Sich lichtende Nebel – Christian Haller

AutorChristian Haller
VerlagLuchterhand Literaturverlag
Datum15. Februar 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten128
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630877334

„Der junge Wissenschaftler spürte, dass diese konkrete und anschauliche Beobachtung in einer Verbindung zu den besprochenen theoretischen Problemen stand. Von welcher Art diese war, blieb ihm unklar, und er war auch zu müde, um weiter darüber nachzudenken.“ (Zitat Seite 8)

Inhalt

Im Frühjahr 1925 beobachtet der junge deutsche Physiker Werner Heisenberg, Gastdozent am Kopenhagener Physik-Institut, zu später Stunde im Faelledparken interessiert eine schattenhafte Gestalt. Ein Mann, der im Lichtkreis der Straßenlaterne auftaucht, dann unsichtbar im Dunkel verschwindet und kurz darauf im nächsten Lichtkreis wieder auftaucht. Die Gedanken des Wissenschaftlers beginnen um die Wahrscheinlichkeit des Auftauchens im nächsten Lichtkreis zu kreisen. Noch ahnt er nur vage, dass diese Beobachtung kurz darauf, während eines Aufenthaltes auf Helgoland, eine wichtige Rolle bei der Entwicklung seiner Quantentheorie spielen wird. Der einsame Spaziergänger dagegen ahnt nichts von seinem Beobachter. Helstedt ist ein emeritierter Professor für Geschichte, und sein Leben ist von Trauer, Einsamkeit und Erinnerungen geprägt.

Thema und Genre

In dieser Novelle geht es um die Fragen des Lebens, um Verlust, Trauer, Alter, Einsamkeit, um Quantenphysik, Philosophie. Ein Thema sind die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung, verbunden mit der Frage, ob wirklich nur existiert, was man auch mit Worten beschreiben kann.

Charactere

Die beiden Hauptfiguren, den jungen Wissenschaftler Heisenberg und den  Geschichtsprofessor im Ruhestand, verbinden zwei Dinge, eine kurze, zufällige Begegnung, die allerdings nur von Heisenberg wahrgenommen wird, und die persönliche Einsamkeit. Doch während sich diese bei Helstedt durch die Trauer über den Tod seiner Ehefrau nach dreißig gemeinsamen Ehejahren ergibt, sucht Heisenberg die Einsamkeit der Natur auf der Insel Helgoland, um in Ruhe über seine physikalischen Fragen im Zusammenhang mit dem Atommodell nachzudenken.

Erzählform und Sprache

Es sind zwei unterschiedliche Lebenswege und Schicksale, die in dieser Novelle abwechselnd erzählt werden und die Christian Haller durch eine kurze Momentaufnahme, eine zufällige und unbewusste Begegnung, verbindet. Doch dieser Moment hat Auswirkungen auf beide Männer, denn auch in Helstedts Leben bahnen sich Veränderungen an. Die klare, genau beobachtende Sprache vertieft die besondere Art dieser Geschichte.

Fazit

Eine dichte, komplexe Geschichte auf verhältnismäßig wenigen Seiten, die gerade deshalb fasziniert und viel Platz für einige Überlegungen lässt.

Der Kartograf des Vergessens – Mia Couto

AutorMia Couto
VerlagUnionsverlag
Datum11. September 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinKarin von Schweder-Schreiner
ISBN-13978-3293006119

„Wie gern würde ich vor den Erinnerungen fliehen, aber jetzt liegt die Vergangenheit vor mir ausgebreitet auf meinem Bett.“ (Zitat Seite 16)

Inhalt

Der Dichter und Literaturprofessor Diogo Santiago kehrt nach vielen Jahren in seine Geburtsstadt Beira zurück. Liana Campos moderiert die Veranstaltung, die zu seinen Ehren stattfindet. Später, als er schon wieder in seinem Hotelzimmer ist, erhält er einen Karton voller alter Dokumente, Fotografien und Notizblätter. Die Unterlagen sind von Liana Campos, ihr Großvater Óscar Campos war jener Inspektor der PIDE, der Diogos Vater, den Dichter Adriano Santiago, vor etwa vierzig Jahren verhaftet hatte. „Es ist ungerecht, eine Vergangenheit zu erben. Als würde uns die Zeit an den Füßen festgebunden.“ (Zitat Seite 17) Liana, bei Pflegeeltern aufgewachsen, ist auf der Suche nach ihrer Mutter, sie braucht Geschichten, um die Lücken in ihrer Vergangenheit zu füllen. Auch Diogo will sich seinen Erinnerungen stellen, hat gleichzeitig Angst davor. „Mich lähmt die Befürchtung, meine Vergangenheit nicht wiederzufinden, vor allem aber die Vorstellung, eine Stadt zu erleben, die ich letztlich nicht kenne.“ (Zitat Seite 21) Gemeinsam beginnen Diogo und Liana nach Antworten zu suchen, doch zunächst tauchen viele neue Fragen auf.

Thema und Genre

Dieser Roman spielt in Mosambik, in der Zeit der Befreiungskriege und aktuell im Jahr 2019. Themen sind die Geschichte Mosambiks als portugiesische Kolonie, vor allem jedoch die Schicksale der Menschen und Familiengeheimnisse. Es geht um das Erinnern und das Vergessen der Vergangenheit.

Charactere

Mia Couto unterstreicht seine Geschichte durch unterschiedliche, in ihren Konflikten, Gefühlen, Beweggründen und Handlungen authentische Figuren, welche die Handlung mit Leben füllen.

Erzählform und Sprache

Die aktuelle Handlung umfasst einen knappen Zeitraum zwischen dem sechsten und vierzehnten März 2019 und hier ist Diogo der Ich-Erzähler, dadurch erhalten wir auch Einblick in seine persönlichen Erinnerungen. Die aktuelle Handlung wird durch Erzählstränge in Form von Dokumenten, Aufzeichnungen und Schilderungen von wichtigen Eeignissen ergänzt, die bis ins Jahr 1951 zurückreichen, hauptsächlich jedoch im Jahr 1973 stattfanden. Die einander abwechselnden Kapitel fügen sich im Lauf der Geschichte zusammen, manchmal als Antworten auf Vermutungen, dann wieder mit überraschenden neuen Fragen und Möglichkeiten. Diese Art des Erzählens, die Varianten der Erzählform und Sprache ergeben eine eindrückliche, packende Geschichte.

Fazit

Ein Roman für interessante, spannende Lesestunden, der durch die Poesie der Sprache, die Vielfalt der Erzählformen und Figuren und die überaus gekonnt sich langsam aus vielen Einzelteilen verknüpfenden Geschichten überzeugt.

Sehr blaue Augen – Toni Morrison

AutorToni Morrison
VerlagRowohlt Buchverlag
Datum12. September 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinTanja Handels
NachwortAlice Hasters
ISBN-13978-3498003678

„Wie geht das denn? Also, wie krieg ich jemanden dazu, mich zu lieben?“ (Zitat Seite 31)

Inhalt

Pecola Breedlove, etwa elf Jahre alt, wünscht sich blaue Augen, so wie Shirley Temple sie hat und auch das kleine Mädchen, für deren Eltern Pecolas Mutter den Haushalt führt. Hätte sie blaue Augen, davon ist Pecola überzeugt, würden die Menschen sie lieben. Im Herbst wartet nicht nur Pecola auf ein Wunder, auch die Schwestern Claudia und Frieda, Pecolas Mitschülerinnen, hoffen auf ein glückliches Zeichen, wenn die Ringelblumen, die sie angesät haben, blühen, dann würde alles gut werden. Doch in diesem Herbst 1941 blühen keine Ringelblumen und Pecolas Leben nimmt eine katastrophale Wendung.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Rassismus, gesellschaftliche Ächtung, Klassendenken, Schönheitsideale, Ausgrenzung und patriarchale Gewalt. Es geht um Aufwachsen in einer Kindheit ohne Zuwendung und Liebe, in einer zerrütteten Familie, und die Auswirkungen dieser Erfahrungen.

Charactere

Pecola Breedlove ist nicht nur Schwarz, sondern wird sogar von den ebenso Schwarzen Menschen in der Nachbarschaft als hässlich empfunden und abgelehnt. Blaue Augen sind für Pecola der Inbegriff von Schönheit und sie ist überzeugt davon, von allen geliebt zu werden, hätte sie blaue Augen. Die einzelnen Figuren dieser Geschichte definieren die Situation der Mädchen und Frauen in den 1940er Jahren.

Erzählform und Sprache

Dieser Roman ist in vier Abschnitte gegliedert: Herbst, Winter, Frühling, Sommer. Die Handlung setzt sich aus Geschichten aus unterschiedlichen Zeiten zusammen. So lesen wir nicht nur über Ereignisse aus dem Leben von Claudia, Frieda und Pecola, in diesen Teilen mit Claudia als Ich-Erzählerin, sondern erfahren auch die Vorgeschichten, das bisherige Leben der Eltern. Die Sprache erzählt und schildert einfühlsam, sehr präzise, und überrascht durch ungewöhnliche Vergleiche und Formulierungen. Die Geschichte beginnt mit einem Textauszug aus einem bekannten und beliebten Kinderbuchklassiker über eine glückliche, weiße Familie, Vater, Mutter, Dick und Jane, und Zitate daraus finden sich wiederholt als Überschrift zu einem Abschnitt mit einem ähnlichen Thema. Dadurch wird der große Unterschied zwischen diesen Kinderbüchern und Pecolas Realität unterstrichen. Ein Vorwort von Toni Morrison und ein Nachwort von Alice Hasters ergänzen den eigentlichen Roman.

Fazit

Obwohl die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison betont, ihren Roman geschrieben zu haben, um die Auswirkungen des Rassismus aufzuzeigen und die Tatsache, was es mit Menschen macht, wenn sie, wie die Schwarzen, seit Generationen als minderwertig bezeichnet werden, ist es für mich in erster Linie eine Geschichte einer Kindheit in Armut und Verwahrlosung, mit Gewalt statt Elternliebe, mit Diskriminierung und Ausgrenzung. Eine eindrückliche Geschichte, wie sie in dieser Zeit ebenso in den New Yorker Slums der Einwanderer stattfanden, und in den europäischen Armenvierteln.

Unschärfen der Liebe – Angelika Overath

AutorAngelika Overath
VerlagLuchterhand Literaturverlag
Datum12. April 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630876344

„Als Baran Anatol Chronas an einem Herbstmorgen in Chur einen Zweitklassewagen der Schweizerischen Bundesbahnen bestieg, wußte er, daß ihm keine gute Ankunft bevorstand. Und doch sollte er sich täuschen über das Ausmaß dessen, was ihn erwartete.“ (Zitat Pos. 43)

Inhalt

Seit etwa drei Jahren leben Baran und sein Schweizer Lebensgefährte Cla in Istanbul zusammen. Diesen Sommer hatten sie in der Schweiz verbracht, bei Clas früherer Partnerin Alva und der gemeinsamen kleine Tochter Florinda. Für einen dringenden Auftrag muss Cla zurück nach Istanbul fliegen, während Baran seine Rückreise erst sieben Tage später antritt, denn er reist lieber mit der Bahn. In dieser Woche lernt er Alva besser kennen. Die Fahrt von Chur nach Istanbul dauert etwa dreißig Stunden und Baran freut sich darauf, über Gleissystemene durch verschiedene Länder zu reisen und Zeit für seine eigenen Gedanken zu haben, über Entscheidungen nachzudenken und diese doch für eine kurze Zeit noch aufschieben zu können. „Unterwegs war er noch nirgendwo und mußte niemand sein.“ (Zitat Pos. 54)

Thema und Genre

Dieser Roman erzählt die Geschichte von drei Menschen, deren Leben miteinander verbunden ist, anhand einer Bahnfahrt von Chur nach Istanbul. Reisebeschreibungen, die Beobachtungen der Menschen auf den Bahnhöfen und in den Zügen, die Baran von der Schweiz aus durch Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Bulgarien bis in die Türkei bringen, vermischen sich mit seinen Erinnerungen und Gedanken. Themen sind Geschichte, Balkanpolitik, Religion, Familie, Beziehungen, Liebe.

Charactere

„Dieser Sommer hatte ihn unsicher gemacht. Etwas in ihm bekam Sprünge.“ (Zitat Pos. 1580). Barans Vater ist Grieche, seine Mutter Türkin, aufgewachsen ist er teilweise in Deutschland, die Erfahrungen der unterschiedlichen Kulturen haben ihn geprägt. Cla und er hatten nie über Treue gesprochen, für Baran war es selbstverständlich, während Cla wiederholt kurze Affären hatte und in den langen Stunden seiner Reise beginnt Baran über die Zukunft ihrer Beziehung nachzudenken.

Erzählform und Sprache

Dieser Roman spielt in dem kurzen Zeitrahmen einer Bahnreise durch Europa. Die einzelnen Kapitel tragen als Überschrift jeweils zwei Städte und die Handlung schildert die Ereignissen auf dem jeweiligen Streckenabschnitt, wobei der Ablauf chronologisch und entsprechend der Route erfolgt. Doch es sind nicht die vorrangigen Ereignisse, die diese Geschichte prägen, und auch nicht die genauen Schilderungen der Landschaften, Dörfer, Städte, durch welche wir der Hauptfigur Baran folgen, sondern jedes Detail wird durch seine Erinnerungen, Überlegungen, Gedanken ergänzt. Er beobachtet Mitreisende, spricht mit ihnen, wobei es oft um die Geschichte der jeweiligen Gegend geht, aber auch um aktuelle Fragen. Doch die langen Reisestunden geben ihm auch Zeit, über seine Liebe zu Cla und über diese letzten Tage mit Alva nachzudenken und sich zu fragen, wie sein Leben weitergehen soll. Es ist eine leise, poetische und gleichzeitig sehr präzise Sprache und eine ungewöhnliche, spezielle Form, eine Geschichte zu erzählen.

Fazit

Ein Zug, der durch Europa und damit auch durch die Geschichte der Balkanländer fährt und ein Reisender, der aus dem Fenster schaut, beobachtet, und über seine Beobachtungen nachdenkt. gleichzeitig aber auch eine Reise durch sein bisheriges Leben, seine Erinnerungen und die Frage, ob er auf der bisherigen Strecke bleiben soll, oder ob seine Gedanken gerade die Weichen für eine Abzweigung in eine neue Richtung stellen.

Der große Wunsch – Sherko Fatah

AutorSherko Fatah
VerlagLuchterhand Literaturverlag
Datum30. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten384
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630877372

„Ich bin hier, um meine Tochter zu finden, die von Deutschland aus herkam, um einen verrückten Traum zu realisieren, sagte er sich und wusste, schon dieser Anlass für die Reise hätte seinen Vater den Kopf schütteln lasen.“ (Zitat Pos. 46)

Inhalt

Murad lebt in Berlin. Seit der Scheidung von seiner Frau Dorothee hat er den Kontakt zu der gemeinsamen Tochter Naima verloren, doch er war überzeugt, seine Tochter, inzwischen zwanzig Jahre alt und eine moderne junge Frau, gut zu kennen. Bis Naima vor zehn Monaten verschwunden ist. Sie ist einem jungen Glaubenskrieger ins Kalifat Syrien gefolgt und ist nun verheiratet. Murad lässt nach seiner Tochter suchen, sein bester Freund Aziz, verfügt als Kriegsreporter über viele Kontakte. Dann beschließt Murad, sich selbst mit Hilfe von Schleppern in das kurdische Grenzgebiet durchzuschlagen, vor Ort auf neue Informationen zu warten und seine Tochter nach Hause zurückzuholen. In einem kleinen Dorf wartet er auf den Boten, der mit einer syrischen Organisation in Verbindung steht, die Aussteigern, die zurück nach Hause wollen, bei der Flucht aus dem Kalifat zu helfen. Ist die junge Frau, die in einem Audiotagebuch von ihrem Leben berichtet, seine verschollene Tochter Naima? Wie kann er wissen, ob die tief verschleierte Frau auf den Fotos seine Tochter ist? Wenn ja, will sie überhaupt gerettet werden?

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht ein Vater mit kurdischen Wurzeln, der in Deutschland aufgewachsen ist und der Heimat seiner Eltern längst entfremdet, auf der Suche nach seiner Tochter, die sich genau diesen Wurzeln zugewendet hat und schon in der Pubertät den Kontakt zum Vater weitgehend abgebrochen hat. Themen sind Familiengefüge zwischen den Kulturen und Religionen, Freundschaft, Vertrauen, die unterschiedlichen Welten und  Denkweisen in Ost und West, die Einflussnahme der westlichen Politik auf die Konflikte in diesem gefährlichen Krisengebiet.

Charactere

Seine Frau denkt über Murad „immer zu spät und dann in der falschen Richtung unterwegs.“ (Zitat Pos. 868) Sie drängt, will genaue Berichte und Ergebnisse über die Suche nach ihrer Tochter und versteht nicht, dass es in dieser sensiblen, gefährlichen Situation wichtig ist, Geduld zu haben, zu vertrauen und zu warten. Murad und die Menschen, die er trifft, vertiefen in ihren Ansichten und in ihrem Verhalten die Authentizität dieser Geschichte.

Erzählform und Sprache

Es ist eine Geschichte auf vielen Ebenen, in einer personalen Erzählform in deren Mittelpunkt die Hauptfigur Murad steht. Murad reist in ein Dorf im türkisch-syrischen Grenzgebiet, unternimmt mit seinem Fahrer Streifzüge, trifft sich mit seinen Mittelsmännern. Als sein Zimmervermieter ihm ein abgeschiedenes kleinen Haus in Miete überlässt, hat Murad einen Rückzugsort. In den nun folgenden einsamen Stunden und Tagen des Wartens entwickelt sich eine zweite Geschichte, die der Bewusstseinsströme seiner Erinnerungen, Überlegungen und Gedanken. Er denkt über sein Verhältnis zu seiner verschwundenen Tochter nach, fragt sich, was er als Vater hätte besser machen können. Hätte er mehr mit ihr über die kulturellen Wurzeln der Familie gesprochen, hätte sie das vielleicht daran gehindert, selbst in einer ihr völlig fremden Welt danach zu suchen. Kritisch hinterfragt Murad in seinen Gedanken die Eingriffe der westlichen Politik in diese Krisenregion und die kulturellen Unterschiede, die schon in der Familienstruktur beginnen. Im Hintergrund verläuft jedoch, für Murad und damit auch uns Leser zunächst unbemerkt, eine dritte, reale Geschichte, die sich mit kleinen Hinweisen erst zum Ende erschließt. Die Sprache erzählt einfühlsam von der realen und philosophischen Suche eines Vaters nach seiner verschwundenen Tochter, nimmt sich aber auch Zeit für bildintensive Schilderungen der wilden, kargen Landschaft, des Dorflebens, der Menschen und der Natur.

Fazit

Ein beeindruckender, auch sprachlich überzeugender Roman, eine vielseitige Geschichte und eine besondere Art des Erzählens mit wichtigen, aktuellen Themen, der wir mit Interesse und gebannt folgen und die zum weiteren Nachdenken anregt.

Südstern – Tim Staffel

AutorTim Staffel
VerlagKanon Verlag Berlin
Datum30. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten287
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3985680948

„Wir packen all das Unausgesprochene und Übergangene ein, nehmen es mit, warten auf eine nächste Gelegenheit, jeder für sich.“ (Zitat Pos. 1639)

Inhalt

Eines Tages hat die Pharmakologin Vanessa Paschke eine Geschäftsidee, die sie auch umsetzt. Denn sie hat beides, das erforderliche Fachwissen und die notwendigen Verbindungen. Als Kurierdienst ist sie mit ihrem mobilen Apothekenwagen unterwegs und liefert an ihre Kunden alles aus, was diese brauchen, um den Anforderungen ihres täglichen Lebens nicht nur standzuhalten, sondern diese auch erfolgreich zu meistern. Der Berliner Streifenpolizist Deniz Aziz fährt Streife in einem turbulenten Berliner Alltag abseits der Touristenströme, bedingt durch den Personalmangel in mehreren Schichten, immer bemüht, Konflikte zu lösen, und kümmert sich gleichzeitig auch um seinen kranken, alten Vater. Als sie einander treffen, prallen zwei gegenteilige Welten aufeinander, was Vanessa erst ahnt, als sie Deniz plötzlich in seiner Polizeiuniform sieht.

Thema und Genre

Dieser Roman spricht alle brisanten Themen unserer Zeit an, von den fehlenden Arbeitskräften in allen wichtigen Bereichen, vom Großstadtleben auf den Straßen und in den Lokalen und Bars, die Außenseitern eine zweite Heimat sind, von den Krankheiten im Alter, bis zu den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Freundschaft und verständnislosem Schweigen.

Charactere

„Ich heiße Vanessa und bin ein Engel.“ (Zitat Pos. 48) Mit diesem ersten Satz beginnt der Roman. So sehen sie ihre Kunden, so sieht auch sie selbst ihre Tätigkeit, als Botin, die ihre Kunden mit Substanzen für Glücksgefühle und Leistungssteigerung versorgt. Deniz, sein deutscher Vater Markus, seine Streifenkollegin Jovanna Coric, Vanessas Freund Olli, ein Politiker, ihr Bruder Felix, ihr väterlicher Freund Andreas „Bär“, sie alle stehen für eines der Konfliktthemen dieses Romans und in diesem Kontext kennen wir sie, ihr Alltagsleben, ihre Probleme, ihr Schicksal, ihr Verhalten. Weitere Figuren tauchen auf, sobald ein weiteres Thema angeschnitten wird, verschwinden wieder.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte wird abwechselnd von Vanessa und Deniz erzählt, jeweils in der ersten Person, sodass wir in diesen Abschnitten mehr über die beiden Figuren erfahren, was treibt sie an, ihre Wünsche, Gedanken, ihr Verhalten und Handeln. Ihre Beobachtungen schließen die anderen Figuren mit ein, sodass wir auch über diese mehr erfahren. Der Schwerpunkt dieses Autors liegt im Erzählen von Ereignissen, Situationen, und seine Sprache ist ebenso rasant, kurz, präzise. Für Beschreibungen und Schilderungen nimmt er sich keine Zeit. Dafür taucht plötzlich ein surreal-metaphorisches Kapitel auf. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass der Autor zu jenen Schriftstellern gehört, die nicht zuvor die gesamte Handlung und ihre Figuren plotten, sondern dass er seine Figuren einfach losgeschickt hat und dann jeweils neue Ideen hatte, welche brisanten Konflikte unserer Zeit, die ihm ein Anliegen sind, er noch in die Handlung einbauen könnte. Ein Roman aus aneinandergereihten Episoden, welche durch die Hauptfiguren verbunden sind.

Fazit

Eine Sprache, direkt und frontal, ohne Atemholen und Innehalten. Ein Roman wie ein Polizeibericht auf einer der Substanzen, die Vanessa mit ihrem speziellen Kurierdienst ausliefert. Dennoch, oder gerade deshalb, eine sehr interessante Leseerfahrung.

Vatermal – Necati Öziri

AutorNecati Öziri
Verlagclaassen Verlag
Datum27. Juli 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3546100618

„Ich dokumentiere mein Verschwinden, und wenn ich mir abends die bunten Graphen anschaue, weil ich vor Angst nicht schlafen kann, bilde ich mir ein, zu verstehen, worauf es hinausläuft.“ (Zitat Pos. 175)

Inhalt

Arda Kaya studiert in Berlin. Doch dann, nach einem Zusammenbruch, die Diagnose lautet Organversagen. Er fährt noch nach Hause, in seine Heimatstadt irgendwo im Ruhrgebiet, damit ihn seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin im Krankenhaus besuchen können. Sein Vater Metin hat die Familie verlassen, bevor er geboren wurde. In den langen Stunden im Krankenzimmer schreibt Arda die Geschichte seines bisherigen Leben auf, als Brief an seinen unbekannten Vater. „Ich werde diese Geschichte aufschreiben, dir und meinen beiden Halbbrüdern. Damit sie wissen, dass sie noch einen Bruder und eine Schwester hatten, damit sie erfahren, wem ihr Vater wie ein Vater war, damit sie schätzen lernen, wie viel Zeit und Liebe sie von dir bekommen.“ (Zitat Pos. 208)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Geschichte einer deutsch-türkischen Familie, die Mutter Ümran ist als kleines Kind nach Deutschland gekommen, ihre Kinder Arda und seine ältere Schwester Aylin sind in Deutschland geboren. Es geht um Söhne, die aus unterschiedlichen Gründen ohne Väter als Vorbild aufwachsen und die als Heranwachsende versuchen, die Rolle der abwesenden Väter einzunehmen, weil es von ihnen erwartet wird. Doch auch die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern ist ein Thema. Weitere Themen sind Freundschaft, Identität, die Suche nach Zugehörigkeit und den Platz im eigenen Leben.

Charactere

Wie Arda aussieht, wissen wir aus seiner eigenen Beschreibung, sein Leben, seine Gedanken, Erfahrungen und Zweifel erfahren wir, als er seine Geschichte niederschreibt. Doch er erzählt nicht nur seine eigene Geschichte, sondern auch die seiner Mutter Ümran, die nie wirklich gefragt worden war, was sie selbst wollte, die dennoch versucht, ihr Leben irgendwie zu meistern und die Geschichte seiner Schwester Aylin, die sich immer um den kleinen Bruder kümmert, bis sie ihren eigenen Weg gehen muss.

Erzählform und Sprache

Arda ist der Ich-Erzähler seiner Geschichte. Chronologisch, jedoch mit Zeitsprüngen, schildert er sein Leben und das seiner Schwester Aylin. Dort, wo Ümran und später auch Aylin ihm jene Ereignisse und Erlebnisse erzählen, die er nicht wissen kann, wird die Erzählform personal. Diese Abwechslung macht die Erzählform interessant, packend und lebhaft. Sie zieht uns als Leser mitten in die Ereignisse, in eine Welt am Rande einer Stadt im Ruhegebiet, deren ehrliche Schilderung durch ihre zornige, manchmal humorvolle Direktheit überzeugt. Auch die Sprache passt sich in den entsprechenden Episoden der Welt der Heranwachsenden an.

Fazit

„Erzählen ist wie Wasser, Metin, einmal unterwegs, findet es seinen Weg von selbst.“ (Zitat Pos. 784) Dieser eindrückliche Roman mit dem ganzen Spektrum menschlicher Gefühle, Hoffnungen und Schicksale hat den Weg zu uns Lesern gefunden.

Nichts als Himmel – Peter Henisch

AutorPeter Henisch
VerlagResidenz Verlag
Datum14. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten232
SpracheDeutsch
ISBN-13 978-3701717767

„Als ich hier angekommen bin, auf dem Parkplatz vor der Stadtmauer, hat die Luft über dem Asphalt gezittert. Jetzt fallen schon die Blätter von den Platanen.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt

Paul Spielmann hat nach seiner Scheidung, fünfundfünfzig Jahre alt, auch seine feste Stelle als Lehrer für Mathematik und Musik gekündigt. Schon mehrmals haben ihm seine Therapeutin Julia und deren Ehemann Marco angeboten, in ihrer italienischen Ferienwohnung in San Vito eine Auszeit zu nehmen. Als Pauls Comeback als Liedermacher scheitert, nimmt er das Angebot an. Obwohl er rasch bemerkt, dass es nicht mehr das verträumte San Vito ist, von dem Julia und Marco schwärmen, sondern ein von italienischen Touristen überlaufenes Städtchen, findet er auf der Terrasse über den Dächern Ruhe, beobachtet die Vögel, besonders ein Taubenpaar, und die Wolken. Bis eines Tages Abdallah vom Dach auf die Terrasse springt, auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um eine Lebenskrise, Stillstand, eine Auszeit, um die Suche nach einer möglichen persönlichen Zukunft. Themen sind der italienische Sommer nach der Pandemie, Freundschaft, der politische Rechtsruck in Italien und das Leben der Flüchtlinge, die über das Meer nach Italien kommen.

Charactere

„Wer bist / DU?, wiederholen sie, wer bist / DU? Wer bist / DU? Ich bin Paul, sage ich, aber sie scheinen mir nicht zu glauben.“ (Zitat Seite 22) Nicht nur die Tauben fragen Paul, wer er ist, auch er selbst stellt sich diese Frage während der Wochen, die er auf dieser Terrasse mit dem Blick über die Dächer in die Weite der Landschaft verbringt.

Erzählform und Sprache

Paul selbst schildert diese Zeit in San Vito als Ich-Erzähler in der Gegenwart, etwa Sommerende, und beginnt chronologisch mit seiner Ankunft Ende Mai. Er lässt uns an seinen Begegnungen mit besonderen Menschen teilhaben, die er in San Vito trifft, und vor allem an seinen genauen Beobachtungen der Natur, die ihn mit immer neuen Facetten erstaunt und fasziniert. Durch seine Gedanken, Sorgen, sein Verhalten und seine Entscheidungen erfahren auch wir immer neue Details über ihn. Die Sprache erzählt leise, einfühlsam, in den Beschreibungen lebhaft und anregend.

Fazit

Eine aktuelle Geschichte über einen Stillstand im Lebenslauf, nachvollziehbar und wohl vielen von uns bekannt, dazu italienisches Lebensgefühl und brisante politische Themen.

Südfall – Florian Knöppler

AutorFlorian Knöppler
VerlagPendragon Verlag
Datum16. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten248
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3865328519

„Er hob den Blick, schaute ein paar Seeschwalben hinterher und versuchte an die Zukunft zu denken, daran, wie es jetzt weiterging. Langsam schälten sich ein paar Überlegungen heraus.“ (Zitat Pos. 121)

Inhalt

Der Engländer Dave Milton ist Tierarzt, doch in diesem Sommer 1944 ist er als Soldat der Air Force im Einsatz. Sein Flugzeug wird über dem norddeutschen Wattenmeer abgeschossen, er kann mit dem Fallschirm abspringen und überlebt. Eine alte Frau, alle nennen sie die Halliggräfin, findet ihn, und er könnte auf ihrem Anwesen auf der abgelegenen Hallig Südfall das absehbare Ende des Krieges abwarten. Doch er will zurück nach Hause zu seiner Frau Claire, zuerst entlang der Küste immer in Richtung Norden bis nach Dänemark, und von dort aus nach England. Die Halliggräfin kennt jemanden nahe der deutsch-dänischen Grenze, der ihm mit seinem Boot helfen könnte.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen die Menschen, ihr persönliches Schicksal und ihre Entscheidungen, die sie im Zusammenhang mit Dave, Engländer und somit Feind, treffen müssen, helfen oder melden. Es geht um Mut, Vertrauen, Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen in allen Facetten.

Charactere

Dave könnte sich auf Südfall verstecken, dort in Sicherheit das Kriegsende abwarten. Doch er kann nicht untätig abwarten, er hat keine Geduld, er muss handeln und es zumindest versuchen. Es sind die unterschiedlichen Figuren, die den besonderen Sog dieses Romans ausmachen, ihre persönliche Situation, ihre Probleme und Konflikte, und genau daraus ergeben sich auch die unterschiedlichen Gründe, warum sie Dave auf seiner Flucht helfen.

Erzählform und Sprache

Die Handlung spielt innerhalb eines knappen Zeitraums von wenigen Tagen. Im personalen Mittelpunkt des ersten und des letzten Abschnitts steht Dave. In den vier Abschnitten dazwischen lernen wir jeweils eine eigene, andere Hauptfigur kennen, ihre Gedanken und Verhalten. Auch die zeitliche Abfolge verläuft nicht immer chronologisch, was jedoch in der Kapitelüberschrift zu lesen ist. Die Spannung ergibt sich aus der abenteuerlichen Flucht selbst und der immer neuen Frage, ob und bei wem Dave Hilfe findet. Diese Erzählform ist interessant und ungewöhnlich, dieses gekonnte Verknüpfen und Verändern der Blickwinkel innerhalb einer dennoch klar strukturierten Handlung. Die Sprache überzeugt durch einfühlsame Schilderungen und lebhafte Beschreibungen der Landschaft.

Fazit

Ein faszinierender Roman über eine abenteuerliche Flucht entlang der norddeutschen Küste, in dessen Mittelpunkt jedoch die Begegnungen zwischen sehr unterschiedlichen Menschen stehen, was die Geschichte zu einem beeindruckenden Leseerlebnis macht.

Tasmanien – Paolo Giordano

AutorPaolo Giordano
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum21, August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten335
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinBarbara Kleiner
ISBN-13978-3518431320

„In einem Augenblick kehrte ich allem den Rücken und machte mich mit leichtem Gepäck auf in eine unvorhersehbare Zukunft. Was würde ich dort draußen vorfinden?“ (Zitat Seite 183)

Inhalt

Paolo ist mit Giulio seit der gemeinsamen Zeit ihres Physikstudiums befreundet.  Giulio arbeitet als Physiker an einem Forschungsauftrag in Paris, Paolo wurde Schriftsteller, Journalist, unterrichtet Wissenschaftsjournalismus und lebt in Rom. Im November 2015 ist er Anfang vierzig und nimmt an der Klimakonferenz in Paris teil, wohnt dort bei seinem Freund Giulio, lernt den Klima- und Wolkenforscher Dr. Novelli kennen. Für Paolo ist dies der Beginn einer Rastlosigkeit, eine Zeit vieler Reisen, er beobachtet die Beziehungen in seinem Umfeld, doch entzieht sich seiner eigenen seit jenem Tag im November 2015, wo ihm nach drei Jahren intensiver, aber erfolgloser Versuche klar wird, dass sein Wunsch nach einem gemeinsamen Kind mit seiner Frau Lorenza unerfüllt bleiben wird. Der Klimawandel, die Veränderung der Ökosysteme, der internationale Terrorismus, es sind die großen Zukunftsthemen, die Paolo beschäftigen, doch für ihn endet in dieser Zeit alles bei der Frage, wie seine persönliche Zukunft in dieser Welt aussehen soll.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft brisanten Themen unserer Tage, aber auch um Beziehungen und deren Scheitern, Elternschaft, Glaube, Liebe, Freundschaft.

Charactere

Paolo ist mit seinen Konflikten und Problemen die Hauptfigur, durch seine Freundschaften, in deren Leben und Probleme er Einblick erhält, erweitert sich auch der Kreis der Kernfiguren.

Erzählform und Sprache

Paolo schildert als Ich-Erzähler sein Leben in den Jahren zwischen 2015 und 2022, seine Freundschaften, seine Reisen. Er ist ein genauer Beobachter der Paare in seinem Umfeld und ihrer Beziehungen und ihres Lebens, er verbindet diese Erfahrungen mit seinen weiter zurückliegenden Erinnerungen, seinen Gedanken über die aktuellen Tagesthemen, über die Wissenschaft, aber auch über philosophische Themen wie Glaube, Leben und Tod, Freundschaft. Seine persönliche Suche und Fragestellung nach seinen eigenem Platz im Leben, sein Tasmanien als metaphorisches Symbol für einen möglichst weit von allen Katastrophen entfernten Sehnsuchts- und Rückzugsort zieht sich durch den gesamten Roman. Die Handlung fügt sich aus vielen einzelnen Episoden zusammen.

Fazit

Dieser Roman über die unterschiedlichen Aspekte der Lebenssituation einer Erwachsenengeneration in der Mitte ihres Lebens ist eine komplexe, facettenreiche Suche mit vielen Fragen, eine Bestandsaufnahme mit einer Auswahl an möglichen Antworten, die jedoch vage bleiben.

Der Hund, der nur Englisch sprach – Linus Reichlin

AutorLinus Reichlin
VerlagGaliani Berlin
Datum17. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten320
SpracheDeutsch
ISBN-13‏978-3869712857

„Klar, der Hund war dabei, aber jetzt ist er erstens weg. Und selbst wenn er hier wäre, würde er eisern schweigen. Ja, wenn Hunde sich etwas in den Kopf setzen, die können stur sein, denkt Felix.“ (Zitat Pos. 74)

Inhalt

Es ist eine von diesen heißen Tropennächten in Deutschland, genau genommen die erste im Jahr 2022, als alles damit beginnt, dass der vierundsechzig Jahre alte Felix Sell aus Nostalgiegründen zwei vierundvierzig Jahre alte LSD-Pillen ausprobiert. Damit startet ein Abenteuer, das rasch zu einer Reihe von unvorhersehbaren Ereignissen führt, die Felix völlig überfordern und zu überrollen drohen, wäre da nicht der Hund, der ihm mit Rat und Tat, vor allem mit den Ideen dazu, zur Seite steht. Hobo, ein kleiner Jack-Russell Rüde, der nur eines will, dass Felix ihn vor seinen Entführern in Sicherheit und so rasch als möglich zurück in seine Heimat, nach Naples, Florida, bringt.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine moderne Abenteuergeschichte, philosophisch, menschlich, sehr komisch und manchmal sehr surreal, oder doch real?

Charactere

Felix Sell ist ein geschiedener Landschaftsarchitekt in Pension, und lebt allein ein pragmatisches, ruhiges Leben. Anschaffungen berechnet er auf Grund seines Alters mit einem Preis-Leistung-Lebenserwartungsverhältnis. Er mag Katzen, doch diesen Hundeaugen kann er sich auf die Dauer nicht entziehen. Hobo liebt Leckerli und jagt begeistert Stöckchen nach, er ist ein ganz normaler Hund, mit einer Ausnahme: er spricht Englisch, genau genommen amerikanisches Englisch, und dies wesentlich besser als Felix.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, an den ein Handlungsablauf anschließt, der innerhalb eines knappen Zeitrahmens von wenigen Wochen stattfindet und zu der Situation im Prolog führt. Im personalen Mittelpunkt der Geschichte, deren Erzähler manchmal ins Auktoriale wechselt, steht Felix, da neben den Action-Elementen der Handlung auch seine Gedanken und inneren Monologe eine wichtige Rolle spielen. Denn natürlich beschäftigen Felix die Zweifel, ist der Hund nun real, ist eine andere logische Erklärung möglich, als die, dass es sich um eine Halluzination als Folge der beiden Pillen handelt, im letzteren Fall ein Zustand, der bald vorbeigehen sollte. Doch bis er Klarheit hat, versteckt er sich mit Hobo vor dessen Entführern, nur um sicherzugehen. Die Sprache erhöht das Lesevergnügen, unterhält zusätzlich mit den kleinen Missverständnissen durch den amerikanischen Slang des frechen, temperamentvollen Jack Russell Terriers, der wohl nicht nur für mich die eigentliche Hauptfigur in dieser Geschichte ist.  

Fazit

Der knappe Zeitrahmen, Flucht vor Verfolgern, Konflikte mit der Polizei, sorgen für Spannung, die Geschichte selbst mit vielen skurrilen Szenen für lautes Lachen, der kleine, freche Hund für den Wohlfühlfaktor. Es ist ein schmaler Grad zwischen möglicher, logisch argumentierbarer Realität und phantasievoller Einbildung und dem Autor ist genau dieser geniale Mittelweg gelungen.

Mama Odessa- Maxim Biller

AutorMaxim Biller
VerlagKiepenheuer&Witsch
Datum17. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004861

„Im Mai 1987 – ich war erst sechsundzwanzig Jahre alt – schrieb mir meine Mutter auf einer alten russischen Schreibmaschine einen Brief, den sie nie abschickte.“ (Zitat Pos. 55)

Inhalt

1971 durfte die jüdische Familie Grinbaum aus der Sowjetunion ausreisen, doch statt in Tel Aviv, wie sein Vater Gena es sich gewünscht und geplant hatte, landen sie in der Bieberstraße 7 im Hamburger Grindelviertel. Hätte Aljona Grinbaum Jahre später ihren Mann auf einer seiner Reisen nach Israel begleitet, hätte dieser vielleicht die junge Deutsche nicht kennengelernt, wegen der er nun seine Frau verlässt. Mischa Grinbaum, der Sohn, ist noch ein Kind, als sie Odessa verlassen, inzwischen ist er längst erwachsen und Schriftsteller. Die großen Lücken in der Geschichte seiner Familie füllen sich erst langsam, verbinden sich mit seinen plötzlich wieder auftauchenden Kindheitserinnerungen, als er nach dem Tod seiner Mutter neben den alten Unterlagen und Fotoalben auch das Manuskript für ihr zweites, nicht mehr veröffentlichtes, Buch findet, und ein Bündel Briefe, die sie im Laufe vieler Jahre an ihn geschrieben, aber nicht abgeschickt hatte.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Generationen- und Familienromans einer russisch-jüdischen Familie steht der Schriftsteller Mischa Grinbaum und natürlich sind Literatur und das Schreiben Themen, doch vor allem geht es um die Konflikte in Eltern-Kind-Beziehungen, um Familiengeheimnisse und der Geschichte der Juden in Russland.

Charactere

Im gedanklichen Hintergrund der Familie immer präsent ist Jaakow Gaikowitsch Katschmorian, Aljonas Vater, Mischas Großvater, der in Odessa geblieben ist. Mischa beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller schon in jungen Jahren, während seine Mutter zwar ihr ganzes Leben lang ihre eigenen Erfahrungen als Erzählungen niederschreibt, doch als ihr erstes Buch herauskommt, ist sie weit über sechzig Jahre alt. Sie lieben einander, aber besonders Mischa braucht viel Abstand. Den Zugang zu seiner Mutter findet er, indem er über sie schreibt.

Erzählform und Sprache

Mischa schreibt die Geschichte seiner Familie in der ersten Person, in Kapiteln, doch es gibt keine chronologische, fortlaufende Handlung. Es sind, wie in der persönlichen Erinnerung, Episoden, die je nach Situation und Ereignis auftauchen, und daher auch lebhaft wiederholt zwischen den Zeiten wechseln, von der Gegenwart in unterschiedliche Jahre in der Vergangenheit, und wieder zurück. Erzählungen aus dem Buch der Mutter, jeweils ein eigenes Kapitel, vertiefen mit weiteren Details, die der Ich-Erzähler nicht wissen kann. Dennoch, und hier zeigt sich auch in diesem Roman das besondere Können des Autors, entsteht nie eine Unruhe in den Abläufen, es bleiben am Ende keine offenen Erzählstränge, sondern die Einzelteile füllen die Lücken eines im Hintergrund immer präsenten Gesamtbildes einer Familiengeschichte mit allen Höhen, Tiefen, Konflikten und Geheimnissen. Die Sprache ist einfühlsam, in den Beschreibungen präzise, bunt und lebhaft und man liest dieses Buch mit Vergnügen.

Fazit

Eine beeindruckende, vielseitige Familiengeschichte über den Verlust der Heimat, und die Suche nach dem Platz und Sinn im eigenen Leben, in deren Mittelpunkt eine von Konflikten und dennoch tiefer Zärtlichkeit füreinander geprägte Mutter-Sohn-Beziehung steht.

Die Bücherjägerin – Elisabeth Beer

AutorElisabeth Beer
VerlagDUMONT Buchverlag
Datum1. August 2023
AusgabeKindle Ausgabe
Seiten432 (Print)
SpracheDeutsch
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„Die Sache mit alten Landkarten ist, dass sie einen in die Irre führen. Die Sache mit der Kartografie insgesamt ist, dass sie die Dinge in einem Maßstab darstellt, der natürlich nicht der Realität entspricht.“ (Zitat Pos. 29)

Inhalt

Sarah ist beinahe zehn Jahre alt, ihre Schwester Milena sieben, als ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen. Sie wachsen bei Amalia von Richtershofen, der Schwester ihrer Mutter, in einer Villa bei Köln auf, mit einem Garten, groß wie ein Park.  Tante Amalia ist eine Bücherjägerin und Kartensammlerin und Sarah teilt ihre Liebe zu Büchern. Heute ist Sarah ebenfalls eine Bücherjägerin, Kartensammlerin und Restauratorin von alten Büchern und Dokumenten. Seit dem Tod von Tante Amalia vor sechs Monaten lebt sie zurückgezogen allein in der Villa, umgeben von Büchern. Bis eines Tages nicht der Postbote an der Tür klingelt, sondern Benjamin Ballantyne, Wissenschaftler und Bibliothekar der British Library in London. Kurz vor ihrem Tod hatte Amalia die Britische Bibliothek kontaktiert, es ging um das seit Jahrhunderten verlorene erste Segment der Tabula Peutingeriana. Ben kann Sarah überreden, ihm bei der Suche zu helfen. Der Weg führt sie zu einem Weingut in der Champagne, nach London, und zu einem Landsitz in Essex.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um alte Bücher und besonders um die Suche nach dem ersten Segment der insgesamt zwölf Segmente umfassenden mittelalterlichen Kopie einer ursprünglich spätrömischen Straßenkarte, um Verlust, Trauer, aber auch um die vielen Facetten und Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen.

Charactere

In der Familie galt Amalia als schwierig und exzentrisch, doch nun ist sie Mutter und Familie für ihre beiden Nichten. Ihr Satz „Das kriegen wir schon hin“ bleibt in all den Jahren eine sichere Konstante zwischen Amalia, Sarah und Milena. Nicht erst seit dem Verlust ihrer Tante Amalia zieht sich Sarah in die magische Welt der Bücher zurück, das tat sie schon immer, wenn ihr das reale Leben, die Menschen und die Umgebung zu laut wurden. Als sie auf den Engländer Ben trifft, der Deutsch spricht, als hätte er die Sprache mit Goethe und Schiller gelernt, merkt sie rasch, dass er sie so respektiert, wie sie ist.

Erzählform und Sprache

Sarah erzählt die Geschichte dieser Schatzsuche und gleichzeitig auch die Geschichte ihres bisherigen Lebens, daher ist der Roman in der Ich-Form geschrieben. Die Recherchen und die Reise auf den Spuren von diesem besonderen historischen Artefakt werden chronologisch geschildert. „Eine Karte also voller Abenteuer und Geschichten, deren verlorener erster Teil definitiv einige Umstände und eine plötzliche Reise wert ist.“ (Zitat Pos. 710). Ergänzt werden die aktuellen Ereignisse durch viele Rückblicke in Form von Sarahs Erinnerungen an prägende Erlebnisse ihrer Jugend, und vor allem an ihre Tante Amalia. Als sie den wenigen, kryptischen Notizen von Amalia folgen, tauchen sie auch in deren Vergangenheit ein. Die Sprache ist einfühlsam, humorvoll und angenehm zu lesen.

Fazit

Eine interessante, spannende Suche nach einem wertvollen alten Dokument, dazu sympathische Charaktere, dies ergibt in Summe eine rundum gelungene Geschichte, Lesevergnügen garantiert.

Bin das noch ich – Stefan Moster

AutorStefan Moster
VerlagMareverlag
Datum8. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3866487123

„Wenn die Noten verstummen und nicht einmal mehr Bachs notierte Freiheit der Artikulation hilft, den Ton zu treffen, weil es keinen Ton mehr gibt. Was, wenn man keinen Bach mehr spielen kann? Und auch nichts sonst.“ (Zitat Seite 31)

Inhalt

Simon Abrameit ist Geiger, Musik ist sein Leben. Er vermutet schon länger, dass etwas mit zwei Fingern seiner linken Hand nicht stimmt. Im Rahmen eines Sommerfestivals spielt er ein Solokonzert, Bach und Bartók, und genau hier passiert es endgültig, er muss den Auftritt abbrechen. Er braucht Zeit zum Nachdenken, wie es weitergehen soll. Das einfache Ferienhaus seiner Musikerkollegin Mai auf einer kleinen, abgelegenen Insel wird sein Rückzugsort. Nur er, die Natur der endlos hellen Mittsommertage, die Seevögel und hier besonders ein brütendes Möwenpaar in Hausnähe, und dazu die notwendigen Tätigkeiten des Alltags. Zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbruch schwebend, macht er sich Gedanken über die vielen Facetten der Musik, über sein Leben als Musiker, beobachtet täglich gespannt den Ablauf der Natur und versucht dabei, sich selbst nicht zu verlieren.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Musik und die damit eng verbundenen Themen, um die Vielseitigkeit der Natur auf einer einsamen Insel im finnischen Mittsommer und um die Suche nach einem Neubeginn, wenn plötzlich nichts mehr so ist, wie es war.

Charactere

Simons Leben ist die Musik und seine Geige, die ihn viele Jahre lang durch sein Musikerleben geführt hat, obwohl er nie der herausragende, international berühmte Konzertsolist war. Er ignoriert die Probleme mit seinen Fingern, bis es nicht mehr möglich ist und er gezwungen ist, sich mit der Situation auseinanderzusetzen.

Erzählform und Sprache

Im Mittelpunkt dieses Romans steht Simon, der sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen kann und durch äußere Umstände gezwungen ist, genau darüber nachzudenken. Er steht im Mittelpunkt einer personalen Erzählform, die ihm in die Einsamkeit der kleinen Schäreninsel folgt, auf der es nur das Ferienhäuschen gibt und die Natur – das Meer, die Bäume, die vielen Vogelarten, das Rauschen der Wellen an sonnigen Tagen und bei stürmischem, wildem Seegang, die ungewohnte Helligkeit der Mittsommernächte. Es sind diese Schilderungen, poetisch, leise und doch bildintensiv, die zusammen mit der Hauptfigur und ihren Konflikten den beeindruckenden Sog dieses Romans ausmachen. Die Spannung der Sprache entsteht aus dem Wechsel in der Erzählformen, personal, doch unterbrochen durch Simon im gedanklichen Gespräch mit Darja, einer berühmten Geigerin, deren Karriere er von Jugend an mitverfolgen konnte, und Simon als Ich-Erzähler, der seine Sicht einer entscheidenden Situation der personalen Schilderung des Erzählers gegenüberstellt. Spannung erhält die Handlung selbst besonders durch die Frage, wie Simon mit seiner Situation umgehen wird.

Fazit

Es gibt Bücher, in denen man sich von der ersten Seite an „zu Hause“ fühlt, so ging es mir mit diesem Roman. Mein Interesse an Simon mit seinen einfühlsam und präzise dargestellten Problemen und Fragen war sofort geweckt, die Naturschilderungen in ihrer Vielfalt sind beeindruckend und packend, dazu noch interessantes, für mich neues, Musikwissen, besonders über Bela Bartók, auch Bach hatte ich bisher nicht mit Violinkonzerten verbunden. Ein leiser und gleichzeitig starker Roman, ein in allen Bereichen positives, überzeugendes Leseerlebnis.

Wasserläufer – Michael Kröchert

AutorMichael Kröchert
VerlagTropen
Datum15. Juli 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608500165

„An diesem allerersten Abend meiner Reise in den Floß-Sommer spürte ich die unermessliche Tiefe dieses Raumes. Aber noch deutlicher als das fühlte ich mich.“ (Zitat Pos. 126)

Inhalt

Als Alissa, mit der er seit vier Jahren in Berlin in einer festen Beziehung lebt, für ein Semester nach Frankfurt geht, um dort ihre Dissertation in Kunstgeschichte fertig zu schreiben,  nimmt Rio, vierzig Jahre alt, Fotograf und Dokumentarfilmer, eine fünfwöchige Auszeit von seinem aktuellen Job in einer Redaktion. Er hat ein Floß gebaut und will diese Wochen auf dem Soliner See nahe Berlin verbringen, alleine in der Natur, um über sein Leben und seine weiteren Pläne nachzudenken. Doch während er in den Telefonaten mit Alissa weiterhin betont, die Einsamkeit zu suchen, lernt er immer mehr Menschen kennen, Birk und die Ökologiestudentin Johanna, deren Vater eine ökologische Landwirtschaft mit Hofladen betreibt, sowie Jost und seine Frau, die Künstlerin Magda, die auf einer mit allem Komfort und Luxus umgebauten großen holländische Tjalk ebenfalls den Sommer auf dem See verbringen wollen. Als ihm der Trubel auf dem See zu groß wird, flüchtet er in eine versteckte Bucht auf dem kleineren Fernower See. Dort denkt er weiter über seine Pläne nach, denn sein Erfolg als Dokumentarfilmer ist acht Jahre her, er will mit Alissa zusammen sein, wünscht sich ein Kind von ihr, doch die Realität erzählt eine völlig andere Geschichte, er weiß nur noch nicht, welche.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine Art Road-Trip, doch statt auf Highways in der Ferne spielt er auf dem Wasser, im Seengebiet rund um Berlin. Im Zentrum steht ein Mann in der Mitte seines Lebens, der in der Einsamkeit der Natur herausfinden will, wer er ist und was er noch von seinem Leben erwartet. Es geht um Pläne, die ohne Entscheidungen Pläne und Träume bleiben, und es geht um Beziehungen. Auch sozialkritische Themen kurz nach Corona spielen eine Rolle, sowie Politik und Umwelt.

Charactere

Rio ist mit seinem aktuellen Bildschirmjob nicht glücklich, seine Erfolge liegen lange Zeit zurück. Er sucht die Einsamkeit, doch bald braucht er den Alkohol, um diese Einsamkeit zu ertragen, in der ihm die Realität immer öfter zu entgleiten droht. Es sind die männlichen Protagonisten, die diese Handlung dominieren, in der Frauen zwar für manche Ereignisse wichtige, aber doch nur Nebenrollen einnehmen.

Erzählform und Sprache

Rio selbst schildert als personaler Ich-Erzähler seine Geschichte, meistens chronologisch, ergänzt durch Erinnerungen, manchmal aber wechselt er spontan die Zeitabläufe zwischen Ereignissen und Situationen. Seine Gedanken schreibt er als Haikus nieder. „Haikus waren ein wenig wie Wasserläufer – sie waren unwahrscheinlich und autonom.“ (Zitat Pos. 1971) Dominiert wird die Handlung von seinen inneren Monologen, welche die Realität teilweise ins Surreale kippen lassen. Sprachlich beeindruckend sind die Schilderungen der Natur, die jedoch in einem gekonnt gewählten Verhältnis zum Text eingesetzt werden: „Ein Rest grelles, sattes Gold-Orange wurde von einem leuchtenden Blau zugleich sanft und unerbittlich hinter den Horizont gedrückt, bevor das Schwarz kam, um alles zu dominieren. Mit diesem Verlust der Farben kam eine geradezu unbegreifliche Stille.“ (Zitat Pos. 646).

Fazit

In einer Genre-Zuordnung ist von Urlaubs- und Wohlfühlroman die Rede, doch beides ist diese Geschichte meiner Meinung nach nicht, denn was als interessante,  positive Sinnsuche in der Natur beginnt, wird rasch zu einem negativen Sog für die Hauptfigur Rio, auf Grund seiner Unentschlossenheit und seiner inneren Weigerung, endlich Entscheidungen zu treffen. Die zusätzliche Spannung im Handlungsbogen, die durch einen Anschlag in der Nähe aufgebaut werden soll, wirkt auf mich wie ein Fremdkörper in der Handlung, zu konstruiert und somit entbehrlich. Die vielseitigen menschlichen Themen und Aspekte dieser Geschichte waren für mich das wirklich Spannende.

Maskerade – Hans Flesch-Brunningen

AutorHans Flesch-Brunningen
VerlagEdition Atelier
Herausgegeben vonWolfgang Straub
Datum15. März 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzerAlexander Pechmann
ISBN-13978-3990650929

„Auf dem Heimweg war ich immer noch in nachdenklicher Stimmung. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich stand. Meine Zeit als aktiver Kämpfer war gewiss abgelaufen.“ (Zitat Seite 79)

Inhalt

Seit etwa zwei Jahren leben sie schon als Ausländer in Rom, der Wiener Schriftsteller und Journalist Martin Boldt und seine lebenslustige Frau Rosika aus Ungarn, die Archäologie studiert. Bei einem Vortrag am deutschen archäologischen Institut in Rom lernen sie den deutschen Archäologen Gerhard Hesmert kennen. Dieser plant eine Griechenlandreise, während das Ehepaar Boldt mit der Bahn durch Umbrien bis nach Siena zum Palio reisen möchte. Überraschend taucht auch Hesmert kurz vor Abfahrt des Zuges auf, er will Freunde in Siena besuchen. „Ich habe meine Meinung geändert. Ich fahre mit Ihnen. Ich habe eine Einladung von Gatti für uns alle.“ (Zitat Seite 102)

Thema und Genre

Dieser Exilroman ist ursprünglich in englischer Sprache erschienen, 1937 unter dem Titel „The Blond Spider“ und 1939 in den USA unter dem Titel „Masquerade“. Themen sind Politik, Widerstand, Spionage, Liebe und alle damit verbundenen Gefühle, sowie Die Vergnügungen des italienischen Sommers.

Charactere

Martin ist Schriftsteller und schreibt an einem Buch, während Rosika vor allem das Leben genießen will, trotz der geringen finanziellen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen. Martin Boldt und Gerhard Hesmert trennen politisch Welten, denn Hesmert ist ein überzeugter Nationalsozialist, während der Kommunist Martin Boldt in Italien seine politisch aktive Zeit als „Kilian“ geheim halten will.

Erzählform und Sprache

Der Schriftsteller und Journalist Martin Boldt schildert die Ereignisse selbst. Wir erhalten Einblick in die Gedanken, Gefühle und Ängste des Ich-Erzählers, erfahren seine Geheimnisse, seine Eindrücke, die er während dieser Zeit in Italien sammelt und kennen seine Eifersucht, da er nicht weiß, wie weit der Flirt zwischen seiner Frau und Hesmert tatsächlich geht. Seine Sichtweise ist durch diese personale Erzählform subjektiv und eingeschränkt, doch durch die vielen Dialoge und Gespräche aller Figuren ergibt sich eine Fülle von zusätzlichen Informationen. Die Geschichte wird chronologisch erzählt, ergänzt durch Boldts Eindrücke der italienischen Landschaft und Städte, der Menschen und der vielen vergnügten Stunden. Man geht aus und es fließen reichlich Wein und Wermut. Er scheint jedoch teilweise ein unzuverlässiger Erzähler zu sein, denn manche Begegnungen und Ereignisse gleiten ins Surreale ab, was ist real, was Einbildung?

Fazit

Dieser erstmals 1937 erschienene Roman mit autobiografischen Elementen ist ein interessantes, vielseitiges und authentisches Bild dieser politisch brisanten Zeit und gleichzeitig eine eindrückliche Studie menschlicher Verhaltensweisen.

Zwei Wochen am Meer – R. C. Sherriff

AutorR. C. Sherriff
VerlagUnionsverlag
Datum13. Juni 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten352
SpracheDeutsch
Übersetzung, NachwortKarl-Heinz Ott
ISBN-13978-3293006041

„Sie hätten nicht weiterhin Jahr für Jahr mühsam versuchen können, die verglimmenden Funken der Kindheit neu zu entfachen. Was ihnen aber bleiben würde, waren die Erinnerungen – auch daran, wie wundervoll alles zu Ende ging.“ (Zitat 288)

Inhalt

Mr und Mrs Stevens sind seit zwanzig Jahren verheiratet und ebenso lange, seit ihren Flitterwochen, verbringen sie ihre Ferien am Meer, in dem Ferienort Bognor, in der Pension Seaview. Wie jedes Jahr erstellt Mr Stevens schon lange im Voraus die Marschordnung und am Abend vor der Abreise erfährt jedes Familienmitglied die eigenen Aufgaben, die noch zu erledigen sind. Doch nicht nur die Reise selbst plant Mr Stevens genau, sondern auch die Aktivitäten während dieser zwei Wochen und er denkt schon jetzt daran, sie sehr die Familie, das sind Mr und Mrs Stevens und die Kinder Mary, zwanzig Jahre alt, der siebzehnjährige Dick und Ernie, zehn Jahre alt, diese unbeschwerten Ferien genießen wird, vom ersten Blick auf das Meer bis zum letzten Abend. Egal, was hinter einem lag, was vor einem, während dieser vierzehn Tage am Meer kümmert das niemanden. Es werden gemeinsame Familienerinnerungen gesammelt.

Thema und Genre

Dieser Roman schildert vierzehn besondere Tage im Leben einer englischen Durchschnittsfamilie in bescheidenen finanziellen Verhältnissen, der Vater ist Büroangestellter. Es geht um vierzehn Ferientage am Meer in den späten 1920er Jahren.

Charactere

Im Zentrum der Geschichte stehen fünf Figuren, Mr Stevens, seine Frau und seine drei Kinder. Eine Familie, die am liebsten unter sich bleibt, zu Hause im kleinen Haus mit Garten, und auch während der Ferien in dem Strandabschnitt vor der Badehütte, die sie gemietet haben. Jede der Figuren hat ihre Eigenheiten, Hoffnungen und Träume. Auch Objekte werden zu Protagonisten, der Zug, die Lokomotive, der kleine Koffer mit den immer gleichen Aufklebern der Pension Seaview, das Meer, der Badeort Bognor, der wie ein Mensch erwacht.

Erzählform und Sprache

Der auktoriale Erzähler lässt uns an den Gedanken und Gefühlen seiner Figuren teilhaben, er schildert uns das beschauliche, beinahe biedermeierliche Leben dieser Familie, der besonders durch den alles entscheidenden und genau vorausplanenden Vater und Ehemann gewisse Grenzen gesetzt werden. Dennoch nützen sie alle diese vierzehn unbeschwerten Ferientage auch, um in Ruhe und alleine über sich, ihre Erinnerungen und eine mögliche Zukunft nachzudenken. Es sind keine Geschichte von großen, aufregenden Ereignissen, sondern von den einfachen Ferienfreuden wie Baden im Meer, Spiele am Strand, gemeinsame Mahlzeiten und Abendspaziergänge auf der Promenade. Die Erzählsprache des Schriftstellers, der Theaterstücke und dann in Hollywood Drehbücher verfasst hat, lässt viele der geschilderten Szenen und Gedankenwelten seiner Figuren wie die Bilder eines Films ablaufen, was uns sofort an die englische See versetzt.

Fazit

Es ist ein Sommerroman über unbeschwerte Ferientage, Sonne, Sand und Meer, über die Glücksmomente abseits des Alltags und gleichzeitig ein authentisches Bild der englischen Seebäderkultur der damaligen Zeit.

Der Anfang vom Ende – Mark Aldanow

AutorMark Aldanow
VerlagRowohlt Verlag
Datum13. Juni 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten688
SpracheDeutsch
VorwortSergej Lebedew
NachwortAndreas Weihe
ÜbersetzungAndreas Weihe
ISBN-13978-3498003357

„Zu allen Zeiten haben die moralischen und politischen Bankrotteure verkündet, dass es nicht ihre Schuld war, wenn ihr Experiment schiefging, dass ihnen die Zukunft gehört, dass die Nachwelt ihnen recht geben, das die Geschichte ihr Urteil noch sprechen wird.“ (Zitat Seite 313)

Inhalt

Drei Herren im fortgeschrittenen Alter reisen gemeinsam in einem internationalen Botschaftswaggon mit der Bahn von Moskau nach Paris. Allerdings liegen unterschiedliche Aufgaben vor ihnen. Der Ökonom und Diplomat Kangarow-Moskowski blickt auf eine Parteikarriere in diversen politischen Konstellationen zurück. Nun wurde er endlich in den  diplomatischen Dienst berufen und tritt in einer kleinen Monarchie den Posten als bevollmächtigter Gesandter an. Der ebenfalls mit einem Diplomatenpass mitreisende Agent, Spion, Revolutionär Wislicenus kann den Botschafter nicht ausstehen, doch in den kommenden Jahren treffen sie bei gesellschaftlichen Gelegenheiten immer wieder aufeinander. Was die beiden Herren mit dem dritten Mitreisenden gemeinsam haben, dem erfahrenen Militärexperten Konstantin Alexandrowitsch Tamarin, der dienstlich nach Paris reist, ist das Wissen, dass ein neuer Krieg knapp bevorsteht, dazu die innere Sorge, dass die stalinistischen Säuberungen in der Heimat auch sie treffen könnten und eine heimliche oder weniger heimliche Schwärmerei für die junge Botschaftssekretärin Nadeschda Iwanowna. Der bekannte, früher sehr erfolgreiche französische Schriftsteller Louis Etienne Vermandois steht ideologisch dem Kommunismus nahe, brilliert bei den Abendgesellschaften als literarisch gebildeter, sprachgewandter Redner und hält seine Zuhörer generell für dumm und ungebildet. Er schreibt gerade an einem geplanten Roman über das antike Griechenland, während sein Sekretär Alvera heimlich eine Waffe kauft und den perfekt nach Dostojewski inszenierten Mord plant. Sie alle drehen sich in diesen prägenden Jahren wie ein Karussell im Kreis. Sich ihren persönlichen Zweifeln an früheren Überzeugungen und ihrem Platz in der aktuellen politischen Lage stellend, klammern sie sich fest, hoffend, nicht zu stürzen.

Thema und Genre

Dieser Roman ist ein eindrückliches, vielschichtiges Zeitbild der späten 1930er Jahre, ein sozialkritischer, politischer Gesellschaftsroman mit überlegt und gekonnt gewählten Figuren, die nachvollziehbar für die jeweilige Meinung und das entsprechende Verhalten stehen und die Darstellung einer Vielfalt von essentiellen Themen ermöglichen. Es geht besonders um die Darstellung der unsicheren politischen Situation dieser Jahre, Russland unter Stalins Diktatur, Deutschland unter dem Führer Adolf Hitler und seinen Nationalsozialisten, Spanien im Bürgerkrieg. Auch die Literatur ist ein wichtiges Thema.

Charactere

Es sind Figuren zwischen Hoffnung und Resignation, in ihren Ansichten und Bewertung des eigenen Verhaltens im großen weltpolitischen Zusammenhang rückblickend zerrissen und zweifelnd. „Wieder überkamen ihn die alten, inzwischen fast schon vertrauten schwermütigen Gedanken, dass alles umsonst gewesen war, dass das ganze Leben ein Irrtum war, dass von den früheren Überzeugungen fast nichts mehr übrig war, bei niemandem.“ (Zitat Seite 312)

Erzählform und Sprache

Ort der Handlung ist überwiegend die Stadt Paris in den späten 1930er Jahren. Die Handlung als Ganzes wird fortlaufend geschildert, wobei auch Zeiträume ereignislos übersprungen werden, dies aber für den gesamten Figurenkreis. Doch obwohl die Ereignisse im Leben der einzelnen Protagonisten chronologisch erzählt werden, besteht dieser Roman aus aneinander gereihten Episoden, Teilchen, die sich nicht unbedingt zusammenzufügen, sondern die Zerrissenheit dieser Jahre zeigen. Sie bleiben es Bruchstücke, die dennoch einem gemeinsamen Spannungsbogen folgen. Die Geschichte um Alvera, dem jungen Sekretär des Schriftstellers Vermandois, und den von ihm geplanten, perfekten, skrupellosen Mord nach literarischem Vorbild, wechselt zeitlich mit den andren Handlungssträngen ab, ist jedoch eine eigenständige, in sich abgeschlossene Erzählung.

Fazit

Es sind die langen inneren Monologe der einzelnen Figuren, ihre unterschiedlichen Bewertungen der politischen Situation, aber auch die intensive Hinterfragung des eigenen Lebens, sowie die literarischen und philosophischen Aussagen, die diesen Roman so interessant, spannend und lesenswert machen. Denn hier handelt es sich um ein Zeit- und Gesellschaftsbild direkt aus den 1930er Jahren, mit authentischen Beobachtungen und Aussagen, und nicht um den Bericht von heutigen Historikern oder Politwissenschaftlern. Was Mark Aldanow damals nicht ahnen konnte ist, wie sehr sich alles gerade jetzt, etwa neunzig Jahre später, wiederholt.

Das Haus bei den fünf Weiden – Liz Balfour

AutorLiz Balfour
VerlagHeyne Verlag
Datum11. Januar 2016
AusgabeKindle
Seiten304 (Taschenbuch)
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3453471269

„Er sagte mal: ‚Diese ganzen alten Geschichten, ich weiß nicht, ob sie erzählt oder vergessen gehören. Sollen das die Menschen entscheiden, die nach mir kommen.‘“ (Zitat Seite 12)

Inhalt

Hanna, fünfunddreißig Jahre alt, ist eine erfolgreiche Wirtschaftsanwältin in London, doch im Moment beurlaubt. Auch ihre Beziehung ist gerade gescheitert, also sagt sie zu, für ihre Mutter den Nachlass des kürzlich verstorbenen Dr. Thomas Oliver zu sichten und zu bewerten. Im Gegensatz zum gepflegt-verwilderten Garten sind die Zimmer in dem alten Landsitz im County Cork in einem extrem ordentlichen Zustand, allerdings reihen sich an allen Wänden Regale mit Büchern, alten Zeitungen, Magazinen, Notizheften, alles genau archiviert. Als Hanna die persönlichen Aufzeichnungen des Verstorbenen entdeckt, taucht sie tief in die wechselvolle Geschichte Irlands ein und erkennt Zusammenhänge, die bis in die Gegenwart reichen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht um die Geschichte Irlands von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an bis heute, um Familie, Politik, Gesellschaft und natürlich auch um die Liebe.

Charactere

Die Charaktere handeln nachvollziehbar, sind gut beschrieben, auch wenn Hanna im persönlichen Bereich teilweise etwas naiv agiert, gemessen an ihren Alter und ihren Erfahrungen.

Erzählform und Sprache

Die Handlung findet auf zwei unterschiedlichen Zeitebenen statt und wird in zwei Erzählsträngen geschildert.  Beide Handlungsstränge verlaufen in sich chronologisch und wechseln einander ab. Die aktuelle Handlung stellt Hanna in den Mittelpunkt der personalen Erzählform, die Geschichte in der Vergangenheit ist in der Ich-Form geschrieben, da es sich um die Aufzeichnungen von Dr. Thomas Oliver handelt. Dies macht das Lesen abwechslungsreich und interessant. Die Sprache entspricht dem Genre Unterhaltungsliteratur.

Fazit

Angenehm und unterhaltsam zu lesen, die perfekte Wochenend- und Ferienlektüre zum Entspannen und Abschalten.

A Thousand Days in Venice: An Unexpected Romance – Marlena De Blasi

AutorMarlena De Blasi
VerlagAlgonquin Books
Datum11. Juni 2013
AusgabeTaschenbuch
Seiten256
SpracheEnglisch
ISBN-13978-1616202811

„It was as though Venice was more than a place. It was as though Venice was a person, someone familiar but not familiar at all, someone who caught me off guard.” (Zitat Seite 79)

Inhalt

Auch wenn Venedig sofort eine besondere Faszination auf Marlena ausübt, ist die amerikanische Chefköchin und Food-Journalistin nur eine von vielen Touristinnen. Das denkt sie zumindest an diesem 6. November 1993. Doch weniger als ein Jahr später hat die geschiedene Mutter von zwei erwachsenen Kindern ihr Haus in den USA verkauft, ihre gesicherte Existenz aufgegeben, und ist mit dem Venezianer Fernando verheiratet, lebt mit ihm in seiner Wohnung auf dem Lido di Venezia. Gleichzeitig mit dem Erkunden einer ihr, abgesehen von Lebensmittel-affinen Ausdrücken, fremden Sprache, macht sie sich daran, ihren Ehemann Fernando, den Lido, und dann auch Venedig zu erkunden, immer begleitet von ihrer Begeisterung für frische Lebensmittel vom Markt und genussvolles Kochen in einer Küche fernab von den Standards, die ihr in Amerika zur Verfügung standen.

Thema und Genre

Dieser biografische Roman erzählt von einer romantischen Liebe am Beginn der zweiten Lebenshälfte und einem spontanen, sehr mutigen Neubeginn. Natürlich geht es auch um den besonderen Zauber und Charme der Stadt Venedig, um die Menschen, die dort seit Generationen leben, und immer wieder um genussvolles Essen.

Charactere

Marlena ist eine selbstständige Frau, als alleinerziehende Mutter daran gewöhnt, ihre Probleme selbst zu regeln. Fernando lebte bisher ein wenig aufregendes Single-Leben als Bankangestellter, doch als typischer Italiener sieht er es als seine Aufgabe, nun alles für seine Frau zu regeln, manchmal auch gegen ihre Wünsche. “The stranger“, so nennt Marlena ihren Fernando, denn sie wissen kaum mehr voneinander, als dass sie die Liebe ihres Lebens gefunden haben.

Erzählform und Sprache

Marlena de Blasi ist die Ich-Erzählerin dieser Geschichte, die ihre persönlichen Erinnerungen, Erlebnisse und Eindrücke mit uns teilt. Es handelt sich um einen biografischen Unterhaltungsroman, charmant, humorvoll und locker erzählt. Dennoch ist es kein romantisch-verklärtes Liebesmärchen, offen schreibt sie über ihre Probleme, mit denen sie besonders in den ersten Monaten, aber auch danach immer wieder konfrontiert ist. Am Ende der Geschichte finden wir einige ihrer Lieblingsrezepte und Tipps für Venedig-Besuche, acht Punkte „How to Fall in Love in Venice“, und die Adressen ihrer Lieblingsrestaurants, Bars und Geschäfte.

Fazit

Hier schreibt jemand, der Venedig inzwischen wirklich kennt, über den großen Obst-, Gemüse-, Fisch-Markt bei der Rialto-Brücke, versteckte Ecken, kleine Lokale, und über Menschen, die, zunächst verschlossen gegenüber dieser etwas exzentrischen Fremden, bald zu Freunden werden. Eine unterhaltsame Romanbiografie, die ich in der englischen Originalfassung mit Vergnügen gelesen habe.

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