther Frauenlob
ISBN-13978-3949465123

„Die meisten Geheimnisse der Menschen haben keine Konsequenzen für jemand anderen als sie selbst. Sie wollen einfach nicht, dass andere etwas über sie erfahren. Aber es gibt auch Geheimnisse, die für das Leben der anderen wichtig sind und die erzählt werden sollten.“ (Zitat Seite 361)

Inhalt

Juni, Anfang dreißig, braucht eine Auszeit, um über ihre Ehe mit Jahn und über ihre Zukunft nachzudenken. Sie zieht sich in die Einsamkeit einer kleinen norwegischen Insel zurück. Von ihrer vor kurzem verstorbenen Mutter Lilla hat Juni dort das Haus ihrer Großeltern geerbt. Umgeben von den Erinnerungen an ihre Kindheit, deren erste Jahre sie in diesem Haus bei den Großeltern verbracht hatte, beginnt Juni, die Sachen zu ordnen. Sie entdeckt zwei Schachteln, die tief hinter der Wäsche im Schrank der Großeltern versteckt waren. Darin befinden sich Erinnerungsstücke und ein altes Foto, das ihre Großmutter Tekla mit einem deutschen Soldaten zeigt, datiert 27. Juni 1945. Auf der Suche nach Antworten beginnt Juni nachzuforschen und mit dem Wissen um die Vergangenheit findet sie auch zu sich selbst.

Thema und Genre

In diesem Generationen- und Familienroman geht es um die Auswirkungen, die das Schweigen der Großeltern auf die Nachkommen hat. Der Zweite Weltkrieg, Norwegen unter deutscher Besetzung und die unmittelbare Nachkriegszeit bilden den Hintergrund vor allem für die Schicksale der Frauen in dieser Zeit, Leid, aber auch Freundschaft und Liebe.

Charaktere

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen drei Frauen, Tekla, Lilla und Juni, Großmutter, Tochter und Enkelin. Doch es sind vor allem Männer, die ihr Leben und ihre Entscheidungen geprägt haben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in zwei Erzählsträngen geschildert. Der erste Erzählstrang spielt in der Jetztzeit und im Mittelpunkt stehen Juni und ihre Recherchen. Junis Erinnerungen an ihre Großmutter Tekla, ihren Großvater Konrad, und auch an ihre Mutter Lilla unterbrechen und ergänzen die aktuelle Handlung. Der zweite Erzählstrang spielt in der Vergangenheit, in den Jahren zwischen 1944 und 1948. Die Sprache entspricht dem Genre.

Fazit

Die Beschreibung dieses Romans als „Der bewegende Bestseller aus Norwegen um ein unbekanntes Stück deutscher Geschichte“ hat mich neugierig gemacht. Doch leider ist es nur eine weitere Geschichte des seit einigen Jahren sehr beliebten Genres „Berührender Generationen- und Starke-Frauenfiguren-Roman mit Familiengeheimnis“. Den Hintergrund bildet eine plakative Schilderung der Zeit um und nach Kriegsende im Osten von Deutschland unter den Russen, und im völlig zerstörten Berlin. Somit nichts, das man nicht schon wusste. Auch die deutsche Besetzung Norwegens wird nur kurz und oberflächlich für Teklas Geschichte gestreift. Meine Erwartungen konnte dieser Roman nicht erfüllen, aber ich bin sicher, dass er auch in hier in Deutschland Leserinnen dieses Genres begeistern wird.

Telefónica – Ilsa Barea-Kulcsar

AutorinIlsa Barea-Kulcsar
Verlag Edition Atelier
HerausgeberGeorg Pichler
NachwortGeorg Pichler
Erscheinungsdatum September 2021
FormatBroschiert
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650561

„Das alles war nun der Zielpunkt für die Kanonen und Fliegerbomben der Faschisten. Sie haben recht, wenn sie uns zerstören wollen, dachte Agustín. Wir sind eines der Nervenzentren von Madrid.“ (Zitat Seite 19)

Inhalt

Der 16. November 1936 ist für den Journalisten Stephen Johnson aus London der erste Tag in Madrid. Die vom Bürgerkrieg umkämpfte Stadt steht unter Beschuss, die faschistischen Truppen Francos wollen die Stadt einnehmen, noch halten die Republikaner mit Unterstützung durch die Internationalen Brigaden an der nahen Front stand. Auch für Anita Adam ist es der erste Tag in Madrid, gestern aus Valencia eingetroffen, übernimmt sie an diesem 16. November 1936 ihre erste Nachtschicht als neue Leiterin der Zensurstelle. Sie alle treffen in der Telefónica, der Telefonzentrale, aufeinander. Diese ist der einzige Ort, von dem aus die internationalen Journalisten mit dem Ausland telefonieren können und so ihre Berichte weitergeben. Agustín Sánchez, der Kommandant der Telefónica, ist verschlossen, sehr misstrauisch, aber auch korrekt und ehrlich. Anita Adam braucht seine Unterstützung, denn sie will eine offenere Berichterstattung ins Ausland ermöglichen, lässt mehr zu. Dadurch schafft sie sich sofort Feinde. Da sie eine Frau und dazu noch Deutsche ist, wird ohnedies jeder ihrer Schritte mit Argwohn beobachtet. Die Telefónica ist die einzige Verbindung zwischen dem belagerten Madrid und der Welt draußen und die Angst vor Spionage und Sabotage ist entsprechend groß.

Thema und Genre

In diesem Roman mit geschichtlichem und autobiografischem Hintergrund geht es um den spanischen Bürgerkrieg. Im Mittelpunkt steht die Telefonzentrale von Madrid, dreizehn Stockwerke und zwei Kellergeschoße, als Stadt in der Stadt für die Personen, die hier arbeiten und leben. Themen sind Formen der journalistischen Berichterstattung zwischen Objektivität und Menschlichkeit, vor allem jedoch das Zusammenleben dieser vielen unterschiedlichen Menschen, ihr Verhalten, ihre Gefühle zwischen Intrige, Freundschaft, Eifersucht und Liebe.

Charaktere

Mit ihrem Roman will die Autorin an die Schicksale der vielen Menschen erinnern, die diese Belagerung Madrids erlebt haben. Da sie selbst einige Monate in der Telefónica verbracht hat, sind ihre Figuren authentisch und so unterschiedlich wie im realen Leben. „Die Telefónica war der Wachturm und das Wahrzeichen Madrids in jenen ersten Belagerungsmonaten, als die Menschen über alle die kleinen Ängste und kleinen Tapferkeiten ihrer Einzelleben hinaus zu einem kämpferischen Volk verwuchsen.“ (Zitat Seite 6, Vorwort der Autorin)

Handlung und Schreibstil

Der Zeitrahmen der Handlung umfasst nur vier Tage. Ort der Handlung ist die Telefónica und die sie umgebenden Straßen mit Bars und Restaurants. Die einzelnen Kapitel sind in vier übergeordnete Teile zusammengefasst, wobei jeder Teil einem Tag entspricht. Im Mittelpunkt stehen Anita Adam und Agustín Sánchez und ein Kreis von Figuren, typisch für die Vielfalt, Funktionen und Lebenssituation der Menschen, die damals in der Telefónica beschäftigt waren. Es sind unterschiedliche Schicksale und Geschichten, die abwechselnd erzählt werden, personal die einzelnen Figuren in den Mittelpunkt stellen und so eine weit gefächerte Vielfalt an unterschiedlichen Meinungen, Erlebnissen, Gedanken, Eindrücken und Verhalten schildern. Ein ausführlicher persönlicher Bericht der Autorin über diese Zeit und die Hintergründe dieses Romans, sowie das Nachwort von Georg Pichler vervollständigen dieses Buch.

Fazit

Ein auch auf Grund des realen Hintergrundes sehr interessanter Roman mit zeitlos aktuellen Fragen zum Thema Journalismus und Berichterstattung, der durch seine Spannung, die eindrücklichen Schilderungen, sowie die lebhafte Vielschichtigkeit der Figuren zu einem überzeugenden Leseerlebnis wird.

Die Unpolitischen – Diego Viga

AutorDiego Viga
HerausgeberErich Hackl
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 3. Oktober 2022
Formatgebundene Ausgabe
Seiten696
SpracheDeutsch
ISBN-13978-399065083

„Wenn wir den Kopf in den Sand stecken, weil wir es bequemer finden, nichts zu sehen, nicht zu schauen, erwischt uns die Politik am Ende doch.“ (Zitat Seite 60)

Inhalt

ohannes Kramer studiert an der Universität Medizin, beendet sein Studium erfolgreich. Gleichzeitig arbeitet er bereits im Forschungslabor der Universität Wien, denn er sieht seine Zukunft nicht als Arzt, sondern als Wissenschaftler in der Forschung. 1934 ist für ihn klar, dass er nicht in Österreich bleiben kann. Er bemüht sich um eine Forschungsstelle im Ausland. Uruguay bietet ihm diese Chance, doch alles ist völlig anders, als er erwartet hatte. Er kehrt nach Wien zurück, heiratet seine langjährige Freundin Anna. Trotz seiner negativen Erfahrungen mit Uruguay bleibt für ihn, seine Familie und Freunde Südamerika die einzige Hoffnung. Diesmal ist es Bogotá, Kolumbien. Wieder stehen sie alle am Anfang, müssen jede Arbeit annehmen, die man ihnen überhaupt anbietet, während sie die Vorgänge in Deutschland und Österreich verfolgen und darüber nachdenken, ob sie je wieder in ihre alte Heimat zurückkehren werden können.

Thema und Genre

In diesem wichtigen Roman der österreichischen Exilliteratur, einem autobiografischen Generationenroman, geht es um Österreich unter dem raschen, erfolgreichen Aufstieg des Nationalsozialismus und, damit verbunden, die Flucht ins Exil als einzigen Ausweg. Themen sind der Verlust der Heimat und der mühsame Neubeginn am anderen Ende der Welt, Hoffnungen und Sorgen. Gleichzeitig lesen wir auch über den Werdegang von Johannes als Schriftsteller, seine intensive Arbeit an seinem ersten Roman, der aus seinen Tagebucheinträgen, zahlreichen Aufzeichnungen und Beobachtungen entstehen soll. „Man kommt nie zur rechten Zeit. Entweder man erlebt etwas, oder man schreibt darüber. Es passt nie richtig zusammen.“ (Zitat Seite 331)

Charaktere

Der Arzt und Schriftsteller Paul Engel nennt sich als Schriftsteller Diego Vigas. Für seine autobiografische Hauptfigur wählt er den Namen Johannes Kramer.   

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in vier großen Abschnitten erzählt. Diese sind in Kapitel unterteilt. Johannes, seine Frau Anna und fünf weitere Personen schildern die Ereignisse abwechselnd, jeweils in der ersten Person, Zeitform ist immer das Präsens. Die einzelnen Erzählstimmen wechseln einander ab, immer mit dem jeweiligen Namen als Überschrift eines Kapitels. Mit jedem Wechsel der Erzählstimme beginnt ein neues Kapitel. Natürlich treten in diesem Roman wesentlich mehr Personen auf, deren Erlebnisse in Gespräche der erzählenden Hauptfiguren untereinander einfließen, in die Erinnerungen und vor allem auch in die Gedankenmonologe der Ich-Erzähler. Die geschilderte Gruppe von Menschen kennt einander, als Mitglieder einer Familie, aber auch als Freunde, Kollegen oder über gemeinsame Bekannte. Sie alle verlassen Deutschland, dann Österreich, später auch Europa, manche Schicksale trennen sich, bis sie einander wieder begegnen. „Treffen die Schicksalslinien einander oder geht jeder seinen eigenen Weg ins Unendliche allein, ohne dem anderen zu begegnen?“ (Zitat Seite 204) Diese Erzählform, verbunden mit der Sprache, überzeugt und zieht uns Lesende sofort in den Bann dieses packenden Familien- und Generationenromans. Das Nachwort, verfasst von Erich Hackl, ergänzt mit Fakten aus dem Leben von Paul Engel und seinem Werdegang als Schriftsteller.

Fazit

Ursprünglich hatte der Autor den Titel „Die Parallelen schneiden sich“ gewählt, ein Titel, der Bezug auf diesen besonderen, vielschichtigen Aufbau der Geschichte mit ihren einzelnen Schicksalen und Lebenswegen genommen hatte. Doch unabhängig vom Titel ist dieser Roman ein sehr interessantes, zeitloses, beeindruckendes Beispiel der österreichischen Exilliteratur jener Epoche. 

Der Vulkan / Roman unter Emigranten – Klaus Mann

AutorKlaus Mann
Verlag l’Aleph
Erscheinungsdatum 17. April 2020
FormatKindle-Ausgabe
SammlungSämtliche Romane
Seiten2175 (gesamt, Print)
SpracheDeutsch
ASINB08778LXLL

„Man kann die Gewalt durch Gewalt besiegen, aber nicht aus der Welt schaffen. Der verhängnisvolle Irrtum ist, zu meinen, daß der Zweck die Mittel heilige.“ (Zitat Pos. 4411)

Inhalt

Dieser Roman umfasst etwa 550 Seiten. Er beginnt mit einem Prolog im April 1933, gefolgt von den drei Teilen 1933-1934, 1936-1937, 1937-1938 und endet mit einem Epilog am 1. Januar 1939. In diesem Zeitrahmen werden die Schicksale von Menschen im Exil geschildert. Es waren Wissenschaftler, Geschäftsleute, politische Flüchtlinge, vor allem jedoch Künstler, darunter viele Schriftsteller. Sie alle hatten in der Zeit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ihre Heimat Deutschland verlassen müssen und versuchen nun, nach dem Verlust der Heimat, Identität, ihres gesamten bisherigen Lebens, in einer ihnen oft fremden Welt klarzukommen. Sie treffen einander in Städten wie Paris, Amsterdam, in der Schweiz, in Spanien und in den USA. Es sind Einzelschicksale, die jeweils chronologisch in unterschiedlichen Handlungssträngen geschildert werden, und im Laufe der Handlung manchmal aufeinandertreffen, sich kreuzen, sich verbinden und auch wieder trennen. Doch alle Exilanten haben eines gemeinsam: gespannt verfolgen sie die Ereignisse in Deutschland, diesem Land, das einem gefährlichen Vulkan vor dem alles vernichtenden Ausbruch gleicht.

Thema und Genre

Dieser autobiografische Roman ist 1939 erschienen und wird heute als eines der wichtigsten Beispiele der deutschen Exilliteratur genannt. Es geht um die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, die Flucht der vorwiegend jüdischen Intellektuellen und Bildungsbürger, und die vielen damit verbundenen wirtschaftlichen, aber vor allem menschlichen, Probleme eines unsicheren Lebens im Exil, um Verlust, Entwurzelung und den Versuch, sich unter völlig veränderten Bedingungen zurechtzufinden.

Über diese Ausgabe

Wer nicht das Glück hat, Werke wie dieses in einer alten, gebundenen Ausgabe zu besitzen, dem kann ich diese Sammlung empfehlen. So gut wie kostenlos erhält man folgende Romane: DER VULKAN, MEPHISTO, SYMPHONIE PATHÉTIQUE, FLUCHT IN DEN NORDEN,TREFFPUNKT IM UNENDLICHEN, ALEXANDER, DER FROMME TANZ. Die übersichtlich gestaltete Inhaltsangabe macht es einfach, den jeweiligen Roman zu finden und zu lesen.

Fazit

Romane wie dieser sind auf Grund des realen geschichtlichen Hintergrundes zeitlos gültig und wichtige Einblicke in die politischen Veränderungen einer Zeit, die weniger als einhundert Jahre entfernt ist. Über Klaus Mann und seine Werke gibt es umfassende Fachliteratur und Interpretationen von namhaften Literaturwissenschaftlern, daher ist es nicht meine Absicht, mich hier an einer Rezension zu versuchen. Was mich neben Handlung und Themen beim Lesen dieses Romans persönlich begeistert hat, sind die unterschiedlichen Erzählperspektiven, in Verbindung mit einer eleganten Sprache, die ebenfalls zeitlos ist und genau beobachtet und schildert. Gerade in der heutigen Zeit regt die Vielfalt der brisanten Themen, die Klaus Mann in diesem Roman aufwirft, die Konflikte, Gedanken, Feststellungen und auch politisch relevanten Überlegungen zum Nachdenken an.

Die Liebe an miesen Tagen – Ewald Arenz

AutorEwald Arenz
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 16. Januar 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten384
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832182045

„Fremde Vertrautheit. Ließ sich die Stimmung zwischen ihnen so benennen? Sie sprachen miteinander, als würden sie sich schon lange kennen, aber trotzdem war da dieses Prickeln der Fremdheit.“ (Zitat Pos. 1076)

Inhalt

Clara, Ende vierzig, ist Fotografin und nach dem frühen Tod ihres Ehemannes Paul hat sie nicht vor, wieder eine Beziehung einzugehen. Dann trifft sie Elias, doch dieser ist gerade in einer komplizierten Beziehung, denn Elias ist Schauspieler und pflegt sich auch im realen Leben hinter passenden Rollen zu verstecken. Mit Clara fühlt sich für ihn alles richtig an, er kann er selbst sein. Da erhält Clara ein Jobangebot im sechshundert Kilometer entfernten Hamburg, eine einmalige Chance, wie sie vermutlich nicht noch ein Mal bekommen wird. Kann diese noch so neue Liebe auch als Fernbeziehung funktionieren? Doch dann ist diese Frage plötzlich nicht das größte Problem für Clara und Elias.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Liebe von Menschen, die von früheren Beziehungen geprägt sind, um die damit verbundenen Themen, Probleme und Konflikte.

Charaktere

„Es spiegelte wider, was sie nur schwer benennen konnte: dieses schwebende Gefühl zwischen Trauer und Leichtigkeit, das sie – genau wie echtes Glück – immer nur haben konnte, wenn sie allein war.“ (Zitat Pos. 340) Dieses Gefühl ist typisch für Clara.

„Dieses Gefühl, das im Frühling am stärksten war: dass alles noch kommen würde. Dass er auf etwas wartete.“ (Zitat Pos. 345) Das ist Elias.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, ergänzt durch Erinnerungen in Gedanken und Gesprächen, aus denen sich die Vorgeschichte ergibt. Im Mittelpunkt der einzelnen Kapitel stehen Clara oder Elias oder auch beide und die ihnen nahestehenden Personen, denn es ist auch eine Familiengeschichte. Ewald Arenz erzählt einfühlsam und mit kluger Menschenkenntnis, schildert die Probleme von Partnerschaften zwischen erfahrenen Menschen, spürt den Gedanken seiner Figuren nach, ihren Hoffnungen und Sorgen. Bis zu diesem Punkt gibt dieser Roman bereits genügend Stoff zum Nachdenken über die einzelnen Konflikte und mögliche Entscheidungen. Doch dann bringt der Autor noch ein weiteres Problem in die Geschichte und das war für mich dann zu viel, ich fühlte mich beim Lesen plötzlich wie in einer dieser TV-Serien wo auch pro Kurzfolge ein Problem das nächste jagt. Trotz der vielen Dialoge, die den Roman lebhaft machen und das Lesen angenehm, wurde das letzte Drittel der Geschichte für mich inhaltlich etwas mühsam.

Fazit

Seit ich „Alte Sorten“ gelesen habe, schätze ich den Autor Ewald Arenz sehr und freue mich, wenn ein neuer Roman von ihm auf den Markt kommt. Diesmal jedoch konnte er mich nicht vollkommen überzeugen, ich bin aber sicher, dass viele Lesende das anders sehen werden.

Das Herz von Paris – Veronika Peters

AutorVeronika Peters
Verlag OKTOPUS bei Kampa
Erscheinungsdatum 10. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3311300199

„Dies ist einer der Momente, die man einpacken und mitnehmen können sollte, dachte Ann-Sophie, für Zeiten, in denen alles wieder öde und leer und trostlos sein wird.“ (Zitat Seite 44)

Inhalt

Vor vier Wochen waren Ann-Sophie von Schoeller, dreiundzwanzig Jahre alt, und ihr Ehemann Johann von Berlin nach Paris gezogen. Für Johann, gerade erst am Beginn seiner Laufbahn als Jurist, ist das Angebot, als Partner und späterer Nachfolger in die Anwaltskanzlei seines Onkels in Paris einzusteigen, eine einmalige Karrierechance. Doch auch der milde Frühling in diesem April 1925 kann Ann-Sophie nicht überzeugen, sie findet Paris enttäuschend. Bis sie eines Tages in einer Gasse, zufällig einen kleinen Laden entdeckt. „SHAKESPEARE AND COMPANY, Bookshop, Lending Library”, ist auf der holzvertäfelten Front zu lesen. In der Auslage liegen Bücher in englischer Sprache. Hier, in der Rue de l’Odéon, öffnet sich für Ann-Sophie ein neues, unbekanntes Universum und bald auch der magische Zauber der Stadt Paris.

Thema und Genre

In diesem Roman mit geschichtlichem Hintergrund geht es um das rasante, aufregende Leben in der Pariser Literatur- und Kunstszene in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen. Im Mittelpunkt stehen die zwei legendären Buchläden der ebenso legendären Buchhändlerinen und Verlegerinnen Sylvia Beach und Adrienne Monnier, sowie die Schriftstellerinnen, Schriftsteller, Künstlerinnen, Journalistinnen, mit denen sie befreundet sind – eine eigenwillige, buntschillernde Gemeinschaft von engagierten, selbstbewussten Frauen.

Charaktere

Ann-Sophie wollte einfach ein geordnetes Leben führen, doch tief in ihr ist mehr. Ann-Sophie und wir Lesenden treffen in diesem Roman auf unangepasste, eigenständige Künstlerinnen, sie alle haben ihre eigenen Träume, aber auch ihre inneren Dämonen. Djuna Barnes: „Wir segeln, jede auf ihre Weise, haarscharf an unseren inneren Abgründen entlang und nicht selten auch darüber hinaus.“ (Zitat Seite 53)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, ergänzt durch Rückblenden. Gespräche und Diskussionen fügen weitere Details hinzu und verbinden die fiktive Geschichte von Ann-Sophie mit dem Leben der bekannten, realen Persönlichkeiten der Rue de l’Odéon und mit den Künstlerkreisen der berühmten Salons und Lokale zu einem perfekten Ganzen. „Ich bin Sylvia. Kommen Sie herein, drinnen sind noch mehr zornige Frauen. Lassen Sie uns gemeinsam einen Tee trinken und das richtige Buch für Sie finden.“ (Zitat Seite 19) Bald zeigt sich, dass Ann-Sophie hier weitaus mehr findet, als nur das richtige Buch. Darum geht es in diesem Roman. Literaturbegeisterte werden beim Lesen rasch erkennen, wie genau die Autorin recherchiert hat, und die Quellenangaben am Buchende regen sofort an, einige der genannten Titel als vertiefende Weiterführung dieser Geschichte zu lesen. Ich habe schon den letzten Roman der Autorin, „Die Dame hinter dem Vorhang“, mit Vergnügen gelesen, doch dieser neue Roman über „Das Herz von Paris“ hat mich begeistert.

Fazit

Dieser Roman, in dessen Mittelpunkt die beiden Buchhandlungen in der Rue de l’Odéon stehen, mischt gekonnt Fiktion und die bekannten historischen Fakten. Eine charmante, lebhafte Geschichte über Frauen, die sich bewusst nicht mehr den Zwängen der damals vorherrschenden, traditionellen Gesellschaftsstrukturen und Rollenbilder unterordnen wollten. Sie folgten ihren eigenen Plänen, Träumen und Leidenschaften unbeirrt durch das Chaos, das sich Leben nennt. Lesevergnügen, nicht nur für Büchermenschen.

Ein von Schatten begrenzter Raum – Emine Sevgi Özdamar

AutorEmine Sevgi Özdamar
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 10. Oktobert 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten763
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518430088

„Der Rest des Raumes ist ohne Schatten. Deswegen sieht es nur dort, wo der Schatten gewachsen ist, wie ein Raum aus, wie ein von Schatten begrenzter Raum“ (Zitat Seite 90) „Der Rest des Raumes war ohne Schatten. Deswegen sah er nur dort, so unsere Schatten gewesen waren, wie ein Raum aus, ein von Schatten begrenzter Raum, der sich mit Leben füllte.“ (Zitat Seite 242)

Inhalt

Die junge Ich-Erzählerin aus Istanbul flüchtet vor der türkischen Militärregierung über das Meer nach Europa. Sie hat in Istanbul die Schauspielschule besucht und hält an ihrem Traum fest, als Schauspielerin zu arbeiten. In Berlin pendelt sie als Assistentin des Regisseurs Benno Besson zwischen West- und Ostberlin. Dann holt Besson sie für sein nächstes Projekt nach Paris, anschließend kehrt sie nach Deutschland zurück, zu Claus Peymann an das Schauspielhaus Bochum. „Die Bühne ist großherzig, dort reden die Toten, und jede Nacht kommen die Zuschauer, um diese Toten zu sehen und ihnen zuzuhören. Und die Toten mischen sich nur am Theater in des Leben der Lebenden.“ (Zitat Seite 506). In Bochum schreibt sie auch ihr erstes Theaterstück.

Thema und Genre

Dieser stark autobiografische Roman handelt von der Suche nach Heimat und eigener Identität in einem fremden kulturellen Umfeld, dem Wunsch, sich selbst auch in neuen, fremden Sprachen zu finden. Auch die politische Vergangenheit und Gegenwart Europas im 20. und aktuellen 21. Jahrhundert sind prägende Themen. Doch vor allem geht es um Kultur, um Literatur und das Leben am Theater.

Charaktere

Dieser Roman schildert das Leben und den Werdegang einer vielseitigen Künstlerin als Schauspielerin, Theaterregisseurin und Schriftstellerin. Damit verbunden sind Erinnerungen an befreundete Künstlerpersönlichkeiten, an Menschen, die sie begleitet und gefördert haben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt mit einem Prolog auf einer namentlich nicht genannten Insel ähnlich Alibey Atasi, von der aus man nauf die griechische Insel Lesbos, nach Europa, sehen kann. Dort endet die Geschichte auch mit einem Epilog und dieser Kreis schließt sich wortgenau: „Über uns die Nacht hat aus de dunkelsten Ecken ihrer Erinnerungen etwas herausgeholt und hat dieses Etwas zwischen der Orthodoxkirche, dem Esel, der blinden Frau und mir in der Luft leise verteilt.“ (Zitat Seite 10 und Seite 754). Wortgleiche Wiederholungen wie diese finden sich öfter auf diesen insgesamt 763 Seiten.

Die von vielen Rückblenden unterbrochene Handlung der alltäglichen Ereignisse und Beobachtungen wird in einfachen Sätzen erzählt, ähnlich den Einträgen in einem persönlichen Tagebuch. Doch immer wieder gibt es Überblendungen, plötzlich eingeschobenen Fragmente, die Ort, Zeit und Realität durch- und überschreiten. Dies, und der überbordende Stil der Schilderungen und Beschreibungen fordert sprachlich. Die poetische Sprache, ergänzt durch zweisprachige Gedichte, ist bildintensiv wie ein Film, wie expressionistische Theaterkulissen, aber auch surreal und extrem verstörend und beklemmend, wo es um die Träume der Ich-Erzählerin geht, in denen immer Ängste, Traumata und Tod eine Rolle spielen.

Fazit

Dieser Roman ist eine Herausforderung, eine wilde, anstrengende Reise zwischen dem Wunsch, das Lesen auf Grund der langen, immer wiederkehrenden Gedankenschlingen, der ausufernden Schilderungen und in ihrem Chaos nicht nachvollziehbaren Gedankenbrüche abzubrechen, und der Faszination gerade dieser imposanten sprachlichen Ausdrucksformen der türkisch-deutschen Schriftstellerin.

Der Landvermesser – Björn Kuhligk

AutorBjörn Kuhligk
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 5. September 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten176
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650790

„Ja, vielleicht könnte auch er, wenn er wollte, den Rest seines Lebens in der U-Bahn sitzend in seinen Erinnerungen spazieren gehen, wie durch eine seit langem verlassene und doch vertraute Stadt.“ (Zitat Seite 96)

Inhalt

Alexander Müller, vierundvierzig Jahre alt, führt ein geordnetes Leben, ereignislos, farblos, ein Tag reiht sich im immer gleichen Ablauf an den nächsten, weil er es so will. Bis aus einem gerade begonnenen Urlaub, zwei Tage auf der Insel Hiddensee, plötzlich dreißig Tage in Cartagena, Kolumbien, werden. Kolumbien, seit Jahren die neue Heimat seines um ein Jahr älteren Bruders Thomas. Schon lange haben die Brüder keinen Kontakt mehr und nun ist Thomas tot. Durch Laura, die Freundin seines Bruders und José, den besten Freund seines Bruders, lernt er eine ihm unbekannte Seite seines Bruders kennen. Thomas, von Beruf Botaniker, wird in seiner neuen Heimat „El topógrafo“ genannt, der Landvermesser, doch womit hat er das Vermögen verdient, das er hinterlassen hat?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Gefühle und Ängste, Verlust, Distanz, Nähe, Entscheidungen und neue Möglichkeiten. Ein Thema sind auch die politische Situation und das alltägliche Leben in Kolumbien.

Charaktere

Alexander ist die Hauptfigur in diesem Roman und ist in seiner geordneten, ängstlichen, zögerlichen Biederkeit und deutschen Gründlichkeit der Antiheld im Gegensatz zu seinem unangepassten Bruder, der sich nie untergeordnet hat und sein Leben so gelebt hat, wie er es für richtig hielt.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt und durch viele Erinnerungen Alexanders an prägende gemeinsame Erlebnisse der beiden Brüder Thomas und Alexander ergänzt. Die Spannung ergibt sich sich vor allem aus den vielen Gedanken und der Zögerlichkeit des Hauptprotagonisten Alexander. Seine Selbstzweifel, seine Ängste und für ihn überraschende Gefühle führen zu Konflikten. Alexander hatte zuvor noch nie Europa verlassen und findet sich nun plötzlich mitten in den lauten, farbenfrohen, extremen Eindrücken Kolumbiens wieder, die sich in diesen Tagen mit den Schilderungen von Laura und José über das Leben, das Tomás in Kolumbien geführt hat, zu einer völlig neuen Geschichte verbinden. Die intensiven Beschreibungen der Schönheiten der Natur und der lebhaften, pulsierenden Stadt Cartagena runden diesen Roman zu einem lesenswerten Ganzen ab.

Fazit

Eine vielseitige Geschichte, in der es um die Überraschungen in einem bisher ereignislosen Leben geht und die Schwierigkeit, die eigenen Ängste zu überwinden und sich auf Veränderungen und neue Möglichkeiten einzulassen.

Herz der Finsternis – Joseph Conrad

AutorJoseph Conrad
Verlag Penguin Verlag
Erscheinungsdatum 13. Oktober 2022
FormatTaschenbuch
Seiten173
SpracheDeutsch
ÜbersetzerFritz Güttinger
ISBN-13978-3328109228

„Die einzelnen Abschnitte des Stroms taten sich vor uns auf und schlossen sich hinter uns, als sei der Urwald gemächlich über die Ufer getreten, um uns den Rückweg abzuschneiden. Immer tiefer drangen wir in das Herz der Finsternis ein.“ (Zitat Seite 74)

Inhalt

Während sie auf einer Kreuzerjacht auf der Themse die Flut abwarten, erzählt der Seemann Charlie Marlow seinen Freunden, die Berufe ausüben, wie sie auch in kolonialen Handelsgesellschaften typisch sind, von seiner Reise als Kapitän eines Flussdampfers auf dem Kongo. Der bekannte und äußerst erfolgreiche Agent Kurtz leitet einen wichtigen Handelsstützpunkt, weit abgelegen im Zentrum des Elfenbeingebietes. Nun jedoch sind diese Station und somit auch die wirtschaftlichen Erträge aus dem Handel mit Elfenbein gefährdet, denn Kurtz ist krank und Marlow soll ihn mit dem Dampfer holen. Doch je weiter diese Reise auf dem Fluss führt, hinter dessen Ufern sich der dunkle, unwegsame Dschungel ausbreitet, desto  dunkler werden auch die Eindrücke, die Marlow nicht nur in der Natur, sondern auch im menschlichen Verhalten sammelt.

Thema und Genre

Diese Erzählung, 1899 zunächst als Serie in einem Magazin veröffentlicht, 1902 als Buch, ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus im späten neunzehnten Jahrhundert, der damit verbundenen Menschenverachtung und Grausamkeit gegenüber den ursprünglich dort lebenden Menschen und ihre Ausbeutung.

Charaktere

Neben einem namenlosen Ich-Erzähler der Rahmenhandlung ist es der Seemann Charlie Marlow, der seine eindrücklichen Erlebnisse auf seiner Reise zu einer abgelegenen Handelsstation schildert. Doch im Mittelpunkt seiner Geschichte steht Kurtz als zunächst omnipräsenter Schatten.

Handlung und Schreibstil

Der Seemann Charlie Marlow schildert Erlebnisse, Erfahrungen und auch Eindrücke, die ihn auch heute noch verfolgen. Chronologisch erzählt er von dieser abenteuerlichen Reise auf dem Kongo, beschreibt seine vielseitigen Gedanken über die Eindrücke der ihm fremden Natur und über den ihm vorerst noch unbekannten Agenten Kurtz, der ein besonderer Mensch sein soll.

Auch diese Geschichte des Schriftstellers Joseph Conrad hat autobiografische Hintergründe, seine Erfahrungen aus seiner aktiven Zeit bei der französischen und britischen Handelsmarine und vor allem die Erlebnisse seiner Kongo-Reise als Kapitän eines kleinen Dampfbootes.

Diese Ausgabe ist neu als Penguin Edition der Klassiker erschienen und in der editorischen Notiz am Buchende wird begründet, warum man die Sprache nicht unserem heutigen Verständnis angepasst hat, sondern die deutsche Übersetzung in der Sprache der ursprünglichen englischen Originalausgabe belassen hat. Dem kann ich persönlich nur zustimmen, denn Klassiker sind immer auch zeitlos gültige Dokumente der Zeit, in der sie verfasst wurden.

Fazit

Die Romane und Erzählungen von Joseph Conrad zählen zu den wichtigsten Werken der englischen Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diese Erzählung, längst ein Klassiker, war 1899 einerseits einer der ersten Beiträge zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, gleichzeitig ist es ein spannend zu lesender Abenteuerroman.

Die geheimste Erinnerung der Menschen – Mohamed Mbougar Sarr

AutorMohamed Mbougar Sarr
Verlag Carl Hanser Verlag GmbH
Erscheinungsdatum 24. November 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten448
SpracheDeutsch
ÜbersetzerHolger Fock
ÜbersetzerinSabine Müller
ISBN-13978-3446274112

„Elimane hatte sich dort hingesetzt und die drei stärksten Trümpfe ausgespielt, die man haben konnte: Zuerst hat er sich einen Namen mit geheimnisvollen Initialen zugelegt; dann hat er nur ein einziges Buch geschrieben; und zuletzt ist er spurlos verschwunden.“ (Zitat Seite 16)

Inhalt

Das Labyrinth des Unmenschlichen“, ein ebenso umjubeltes wie kritisiertes Buch von T.C. Elimane, wurde 1938 in Paris veröffentlicht. Kurz darauf verschwindet der Autor und auch das Buch ist seither unauffindbar. Diégane Latyr Faye kennt den Namen T.C. Elimane schon seit seiner Zeit auf dem Gymnasium in Senegal. Er träumt davon, Dichter zu werden, interessiert sich für Literatur und entdeckt 2008 im Handbuch der schwarzafrikanischen Literatur einen Artikel über T.C. Elimane und sein Buch. Inzwischen studiert Diégane in Paris, hat seinen ersten Roman veröffentlicht und schreibt an seiner Doktorarbeit. Er hat Elimane und das verschwundene Buch nicht vergessen, aber seine Nachforschungen bleiben erfolglos, bis er eines Tages im Juli 2018 die die senegalesische Schriftstellerin Siga D. kennenlernt. Denn diese besitzt eine Ausgabe von „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ und gibt es ihm zu lesen. Das Buch zieht ihn sofort in seinen Bann und er will wissen, was damals wirklich passiert ist. Entschlossen folgt er den Spuren des geheimnisvollen Autors T.C. Elimane.

Thema und Genre

Dieser Roman gleicht einer mit einer Fülle von Ideen, vielseitigen Themen, unterschiedlichen Sprach- und Erzählformen gefüllte Schatztruhe, es geht um Literatur, Literaturkritik, das Schreiben, um den Umgang mit Werken aus anderen Sprachräumen und Kulturkreisen. Ein Thema ist die Suche nach dem Gleichgewicht zwischen der eigenen Identität, der persönlichen Geschichte, den Erinnerungen der Familie und der Vorfahren, und der Geschichte, die man als Schriftsteller erzählen will. Auch die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit spielt in diesem Roman eine wichtige Rolle.

Charaktere

Die Namen der Figuren sind fiktiv, doch die Bezüge zur Realität sind deutlich. Jede der einzelnen Figuren, deren Geschichte wir folgen, fügt sich nach Irrwegen und Überraschungen in das Ganze ein. Das Leben der beiden Hauptfiguren Diégane und Elimane weist zudemde utliche Parallelen auf, wenn auch durch Jahre getrennt.

Handlung und Schreibstil

Diéganes aktuelle Geschichte und die intensive Suche nach T.C. Elimane finden innerhalb eines kurzen Zeitraumes statt, es sind die einzelnen Geschichten innerhalb dieser Geschichte, die ein faszinierendes Labyrinth von Menschen und ihren Schicksalen bilden. Der Autor wechselt zwischen Erzählformen, Perspektiven und Sprache, wir finden Auszüge aus Tagebüchern, Zeitungsartikeln, Abhandlungen, Briefen und Biografien. Der Autor nimmt sich Zeit für die Schilderung der Konflikte, der Gefühlsebene seiner Figuren, für die Beziehungen und natürlich auch für die Liebe, wo die Sprache zur Poesie wird. Handlung und Sprache entfalten so eine Vielseitigkeit, die sich jedoch nie verliert und auch offene Fragen beantwortet, die Dinge langsam zusammenfügt und wichtigen Anliegen verbindet.

Fazit

„Eines zumindest kann man über einen Schriftsteller und sein Werk mit Gewissheit sagen: Beide gehen zusammen durch das denkbar vollkommenste Labyrinth, ein langer Rundweg, auf dem ihr Ziel und ihr Ausgangspunkt ineinander übergehen: die Einsamkeit.“ (Zitat Seite 13) Für mich ist dieser Roman einer der Höhepunkte meines Lesejahres 2022, denn hier stimmt einfach alles, die Sprache, die vielen unterschiedlichen Geschichten und Figuren, und immer wieder die Literatur und die Suche von Schriftstellern nach der eigenen Ausdrucksform. Nach dem Lesen der Beschreibung auf der Buchrückseite und des Klappentextes wusste ich nicht genau, was mich erwartet, ich war auf jeden Fall sofort neugierig auf diesen Roman. Was auch immer ich erwartet hatte, es wurde auf jeden Fall übertroffen: ein faszinierendes Leseerlebnis.

Die Nacht, in der Jesus herabstieg – Sherzad Hassan

AutorSherzad Hassan
Verlag Klingenberg
Erscheinungsdatum 18. November 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten280
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinUte Cantera-Lang
ÜbersetzerRawezh Salim
ISBN-13978-3903284135

„Wir alle warten auf einen Fetzen Papier, um zu beweisen, dass auch wir das Recht auf Leben haben. Auf dem Papier steht geschrieben, warum, wie und wann wir geflüchtet sind – ein Haufen Geschichten, zusammengesetzt aus Wahrheiten und auch Lügen.“ (Zitat Seite 13)

Inhalt

Der nun sechsundvierzig Jahre alte Ich-Erzähler mochte schon als Kind keine Menschenmassen und alle hielten ihn für einen Einzelgänger. Diese Einsamkeit in ihm bleibt bestehen, auch als er längst erwachsen ist. Besonders tief sind die Einsamkeit und eine erdrückende Traurigkeit während der Weihnachtszeit. So auch in dieser Neujahrsnacht, in der er über sein Leben, seine ferne Heimat und Familie, über die Menschen und das endlose Warten auf seine Aufenthaltsbewilligung hier in Finnland nachdenkt. Genau diese Nacht wählt Jesus für seine Rückkehr auf die Erde und der kurdische Flüchtling, der allein bei Kerzenschein in seinem Zimmer in einem Flüchtlingsheim in Finnland sitzt, lädt ihn in sein Zimmer und auf ein Glas Wein ein. Aus dem Glas werden mehrere, aus dem Augenblick Stunden. Jesus ist gekommen, um alle Menschen an seine Botschaft zu erinnern, einander zu lieben. Doch seinem kritischen Gegenüber scheint der Zeitpunkt an diesem Tag, wo alle in Feierlaune sind und sicher keinen Prediger hören wollen, denkbar ungünstig. Andererseits ist er doch gespannt auf die Reaktion der Menschen.

Thema und Genre

Dies ist ein philosophischer, religionskritischer Roman mit zeitlos aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen. Anders als der Titel vermuten lässt, handelt es sich um eine kritische Auseinandersetzung allen Weltreligionen in unserer modernen Zeit. Der Ich-Erzähler steht der Hoffnung vieler Menschen auf eine neue Erlöserfigur kritisch gegenüber und auch dem Erlöser selbst. „Was gibt dir die Gewissheit, mich zu einem Fantasiegebilde degradieren zu können, und mich nicht als den anzuerkennen, der ich bin?“ (Zitat Seite 39)

Charaktere

Ein kurdischer Flüchtling in Finnland, Jesus Christus, für eine Nacht ebenfalls in Finnland, und viele Fragen.

Handlung und Schreibstil

1997 begann der Autor am Manuskript für diesen Roman zu schreiben, welcher im Jahr 2012 in kurdischer Sprache erschienen ist. Der Ich-Erzähler zeigt deutlich den autobiografischen Hintergrund. Die Geschichte spielt in einer einzigen Nacht, wird jedoch ergänzt durch Kindheitserinnerungen und die Erinnerungen an prägende Ereignisse, die der Ich-Erzähler seinem Gast schildert. Natürlich spielt auch das Leben Jesu vor beinahe zweitausend Jahren auf der Erde eine Rolle. Starke philosophische und metaphorische Momente lassen unserer Phantasie als Lesende viel Spielraum für eigene Gedanken und Überlegungen. Den beiden Übersetzenden ist es gelungen, die blumige, sehr poetische orientalische Ausdrucksweise auch in dieser deutschsprachigen Ausgabe beizubehalten.

Fazit

Ein interessantes, intensives Leseerlebnis, das viel Raum zum Nachdenken lässt. Mich hat die Inhaltsangabe auf diese Geschichte neugierig gemacht und ich wurde nicht enttäuscht. Es sind gerade die kleinen, unabhängigen Verlage, die bewusst und persönlich entscheiden, welche Titel sie herausbringen. Dieses überzeugte Engagement ermöglicht es uns Lesenden, die persönliche Lese-Wohlfühlzone öfter mal zu verlassen und dadurch völlig neue Eindrücke und Welten zu erkunden.

Das Eis-Schloss – Tarjei Vesaas

AutorTarjei Vesaas
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum 20. Oktober 2021
FormatTaschenbuch
Seiten208
SpracheDeutsch
ÜbersetzerHinrich Schmidt-Henkel
ISBN-13978-3423148184

„Alles war Eis, und das Wasser spritzte dazwischen hervor und baute weiter, Stränge des Wasserfalls wurden vom Eis abgelenkt und schossen in neuen Betten dahin und bildeten neue Formen.“ (Zitat Seite 50)

Inhalt

Die elfjährige Unn ist Waise und erst vor kurzem zu ihrer Tante in das Dorf gezogen. Die gleichaltrige Siss fühlt sich von der scheuen Einzelgängerin angezogen. Doch am Tag, nachdem Siss Unn zum ersten Mal zu Hause besucht hat, verschwindet Unn auf dem Schulweg spurlos. Es ist erst Spätherbst, aber die klirrende Kälte hat den Wasserfall beim nahe gelegenen See zu einem gewaltigen Eis-Schloss gefrieren lassen. In der Schule hatten alle darüber gesprochen, wie großartig der Anblick war, ein Ausflug war geplant – war Unn an diesem Morgen schon alleine zu diesem gefrorenen Wasserfall gegangen?

Thema und Genre

In diesem 1963 entstandenen Roman des norwegischen Schriftstellers geht es um die beginnende Freundschaft zwischen zwei Mädchen. Als eines der Mädchen plötzlich verschwindet, prägt dieses Ereignis das zweite Mädchen und die gesamte Dorfgemeinschaft nachhaltig.

Charaktere

Unn ist eine scheue Einzelgängerin und als sie verschwindet, führen die Erinnerungen an Unn auch Siss in eine tiefe, selbst gewählte Isolation.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt innerhalb eines knappen Zeitraums von wenigen Monaten. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht die elfjährige Siss und wir erleben, wie tief sie durch das Verschwinden ihrer neuen Freundin aus der Bahn geworfen wird. Täglich denkt sie an Unn, verspricht ihr in Gedanken, sich in eine ähnliche innere Einsamkeit zurückzuziehen, die auch Unn umgeben hatte. Die leise Sprache schildert einfühlsam die Gedankenwelt und Gefühle der jungen Siss, verbindet sie gleichsam mit der einprägsamen Beschreibung der unterschiedlichen Naturschauspiele des norwegischen Winters. Im Anhang an den Roman finden wir ein Nachwort, geschrieben von einer beeindruckten, begeisterten Doris Lessing.

Fazit

Eine magische, poetische Geschichte über Freundschaft, Verlust und Trauer, in der ein gewaltiges Naturschauspiel im kalten Winter Norwegens eine wichtige Rolle spielt, real und metaphorisch.

Mein Herz so weiß – Javier Marías

AutorJavier Marías
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 5. April 20212
FormatTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinElke Wehr
ISBN-13978-3596194599

„Jeder zwingt jeden, nicht so sehr, etwas zu tun, was er nicht will, als etwas zu tun, von dem er nicht weiß, ob er es will, denn fast niemand weiß, was er nicht will, es ist nicht möglich, das zu wissen.“ (Zitat Seite 217)

Inhalt

„Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe es erfahren …“ so beginnt dieser Roman. Juan, der nun erwachsene, seit weniger als einem Jahr selbst verheiratete Ich-Erzähler, wächst mit Andeutungen auf, die Ehefrauen seines Vaters Ranz betreffend. Es geht um Teresa, die kurz nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise gestorben ist. Teresa war Juans Tante, denn sein Vater hat später deren jüngere Schwester Juana geheiratet, Juans Mutter. Nach Juans Heirat mit Luisa mehren sich in Juans Bekanntenkreis Andeutungen an die Geschehnisse in der Vergangenheit und vor allem Luisa möchte wissen, was damals wirklich passiert ist. „Vielleicht hat er all diese Jahre darauf gewartet, dass in deinem Leben jemand wie ich auftaucht, jemand, der zwischen ihm und dir vermitteln kann, ihr Väter und Söhne seid sehr ungeschickt miteinander.“ (Zitat Seite 169)

Thema und Genre

In diesem Roman, heute ein moderner Klassiker, geht es um die Möglichkeiten der Sprache als Ausdrucksmittel und Kommunikationsform, um Beziehungen, Familie, um Geheimnisse der Vergangenheit, die auch in der Gegenwart präsent sind und diese prägen und um die Frage, ob Verschweigen bereits eine Lüge ist. Wird eine Schuld durch ein Geständnis geringer, oder aber, indem man darüber schweigt und sie eines Tages dann weit zurück in der nicht mehr veränderbaren Vergangenheit liegt?

Charaktere

Juan arbeitet als Dolmetscher und Übersetzer, wie auch Luisa, mit der er seit knapp einem Jahr verheiratet ist. Sogar seine Gedanken sind von der Kraft der Sprache und der Worte durchdrungen. Am Tag seiner Hochzeit fragt ihn sein Vater: „was nun?“ und genau diese Frage stellt sich auch Juan bereits während der Hochzeitsreise und immer wieder in den Monaten danach.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt innerhalb einer Gegenwart, die nicht ganz ein Jahr umfasst, und einer erinnerten nahen und ferneren Vergangenheit. Die Handlung besteht aus einzelnen Episoden, deren Zusammenhänge man erst gegen Ende der Geschichte erfährt, oder auch nicht. Juan schildert seine Geschichte als Ich-Erzähler, wobei seine Gedanken, Überlegungen, Befindlichkeiten und Ängste den größten Raum dieses Romans einnehmen. Es ist bekannt, dass bei Javier Marías die Sprache im Vordergrund steht, die genauen, sehr ausführlichen Beschreibungen der Gedanken seiner Hauptfiguren in langen Satzgebilden. Auch die Konflikte hinterfragen das Verhalten der Menschen in familiären Beziehungen und beobachten es aus unterschiedlichen psychologischen Blickwinkeln und Fragenstellungen.

Fazit

Sowohl die Problematik, die Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt, als auch die kraftvolle Sprache mit langen Sätzen und Satzfolgen, noch ergänzt durch weitere Gedankensprünge und Einschübe in Klammern, machen aus diesem Roman keine Lektüre, die man eben mal so zwischendurch liest, dieses Buch verlangt die Aufmerksamkeit der Lesenden von der ersten bis zur letzten Seite. Diese Zeit sollte man sich nehmen.

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