Beinahe Alaska – Arezu Weitholz

AutorArezu Weitholz
VerlagGoldmann Verlag
Datum18. April 2022
AusgabeTaschenbuch
Seiten192
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442492633

„Ich hatte das Gefühl, jetzt erst begann die Reise, jetzt geschahen Dinge, die nicht geplant waren, die nicht bedacht, besprochen oder geregelt worden waren.“ (Zitat Seite 115)itat Text

Inhalt

Diese Expeditions-Kreuzfahrt von Grönland nach Alaska unternimmt die Berufsfotografin im Auftrag ihrer Verlegerin, sie soll mit ihren Fotografien, Zeichnungen und Skizzen die Stimmungen in der Arktis einfangen. Doch erst als auf Grund der Witterungsverhältnisse und des Eises das Schiff die Route ändern muss, spürt die Fotografin, dass mit dieser neuen, nicht vorausgeplanten Situation, mit dem neuen Kurs auf Baffin Island und Labrador, die Reise für sie wirklich beginnt.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine Mischung aus Reisebericht, Beobachtungen der Natur, der Mitmenschen, und Gedankenströmen der Ich-Erzählerin. Themen sind neben den unvergleichlichen Eindrücken und der Schönheit der Arktis persönliche Verluste, Trauer, Stillstand im Leben und Aufbruch.

Erzählform und Sprache

Dieser Roman beschreibt die Erlebnisse während einer Kreuzfahrt entlang der Nordwestpassage in Episoden, wobei die Kapitel die Orte der Reise als Überschrift tragen, und nicht das Datum. Für die Ich-Erzählerin, eine Frau Mitte vierzig, allein, aber nicht einsam, ist es eine Möglichkeit, in das Nichts einer unendlichen Weite und Weiße einzutauchen. Genau beobachtend, findet sie auch Zeit, sich mit ihrem bisherigen Leben, mit den immer in ihren Gedanken präsenten Themen zu beschäftigen. Genau und ironisch-kritisch beobachtet sie auch das Verhalten ihrer Mitreisenden, erfährt Schicksale, sehnt sich nach Ruhe, um auf das Meer zu schauen. Sie schildert die Besichtigungen und Entdeckungen während der Landgänge, beschreibt, ohne zu bewerten, aber auch ohne zu romantisieren. Dass die Fotografin ausgerechnet auf einem Kreuzfahrtschiff immer wieder auf der Suche nach einer ruhigen Ecke abseits der Mitreisenden ist, hat mich beim Lesen zum Schmunzeln gebracht.

Fazit

Die Fotografin bevorzugt in ihren Fotografien bewusste Unschärfen, so wie die Nebel über dem Meer an manchen Tagen und diese Unschärfen ziehen sich durch den gesamten Text. Wer Abenteuer, Krisen, einen Spannungsbogen der Handlung erwartet, wird von dieser ruhig fließenden Geschichte enttäuscht sein. „Unentschieden formte das Wasser Messerwellen, Schieferwellen, hier und dort ein bisschen Gischt.“ (Zitat Seite 156) Wer diese poetische Sprache schätzt, wird dieses Buch sehr gerne lesen.
 

Anständige Leute – Leonardo Padura

AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum8. Juli 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzerPeter Kultzen
ISBN-13978-3293006218

„Die Wege der Literatur und des Lebens neigen dazu, sich auf alle möglichen und unmöglichen Arten zu kreuzen. Und die dabei entstehende Reibung fördert vielfach beunruhigende, manchmal auch augenöffnende Wahrheiten zutage.“ (Zitat Seite 127, 128)

Inhalt

Fast dreißig Jahre ist es nun schon her, dass Mario Conde „El Conde“ den Polizeidienst verlassen hat. In diesem Jahr 2016 stehen zwei einmalige Ereignisse unmittelbar bevor: der amerikanische Präsident Barack Obama besucht Kuba, ein Besuch, der mit großen Hoffnungen verbunden ist. Auch die Rolling Stones setzen ein Zeichen und geben ein kostenloses Open-Air-Konzert in Havanna. Die Stadt vibriert vor Vorfreude und Aufregung. Da wird Reynaldo Quevedo, in den 1970ern einer der meistgefürchteten Politiker und bis meistgehassten Männer, ermordet aufgefunden und Mario Condes ehemaliger Kollege bei der Polizei Manuel „Manolo“ Palacios, braucht seine Hilfe bei den Ermittlungen. Gerade in diesen Tagen müssen die Ermittlungen besonders diskret erfolgen und es werden schnelle Resultate verlangt. Mario Conde sagt zu, obwohl er gerade einen Abendjob angenommen hat und mit eigenen Recherchen beschäftigt ist, die ihn in die Jahre 1909 und 1910 in Havanna zurückführen, zu einem jungen Ermittler, zu Morden im Rotlichtmilieu und zu der schillernden, charismatischen Legende Alberto Yarini Ponce de León.

Thema und Genre

In diesem gesellschaftskritischen, literarischen Kriminalroman geht es um die politische und gesellschaftliche Situation Kubas im Jahr 2016 und mehr als einhundert Jahre zuvor. Themen sind Korruption, Machtmissbrauch, kulturelle Diktatur, die Armut der Bevölkerung, unerfüllte Lebensträume, aber auch Freundschaft, Liebe und Lebensfreude. Die wichtigste Frage aller Figuren damals und heute ist die persönliche Definition des Begriffes Anstand und was es bedeutet, ein anständiges Leben zu führen.

Charaktere

Die Lebenseinstellung von Mario Conde wurde mit den Erfahrungen der Jahre und durch die genaue Beobachtung des Alltagslebens in Kuba nicht optimistischer, im Gegenteil. Kritisch verfolgt er die Vorgänge in seinem Heimatland und er lässt sich von der Euphorie im Vorfeld der beiden Großereignisse nicht überzeugen. „Marío Conde, der eingefleischte Pessimist, verfügte womöglich über ein zu umfangreiches historisches Wissen und war, was manche Dinge anging, so oder so von unheilbarem Misstrauen erfüllt, jedenfalls hatte er das Gefühl, sein Land genieße gerade lediglich eine kurze Verschnaufpause, nach deren Ende sich die Härte wiedereinstellen würde.“ (Zitat Seite 229)

Erzählform und Sprache

Padura erzählt auch in diesem Roman zwei Geschichten, die einander abwechseln. Um die Zuordnung einfach zu gestalten, wählt er für die Abschnitte rund um El Condes Ermittlungen im Jahr 2016, die innerhalb von wenigen Tagen stattfinden, nur die fortlaufende Nummerierung als Überschrift. Die Kapitel mit den Geschehnissen in den Jahren 1909, 1910 tragen Überschriften. Den unterschiedlichen Inhalten folgend, wird der aktuelle Handlungsstrang in der dritten Person geschildert, mit Marío Conde im personalen Mittelpunkt. Die historischen Ereignisse dagegen werden als Aufzeichnungen in der ersten Person erzählt. Es ist Paduras besondere Art zu schreiben, die begeistert, mühelos wechselt er zwischen umgangssprachlichen Dialogen, literarischen Schilderungen und philosophischen Gedankenströmen. Havanna im Ausnahmezustand durch Obamas Besuch – für Padura eine Gelegenheit, dies kritisch zu betrachten und durch die Gedanken und Beobachtungen Condes die Realität in Kuba zu beschreiben.

Fazit

Zwei facettenreiche Geschichten, lose vernetzt, ergeben interessante Einblicke in das Leben in Havanna 1910 und mehr als einhundert Jahre später, im wichtigen Jahr 2016 mit den zwei besonderen Großereignissen. Eine spannende, interessante Mischung aus kritischem Gesellschaftsroman, politischem Roman, historischem Roman und Kriminalroman in einer Sprache, die das Lesen zum Erlebnis macht.

Transit – Anna Seghers

AutorAnna Seghers
VerlagAufbau Taschenbuch
Datum25. April 2018
AusgabeTaschenbuch
Seiten309
SpracheDeutsch
NachwortSonja Hilzinger
ISBN-13978-3746635019

„Irgendetwas war mir verlorengegangen, so verloren, dass ich nicht einmal mehr genau wusste, was es gewesen war, dass ich es nach und nach nicht einmal mehr richtig vermisste, so gründlich war es verlorengegangen in all dem Durcheinander.“ (Zitat Seite 43)

Inhalt

In diesem Sommer 1940 begegnen sich in Marseille Menschen auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, und da sich ihre Wege gleichen, von Konsulaten zu französischen Behörden und umgekehrt, treffen sie einander immer wieder. Gerüchte über Schiffe, die noch auslaufen, führen zu neuen Hoffnungen, und alle, die davon hören, begeben sich sofort auf den Wettlauf um die benötigten Papiere, um einen der begehrten Plätze zu erhalten. In dieser Menschenmenge trifft der deutsche Ich-Erzähler Seidler immer wieder auf eine junge Frau, die verzweifelt nach jemandem zu suchen scheint. Spontan verliebt er sich in diese Frau, folgt ihren Spuren, bis er durch einen Zufall erfährt, dass sie Marie heißt und ihren Ehemann sucht, den Schriftsteller Weidel, für den auf dem mexikanischen Konsulat bereits ein Visum bereitliegt. Was sie nicht ahnt ist, wie nahe sie durch den deutschen Ich-Erzähler ihrem Mann gekommen ist. Seidler schweigt, verfolgt seine eigenen Pläne, hilft Freunden und Bekannten, während er darüber nachdenkt, was er wirklich will.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Fluchtwege aus der lebensbedrohlichen Umklammerung durch die Nationalsozialisten in Europa, und die beinahe schon geschlossenen Routen nach Übersee. Transit wörtlich als Durchgang, Übergang, Durchreise und metaphorisch für die Entscheidung zwischen Gehen und Bleiben. „Um das zu sehen worauf es ankommt, muss man bleiben wollen. Unmerklich verhüllen sich alle Städte für die, die sie nur zum Durchziehen brauchen.“ (Zitat Seite 289)

Erzählform und Sprache

„Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende.“ (Zitat Seite 6) Der Ich-Erzähler lädt einen Unbekannten zu einem Glas Wein ein und beginnt zu erzählen. Seine Geschichte beginnt mit der Flucht aus einem Arbeitslager in Rouen. Ein unfertiges Manuskript des Schriftstellers Weidel und die damit verbundenen Ereignisse verändern den Ich-Erzähler langsam. Je mehr er in das Leben des Schriftstellers eintaucht, desto mehr lernt er, zuzuhören und Verantwortung zu übernehmen. Daher umfasst eine Geschichte auch die Schicksale der Menschen, die immer wieder seinen Weg kreuzen. So ergibt sich quasi ein Augenzeugenroman dieser Zeit, denn Anna Seghers ist eine genaue Beobachterin und der Stoff für diesen Roman entstand aus ihren eigenen Erlebnisse und Erfahrungen.

Fazit

Ein zeitlos lesenswerter und ebenso zeitlos aktueller Roman, ein einfühlsames Zeitdokument, in dessen Mittelpunkt Menschen auf der Flucht stehen. Angst, Hoffnung, Mut, Verzweiflung, Freundschaft, Liebe, persönliche Entscheidungen, dies alles ist in dem einen Wort Transit vereint.

Die ungeheure Welt in meinem Kopf – Hans Platzgumer

AutorHans Platzgumer
VerlagElster & Salis Wien
Datum29. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten180
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3950543520

„Ich hoffte, so viele Aufträge wie möglich zu kriegen. Sie sollten mich zurück in der Realität verankern.“ (Zitat Seite 98)

Inhalt

Sascha Konjovic, achtunddreißig Jahre alt, ist Taxifahrer in Wien, Nachtfahrer für Nachtschichten. Das Warten auf Fahrgäste lässt ihm genug Zeit, um Jazz zu hören und in Kafkas Tagebuchaufzeichnungen zu lesen. An diesem Montag, 2. Februar 2015, kommen  gegen 21 Uhr ein älterer Mann mit einem Aktenkoffer und eine deutlich jüngere Frau mit einem Rollkoffer aus dem Westbahnhof und steigen in sein Taxi. Es ist diese Frau, sie heißt Eugenie, wie die Tänzerin in Kafkas Aufzeichnungen, die Sascha nicht mehr aus dem Kopf geht. In seinem Wagen bleiben ein Hauch ihres Parfums zurück und eine lachsfarbene Rose, und er spürt, dass seine Geschichte mit Eugenie noch nicht zu Ende ist.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um unterschiedliche Wahrnehmungen von Wirklichkeit und Scheinwelten, um ein alltägliches Leben, in dem die Grenzen zwischen Realität und Phantasie pendeln, sich vermischen bis zur Auflösung. Die literarische Themenwelt von Franz Kafka in einer modern Version in das heutige Wien transferiert.

Erzählform und Sprache

Schon die Erzählform ist ungewöhnlich, unterstreicht jedoch perfekt diese Geschichte, denn sie ist ausschließlich in der direkten Rede geschrieben, auch alle Ereignisse, die sich zuvor zugetragen haben, werden in Dialogform geschildert. Es ist Sascha, der mit seinen Fahrgästen spricht, aber nicht alle, die sich in Saschas Gedanken drängen und mitreden, leben noch, und dies trifft nicht nur auf Franz Kafka zu. „Irgendwann kannst du nicht mehr entscheiden, wer du bist und wer die anderen sind, wer echt ist, wer nicht.“ (Zitat Seite 8) Die Geschichte selbst umfasst nur zwei Tage und führt uns Leser gekonnt und ganz im Stil von Kafkas Erzählungen mehrmals in die Irre, auch wenn wir bald eigene Vermutungen anstellen, verschwinden auch für uns die Grenzen zwischen der Wirklichkeit und den von Sascha in seinen Gedanken geschaffenen Scheinwelten. Dadurch bleibt die beklemmende Spannung bis zur letzten Seite aufrecht und auch unser Verständnis für die verschrobene, aber sympathische Hauptfigur.

Fazit

Hans Platzgumer gelingt mit diesem Roman eine ungewöhnliche, packende Hommage an Franz Kafka. Ein bizarres, skurriles, verwirrendes, trauriges, beklemmendes, doch gleichzeitig auch positives Leseerlebnis.

Die Zeit der Zikaden – Moritz Heger

AutorMoritz Heger
VerlagDiogenes Verlag
Datum26. Juni 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257072747

„Ihr Tinyhouse, nicht breiter als eine Fahrspur, wird sie nicht beengen, davon ist sie überzeugt. Vielmehr ihren Raum ins nahezu Grenzenlose öffnen.“ (Zitat Pos. 47)

Inhalt

Alex, etwas über sechzig Jahre alt, war sechsunddreißig Jahre lang als Lehrerin tätig, nun geht sie in Pension. Für sie ist es ein neugieriger Aufbruch in eine neue Freiheit. Ein Auto und ein Tinyhouse auf Rädern, nach ihren Wünschen geplant und sorgfältig eingerichtet, damit beginnt ihr Abenteuer. Auf der Hochzeit ihrer Lieblingsschülerin Wibke lernt sie auch deren Schwiegervater Johann kennen. Dieser, bald sechsundfünfzig Jahre alt, übergibt das Familienunternehmen, ein Bestattungsunternehmen, an seinen Sohn. Auch Johann braucht eine Auszeit, er will wieder malen. Das von seinem Onkel Renat geerbte, alte Rustico in Ligurien bietet sich dafür an. Als er Alex dorthin einlädt, nimmt sie die Einladung an und bald steht ihr Tinyhouse im Garten des Rusticos. Gemeinsam erkunden sie die Gegend, lauschen dem Gesang der Zikaden und spüren bald, dass dies mehr ist, als nur ein Besuch.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Altern als Chance, mit dem Ende des aktiven Berufslebens aus dem bisherigen Alltag aus- und aufzubrechen. Damit verbunden ist eine persönliche Freiheit, etwas völlig Neues zu tun. Weitere Themen sind Familie, Freundschaft und die wilde Schönheit Liguriens.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, Erinnerungen und Gespräche ergänzen die Handlung mit vergangenen Ereignissen aus dem Leben der beiden Hauptfiguren Alex und Johann, die im personalen Mittelpunkt stehen. Es sind die kleinen Erlebnisse des Alltags, die in diesem Roman geschildert werden, zwei ältere Menschen auf der Suche danach, wie sie ihr weiteres Leben gestalten wollen. Durch diese Kernthemen dominieren die Gespräche und persönlichen Gedanken die Handlung, die ebenso ruhig fließt, wie die Sprache, in der die Geschichte von Alex und Johann erzählt wird.

Fazit

Ein Roman über das Altern und die Suche nach neuen Möglichkeiten als Ausbruch aus dem Alltagstrott des bisherigen, durch den Beruf geprägten Lebens. Der Handlungsort Ligurien verbreitet südliches Flair und eine Wohlfühlatmosphäre

Die Herrlichkeit des Lebens – Michael Kumpfmüller

AutorMichael Kumpfmüller
VerlagFISCHER Taschenbuch
Datum17. Januar 2013
AusgabeTaschenbuch
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3596193608

„Auch der Doktor hat sein halbes Leben gewartet, zumindest ist das im Nachhinein sein Gefühl, man wartet und glaubt nicht daran, dass noch jemand kommt, und auf einmal ist genau das geschehen.“ (Zitat Seite 29)

Inhalt

Während eines Aufenthaltes in Graal-Müritz an der Ostsee lernt Franz Kafka im Sommer 1923 Dora Diamant kennen. Dora Diamant, fünfundzwanzig Jahre alt, arbeitet für das Berliner Jüdische Volksheim und betreut eine Feriengruppe. Zu diesem Zeitpunkt ist Franz Kafka vierzig Jahre alt und auf Grund seiner Krankheit bereits pensioniert. Doch mit Dora wagt er nochmals einen Neubeginn, gemeinsam beziehen sie eine Wohnung in Berlin-Steglitz. An ihrer Liebe ändern auch finanzielle Probleme, die Ablehnung der gegenseitigen Eltern und Kafkas Krankheit nichts.

Thema und Genre

m Mittelpunkt dieses Romans stehen der Schriftsteller Franz Kafka und Dora Diamant, seine letzte Lebensgefährtin. Themen sind das Leben des Schriftstellers, das Schreiben, Freundschaft, Familie, und vor allem die Liebe. Es geht auch um Deutschland während der Epoche der Weimarer Republik.

Erzählform und Sprache

Der Autor gliedert die Geschichte dieses besonderen Jahres von Franz Kafka und Dora Diamant in drei große Abschnitte und erzählt sie chronologisch. Er baut viele Details und Wissenswertes aus Tagebüchern und Briefen in die Handlung ein. So ergibt sich ein klares Bild Kafkas mit allen Zweifeln und Gefühlsschwankungen, sein teilweises Zaudern, das schon seine früheren Beziehungen geprägt hat, sein problematisches Verhältnis zu seinen Eltern und seinen Geschwistern. Gleichzeitig erfahren wir auch, wie Dora Diamant ihren „Doktor“ sieht, ihre Hoffnungen, Zukunftsträume und Sorgen. „Ein inneres Feuer, stellt sie sich vor, etwas, das sich erneuert, vielleicht nicht nur aus sich selbst, aber zum größten Teil, weil er liebt und wiedergeliebt wird, aus seiner großen Zuneigung zu allem und jedem.“ (Zitat Seite 211) Die Erzählsprache ist leise fließend.

Fazit

Ein einfühlsamer, poetischer Roman über die Kraft der Liebe und die Überraschungen des Lebens.

Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft – Volker Weidermann

AutorVolker Weidermann
Verlagbtb Verlag
Datum10. August 2015
AusgabeTaschenbuch
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442748914

„Die Welt will schlafen, um in Frieden zu leben. Und die kleine Ostende-Gruppe hasst ihre Machtlosigkeit, hasst sie bis zur Verzweiflung.“ (Zitat Seite 92)

Inhalt

Im Sommer 1914 war Stefan Zweig zum ersten Mal in diesem belgischen Badeort am Meer gewesen, bis der Sommer, an dessen herrliche Tage er sich noch immer erinnert, damals am 28. Juli plötzlich geendet hatte – Österreich hatte Serbien den Krieg erklärt. Nun ist er wieder hier, in diesem Sommer 1936 und mit ihm Schriftsteller, die ihre Heimat Deutschland verlassen haben, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Joseph Roth, Irmgard Keun, Egon Kisch, Arthur Koestler, Ernst Toller, Hermann Kesten, sie alle genießen wie Stefan Zweig die ausgelassene Stimmung am Strand, Sonne und Meer, die Gespräche in den Caféhäusern und Bistros. Doch die Wehmut des Abschiednehmens schwingt in  diesen Tagen mit, und die Sorge vor einer ungewissen Zukunft.

Thema und Genre

Es ist die Geschichte von deutschsprachigen Schriftstellern im Exil, deren Bücher im NS-Deutschland verboten und verbrannt worden waren, von einem letzten Sommer im berühmten belgischen Badeort Ostende, bevor sich ihre Wege trennen.

Erzählform und Sprache

Volker Weidermann erzählt ruhig fließend und einfühlsam von diesen Tagen und den Menschen. Er folgt den einzelnen Personen abwechselnd, sie treffen einander wieder, oder lernen einander hier kennen. Im Mittelpunkt steht die besondere Freundschaft zwischen Stefan Zweig und Josef Roth. Der Zeitrahmen spannt sich vom Sommer 1936 bis ins Jahr 1939 und wird durch Erinnerungen an vergangene Ereignisse ergänzt. Das letzte Kapitel schildert das weitere Schicksal aller Hauptfiguren.

Fazit

Eine umfangreiche Recherche und fundiertes Fachwissen verbinden diese fiktive Geschichte des Sommers 1936 in Ostende mit den Fakten der deutschsprachigen Literatur und Schriftsteller im Exil.

Lass die Sonne scheinen – José M de Vasconcelos

AutorJosé M de Vasconcelos
VerlagUrachhaus
Datum11. Februar 2020
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ÜbersetzungWiebke Augustin, Carla Koeser
ISBN-13978-3825152062

„Ich hatte einen Freund gefunden, hatte eine Woche frei und konnte es kaum erwarten zu erfahren, wie mein Leben sich verbessern würde.“ (Zitat Seite 24)

Inhalt

José „Sesé“ aus „Mein kleiner Orangenbaum“ ist inzwischen zehn Jahre alt und lebt als Pflegesohn bei einer begüterten Arztfamilie. Daher kann er die höhere Maristen-Klosterschule besuchen, doch er fühlt sich als Außenseiter und die strenge Einteilung seiner Tage in seiner neuen Familie engt ihn ein. „Sie wollen mich perfekt machen, wozu weiß ich nicht.“ (Zitat Seite 33) Die innere Traurigkeit nach seinen prägenden Verlusten der Kinderzeit ist geblieben, doch auch seine lebhafte Phantasie und die Ideen für besondere Streiche. Verständnis findet er bei Bruder Fayolle, bei Maurice und natürlich bei seinem besonderen Freund, der Cururu-Kröte Adão, der sich bemüht, endlich die Sonne in Sesés Herz zu bringen.  

Thema und Genre

In diesem Roman mit autobiografischem Hintergrund geht es um die Probleme von Jugendlichen, die Zweifel und Hoffnungen, ihre innere Einsamkeit und das teilweise Unverständnis der Erwachsenen.

Erzählform und Sprache

Sesé ist das erzählende Ich seiner Geschichte, die er in chronologischen Episoden schildert, ergänzt durch seine Erinnerungen. Durch diese Erzählform erhalten wir auch tiefe Einblicke in seine Gefühlswelt, seine Gedanken, Vorstellungen und natürlich auch in seine Zweifel und Konflikte. Immer wieder schildert er seine Ideen, wie es zu seinen zahlreichen Streichen in der Schule und auch in der Nachbarschaft kam und beschreibt auch, wie er seine Pläne dann ausführt, sowie die jeweiligen Folgen für ihn selbst. Teilweise beginnen diese Streiche die Geschichte zu dominieren und im Gegensatz zu seinen phantasievollen Geschichten, die er in einer Realität seiner Gedanken durchlebt, finden sie tatsächlich statt. Die Sprache übernimmt einfühlsam und authentisch die Gedankenwelt eines Heranwachsenden.

Fazit

Eine berührende, poetische, manchmal sehr traurige Geschichte über die schwierigen Jahre des Heranwachsens eines einsamen, durch frühe Verluste geprägten Jungen. Eine Zeit, die geprägt ist von Fragen, Sehnsüchten, der ersten Liebe, aber auch von phantasievoll ausgeheckten Streichen.

Mein kleiner Orangenbaum – José Mauro de Vasconcelos

AutorJosé Mauro de Vasconcelos
VerlagUrachhaus
Datum1. September 2021
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten199
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMarianne Jolowicz
ISBN-13978-3825176730

„Du heißt nicht umsonst José. Du wirst die Sonne sein, und die Sterne werden um dich leuchten.“ (Zitat Seite 21)

Inhalt

Als José, genannt Sesé, fünf Jahre alt ist, kann er lesen. Er hat es sich selbst heimlich beigebracht. Er ist neugierig auf das Leben, steckt voller Geschichten und hat ständig neue Ideen für Streiche, die er lustig findet. So wird er oft streng bestraft, auch für Dinge, die nicht er getan hat. Als sie in ein kleineres Haus ziehen müssen, weil der Vater arbeitslos ist, steht dort im Garten ein sehr kleiner Orangenbaum. Dieses Bäumchen, Sesé nennt es „Knirps“, wird sein bester Freund. Mit ihm erlebt er seine Phantasieabenteuer und ihm erzählt er alle seine Sorgen. Bis zur Sache mit der Glasscherbe, denn nun hat er wirklich einen Freund, Manuel „Portuga“ Valadares und wenn man sich seinen Vater hätte aussuchen können, dann hätte Sesé sich Portuga gewünscht.

Thema und Genre

In diesem autobiografischen Roman geht es um einen Jungen, der in sehr einfachen Verhältnissen in Brasilien aufwächst. Themen sind Kinderarmut, Kinderwelt und Erwachsenenwelt, Phantasie, die Natur, Zuwendung und Liebe.

Erzählform und Sprache

Der Zeitrahmen umfasst nur ein Jahr und es ist die Hauptfigur Sesé, der die Geschichte als Ich-Erzähler schildert. Er nimmt uns mit in seine eigene Welt, teilt mit uns die phantasievollen Geschichten, die er sich ausdenkt, seine Gedanken und seine eigene Auslegung für Geschehnisse aus der Welt der Erwachsenen, die durch Erklärungen in Form von Gesprächen ergänzt werden. Es sind Details und Alltagsereignisse, die sich so mit seinen Träumen, Wünschen, aber auch Ängsten verbinden. Die poetische Sprache beeindruckt durch ihre sanfte Intensität.

Fazit

Eine sehr zärtliche, gefühlvolle Geschichte, die sich mit der Traurigkeit der Realität verbindet und dennoch positiv nachklingt.

Der Nebel von gestern – Leonardo Padura

AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum1. Februar 2010
AusgabeTaschenbuch
Seiten384
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHans-Joachim Hartstein
ISBN-13978-3293204843

„Die Bolerosängerinnen damals, das waren ganz besondere Frauen. Frauen mit Charakter, wie geschaffen für die Musik, die sie sangen.“ (Zitat Seite 88)

Inhalt

Mehr als dreizehn Jahre sind vergangen, seit Mario Conde die Kripo verlassen hat und nun als Antiquar tätig ist. Gerade in diesen Zeiten der Wirtschaftskrise werden kaum mehr neue Bücher veröffentlicht, Privatbibliotheken werden aus Not jedoch verkauft. El Conde spürt interessante Sammlungen auf, sein Geschäftspartner Yoyi „El Palomo“ bringt diese dann auf den Markt. In einem alten Haus, dessen ehemalige Eleganz noch spürbar ist, entdeckt El Conde eine umfangreiche Bibliothek mit wertvollen Erstausgaben. Die Geschwister Amalia und Dionisio Ferrero, die mit ihrer neunzigjährigen Mutter in dem Haus leben, brauchen das Geld, um nicht zu verhungern. In einem alten Kochbuch findet El Conde einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1960 über die junge, schöne und erfolgreiche Bolerosängerin Violeta del Rio und ihren überraschenden Rücktritt von der Bühne. Das Bild und die Stimme der Bolerosängerin ziehen El Conde beinahe magisch an und er beginnt nachzuforschen, was damals geschehen ist. Eines frühen Morgens jedoch steht plötzlich Manuel Palacios, inzwischen Capitán, vor El Condes Tür. Dionisio Ferrero ist in seinem Haus ermordet worden, El Conde und El Palomo stehen unter Mordverdacht.

Thema und Genre

Gibt es den epischen Kriminalroman schon als Genre, denn besser kan man diesen Roman nicht beschreiben. Es geht um Politik und die Wirtschaftskrise in Kuba, das blühende, lebhafte, schillernde Nachtleben Havannas in den Clubs der vorrevolutionären fünfziger Jahre, um Musik, Schicksale, Freundschaft, Liebe und natürlich um Literatur und alte, wertvolle Bücher.

Charaktere

Die einzelnen Protagonisten in beiden Handlungssträngen bieten eine bunte Vielfalt, sie alle sind realistisch und absolut glaubhaft charakterisiert. Seine Heimatstadt Havanna, in der Bandenkriminalität und Armut allgegenwärtig sind, wird Mario Conde immer fremder, ihm bleiben seine Erinnerungen, die ihn bei seinen Streifzügen durch die alten Viertel begleiten. „In dieser Nacht der Verirrungen sah er sich vor die Tatsache des allgemeinen Scheiterns gestellt, das er selbst verkörperte, er und seine brutale Entwurzelung inmitten einer im Nebel der Erinnerungen versunkenen und einer anderen, sich auflösenden Welt.“ (Zitat Seite 211, 212)

Erzählform und Sprache

Die aktuelle Handlung wird unterbrochen durch eine Reihe von Briefen, die jemand zwischen Oktober und März eines bestimmten Jahres in der Vergangenheit schreibt. Die Jahreszahl fehlt, lässt sich jedoch nachvollziehen, wer diese Briefe schreibt, lässt sich nur vermuten. Erst im Laufe der fortschreitenden Handlung und durch Condes Recherchen, Erinnerungen und Gespräche ergeben sich Hinweise und weitere Teile eines Puzzles der Ereignisse in den fünfziger Jahren. Gleichzeitig malt Leonardo Padura durch seine lebhaften Schilderungen ein eindrückliches und interessantes Bild Havannas in den fünfziger Jahren und in der Zeit der aktuellen Handlung, die ersten Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts.  

Fazit

Eine bildintensive, epische Zeitreise durch das pulsierende Leben in Havanna, seine Kultur, Musik und Literatur und gleichzeitig eine packende Geschichte über Träume, Hoffnungen und menschliche Leidenschaften. 

Rayuela. Himmel und Hölle – Julio Cortázar

AutorJulio Cortázar
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum16. August 2010
AusgabeTaschenbuch
Seiten656
SpracheDeutsch
ÜbersetzerFritz Rudolf Fries
NachwortChristian Hansen
ISBN-13978-3518460573

“Sie hatten angefangen, durch ein märchenhaftes Paris zu wandern, sich leiten zu lassen von den Zeichen der Nacht, Wege einzuschlagen, die aus dem Satz eines Clochards entstanden waren, aus einer beleuchteten Dachkammer in der Tiefe einer schwarzen Straße. Auf den kleinen, intimen Plätzen hielten sie an, küßten sich auf den Bänken oder betrachteten die Kreidestriche von Himmel-und-Hölle, die kindlichen Riten mit dem Kiesel, das Hüpfen auf einem Bein, um in den Himmel zu gelangen.“ (Zitat Seite 36)

Inhalt

In den Fünfzigerjahren lebt der Argentinier Horacio Oliveira einige Zeit in Paris. Tagsüber streift er mit der Maga, seiner Freundin, durch die Stadt an der Seine, durch Museen, Straßen und Cafés. Die Nächte jedoch verbringen sie in einem Künstlerclub, wo sie mit ihren Freunden über Kunst, Literatur, Musik und alle Fragen des Lebens diskutieren. Doch dann verlässt ihn die Maga und verschwindet spurlos. Als Horacios Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert wird, kehrt er nach Buenos Aires zurück. Wie schon zuvor in Paris, sucht Horacio in Gedanken immer noch nach der Maga, glaubt sie manchmal in seiner Einbildung zu sehen, verliert sich immer mehr in einer Phantasiewelt.  

Thema und Genre

In diesem Roman, der in Paris und Buenos Aires spielt, geht es um die Pariser Künstlerszene, Schriftsteller, Philosophie, Politik, Lebensentwürfe, imaginäre Parallelwelten, Beziehungen und Liebe in vielen Facetten.

Charaktere

Die Hauptfigur Horacio Oliveira ist ein Suchender. Ein intellektueller Denker und kreativer Träumer, dessen Leben davon geprägt ist, dass er sich in seinen mäandernden Gedanken über jedes Problem und Thema verfängt, statt zu entscheiden und dann auch zu handeln. So wird es für ihn immer schwieriger, die Realität von seiner Phantasiewelt zu trennen.

Erzählform und Sprache

Rayuela, ein besonderer, vielseitiger Roman, den man in 56 fortlaufenden Kapiteln lesen kann und der dann bei Seite 406 endet. Oder aber man liest das Buch, benannt nach dem Kinder-Hüpfspiel Himmel und Hölle, in der vom Autor vorgegebenen Reihenfolge und mit ergänzenden Kapiteln. In dieser Variante beginnt man mit Kapitel 73, gefolgt von 1 und 2, springt dann auf 116 und zurück auf 3 und so geht es fort über insgesamt 636 Seiten. Diese zusätzlichen Kapitel ergänzen mit vertiefenden Gedanken, Überlegungen, Bewusstseinsströmen, aber auch Ausflügen in die Literatur, immer jedoch im Zusammenhang mit den ursprünglichen Kapiteln und auch immer wieder in die Reihenfolge 1 – 56 zurückkehrend. Die praktische Umsetzung ist einfach, denn am Ende eines Kapitels steht die Nummer des Kapitels, welches als nächstes gelesen werden soll. Die Handlungsfragmente, die wechselnden Erzählperspektiven und die sprachliche Ausdrucksform mit ihren Satzlabyrinthen ergeben ein spannendes, surreales, aber auch anspruchsvolles Verwirrspiel. „Dritte Möglichkeit: aus dem Leser einen Komplizen machen, einen Weggenossen. Und einen Zeit-Genossen, da ja die Lektüre die Zeit des Lesers tilgt und in die des Autors überführt. So könnte der Leser Mitbeteiligter und Mitbetroffener der Erfahrung werden, die der Romanautor durchgemacht hat, im gleichen Augenblick und in der gleichen Weise.“ (Zitat Seite 456-457, 79. Kapitel)

Fazit

Rayuela ist ein literarisches, sehr ungewöhnliches Kapitel-Springen, ein Labyrinth, das sprachlich und inhaltlich eine Herausforderung ist. Keine Lektüre „für zwischendurch“, wenn man sich entscheidet, dem Wegweiser des Autors durch das ganze Buch zu folgen, aber es lohnt sich aus vielen Gründen, sich auf dieses Leseabenteuer einzulassen.

Eine Frau – Sibilla Aleramo

AutorSibilla Aleramo
VerlagEisele Verlag
Datum25. April 2024
AusgabeGebundenes Buch
Seiten288
SpracheDeutsch
NachwortElke Heidenreich
ÜbersetzungIngrid Ickler
ISBN-13978-3961611850

„Denken, denken! Wie war ich nur so lange ohne das Nachdenken ausgekommen? Menschen und Dinge, Bücher und Landschaften, alles bot Stoff zum Nachdenken für mich.“ (Zitat Pos. 1645)

Inhalt

Die Ich-Erzählerin, die Älteste von vier Kindern, verbringt ihre Kindheit in Mailand. Als sie zwölf Jahre alt ist, nimmt ihr Vater eine neue Stellung als Direktor einer Fabrik in einem Dorf in Süditalien an. Damit nimmt ihr Leben eine völlig neue Richtung, denn in diesem Dorf gibt es zwar das Meer inmitten einer lichtdurchfluteten Landschaft, aber keine weiterführenden Schulen. Mit fünfzehn Jahren arbeitet sie schon als Assistentin im Büro ihres Vaters. Sie ist erst sechzehn Jahre alt, als sie einen zehn Jahre älteren, einfachen Mann heiratet, obwohl sie bereits berechtigte Zweifel hat. Als ihr Sohn geboren ist, wird das Kind für sie zum Mittelpunkt ihres Lebens. Dies ändert sich auch nicht, als sie das Dorf verlassen und nach Rom ziehen. Doch in dieser lebhaften Stadt findet sie gleichzeitig eine völlig neue Freiheit, Kultur, Bildung und die intellektuelle Herausforderungen, die sie so lange vermisst hat. Dann wird ihrem Mann die Direktorenstelle in der Fabrik im Dorf angeboten, die bisher ihr Vater innegehabt hatte.

Thema und Genre

In diesem stark autobiografischen Roman, der 1906 erschienen ist, geht es um Gesellschafts- und Sozialstrukturen, die Situation der Frauen besonders in einem von Traditionen geprägten Umfeld und die Anfänge der Frauenbewegung.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte schildert chronologisch die ersten fünfundzwanzig Jahre im Leben einer Frau zwischen Städten wie Mailand und Rom und einem Dorf im Süden Italiens. Die Erzählform in der ersten Person schildert neben den Erlebnissen und Ereignissen vor allem die eigenen Bewusstseinsströme, die Gedanken, heftigen Zweifel, Auflehnung, aber auch Hoffnungen der Ich-Erzählerin. Dies wird dadurch verstärkt, dass diese zu schreiben beginnt, aufschreibt, wie sie sich fühlt und gleichzeitig beginnt, ihr Verhalten zu analysieren. Mit einer neuen Aufmerksamkeit beobachtet sie die Welt um sich herum, besonders das Leben der Frauen, das soziale Gefüge der Gesellschaft und die neue Arbeiterbewegung, die nun auch ihr Land erreicht hat. Die Sprache der engagierten italienischen Journalistin, Schriftstellerin und überzeugten Feministin ist lebhaft und wortreich, in den intensiven eigenen Gedankenströmen teilweise etwas überbordend, was sicher der Ausdrucksweise der damaligen Zeit entspricht. Ein ihrem Nachwort verweist Elke Heidenreich auf viele Fakten aus dem Leben der Schriftstellerin Sibilla Aleramo, die sich bis ins Detail in diesem Roman wiederfinden.

Fazit

Ein authentisches Zeitbild, das sich mit den Lebensumständen der Frauen um die Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert in Italien auseinandersetzt. Diese deutlich autobiografische Geschichte beschreibt eindringlich und intensiv die schwierige Suche der Protagonistin nach einem freien, selbstbestimmten Leben. Ein Roman der zum Nachdenken anregt, auch über die Situation in unserer modernen Zeit, in der Frauen weltweit immer noch in patriarchalischen, traditionellen Strukturen leben, fern von Gleichberechtigung und persönlicher Freiheit.

Der Wind kennt meinen Namen – Isabel Allende

AutorIsabel Allende
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum15. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten335
SpracheDeutsch
ÜbersetzungSvenja Becker
ISBN-13 978-3518432006

„Wir sind nicht verloren. Der Wind kennt meinen Namen und deinen auch. Alle wissen, wo wir sind.“ (Zitat Seite 221)

Inhalt

Im Dezember 1938 versucht Rachel Adler im chilenischen Konsulat in Wien verzweifelt, Visa für sich, ihren Mann Rudolf, und den gemeinsamen Sohn Samuel zu erhalten. Doch die Zeit drängt und so besteigt der sechsjährige Samuel am 10. Dezember gemeinsam mit vielen anderen Kindern, aber ohne seine Eltern, den Zug nach England und ohne zu wissen, ob und wann er sie wiedersehen wird. Anfang Januar 1982 erreicht die kleine Leticia Cordero aus El Salvador in den Armen ihres Vaters, der in einer dunklen Nacht schwimmend den Rio Grande überquert, die Vereinigten Staaten. Nur durch einen Zufall sind die beiden dem Massaker von El Mozote im Dezember 1981 entkommen. Mitte Oktober 2019 wird die siebenjährige Anita Díaz aus El Salvador nach der illegalen Einreise über Mexiko in die Vereinigten Staaten gewaltsam von ihrer Mutter getrennt und in ein Auffanglager für Kinder gebracht. Dort wartet sie sehnsüchtig darauf, dass ihre Mutter sie findet und abholt. Drei Menschen, tief geprägt durch den Verlust von Heimat und Familie, auf der Suche nach Hoffnung und einem sicheren Platz in ihrem Leben.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Flucht, Vertreibung, Verlust und Eltern, die alles tun, um ihre Kinder zu retten. Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen jedoch die Kinder, denen es gelingt, durch Hoffnung und Phantasie Wege aus ihrer beinahe ausweglosen Situation zu finden und Menschen, denen sie früher oder später begegnen und die ihnen helfen.

Erzählform und Sprache

Isabel Allende schildert die Geschichte von drei Menschen, die zu unterschiedlichen Zeiten geboren wurden und deren Kindheit jeweils viel zu früh und plötzlich durch prägende Ereignisse zu Ende ist. In voneinander unabhängigen Handlungssträngen folgt sie ihren unterschiedlichen Hauptfiguren in einander abwechselnden Kapiteln. Jedes dieser Kapitel trägt als Überschrift den Namen, der im jeweiligen Abschnitt im personalen Mittelpunkt steht, sowie Ort, Monat, Jahr. So bleibt die Geschichte fließend und übersichtlich zu lesen, während die Ereignisse, ebenso wie die Fragen nach möglichen Zusammenhängen für Spannung sorgen. Die Autorin schreibt einfühlsam und nahe der Realität.

Fazit

Eine beeindruckende Geschichte zu zeitlos aktuellen Themen, klug aufgebaute Handlungsstränge, authentische Figuren und Schicksale – ein Leseerlebnis, das nachdenklich stimmt und auch sprachlich überzeugt.

Tanger Transit: Ein Fluchtversuch – Claus G. H. Mayer

AutorClaus G. H. Mayer
Verlagtredition
Datum5. Juli 2023
AusgabeTaschenbuch
Seiten460
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3347981744

„Er würde vorsichtig so weit nachforschen, wie es ging. Vielleicht noch etwas weiter – Cotter kannte sich und er wollte immer wissen, was hinter dem Berg war.“ (Zitat Seite 27)

Inhalt

Cotter ist ein Freigeist, er liebt Camping, guten Kaffee und Nordafrika. Auf den Campingplätzen der spanischen Costa de la Luz findet er die Teilnehmer für seine geführten Touren mit Schwerpunkt Marokko. Es sind stürmische Märztage und Cotter weiß, dass nach solchen Nächten am Strand manchmal Schmuggelgut zu finden ist. Doch an diesem Märzmorgen am Strand von Tarifa findet Cotter keine Zigaretten, sondern Menschen, tot, ertrunken. Besonders ein Junge fällt ihm auf, da er sich von den anderen unterscheidet, vermutlich ein Saharaberber. Cotter interessiert das Schicksal hinter dieser Flucht, heimlich nimmt er die Tasche des Toten an sich und folgt dessen Spuren zurück nach Nordafrika.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Hintergründe der Migration aus Afrika nach Europa, das Geschäft mit den Flüchtlingen und die Schicksale der betroffenen Menschen. Themen sind das Leben in Nordafrika mit Schwerpunkt Marokko, Gesellschaft und Tourismus. Die Geschichte ist fiktiv, die Problematik, welche die Menschen in die Boote treibt, ist jedoch beklemmende Realität.

Charaktere

Es sind sehr unterschiedliche Menschen, auf die der Althippie Cotter während dieser besonderen Reise auf den Spuren eines jungen Marokkaners trifft, einige kennt er von früheren Touren, anderen begegnet er unterwegs und einige von ihnen begleiten ihn auf seiner Suche. Parallel dazu tauchen neue Charaktere auf, wir folgen ihrem Schicksal und ihren Entscheidungen. Eines haben alle Charaktere gemeinsam, sie sind eindrücklich und glaubhaft geschildert, ihr Verhalten nachvollziehbar.

Erzählform und Sprache

Der Autor erzählt die Ereignisse in mehreren Handlungssträngen, die aktuell und gleichzeitig stattfinden, oder in einer nahen Vergangenheit stattgefunden haben. Im Mittelpunkt der Handlung stehen immer die jeweiligen Protagonisten, manche vorerst mit ihrer eigenen, unabhängigen Geschichte. Wie der Autor einige diese einzelnen Handlungsstränge der einander zunächst fremden Einzelfiguren als themenverstärkende Erklärungen einsetzt, und sich im späteren Verlauf der Ereignisse annähern lässt, ist gekonnt, lebendig und packend. Hier schreibt ein Theaterregisseur, der jede Szene, jede Entwicklung bis ins Detail überlegt hat. Die Sprache zeigt viele Facetten zwischen salopp, einfühlsam, emotional, eindringlich, und beeindruckt durch lebhafte Schilderungen des Lebens in Nordafrika, der Menschen, der Natur, aber auch der Gedanken und Hintergründe. Hier schreibt ein Autor, der sich auskennt, genau beobachtet, und die Problematik sachlich und fundiert von unterschiedlichen Seiten beleuchtet.

Fazit

Eine spannende Geschichte, dazu viele Informationen und wissenswerte Fakten, großartige Schilderungen der Menschen, der Städte und Landschaften Marokkos. Darin eingebunden sind brisante aktuelle Themen und eine kritische Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft. Dieses Buch hilft zu verstehen, ohne belehren zu wollen, es überzeugt als Gesamtpaket von der ersten Seite an.

Der Sommer, in dem alles begann – Claire Léost

AutorClaire Léost
VerlagKiepenheuer&Witsch
Datum11. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ÜbersetzungStefanie Jacobs, Jan Schönherr
ISBN-13978-3462003871

„In diesem magischen Jahr entdeckt Hélène ein neues Land, bevölkert von Schriftstellern und Worten. Jedes Buch ist eine Schatzkiste.“ (Zitat Pos. 173)

Inhalt

Marguerite Renaud, eine erfolgreiche Dozentin für Literaturwissenschaften in Paris, ist mit dem erfolgreichen Krimi-Schriftsteller Raymond Berger verheiratet. Als Raymond vorschlägt, für einige Zeit in die Bretagne zu ziehen, in der Hoffnung, in der wilden Einsamkeit seine Schreibblockade überwinden zu können, sagt sie zu. Sie verschweigt Raymond, dass auch sie einen Grund hat, ausgerechnet in die Finistère zu ziehen. Marguerite ist auf der Suche nach ihrer Mutter, die sie nach der Geburt zur Adoption freigegeben hat und aus dieser Gegend stammte. Marguerite nimmt eine Vertretungsstelle als Französischlehrerin am Gymnasium in Bois d‘en Haut an. Dort trifft sie auf die sechzehn Jahre alte Hélène und sie erkennt rasch die Begabung des Mädchens. Während Hélène sich begeistert der Literatur zuwendet, entsinnt sich ihr Freund Yannik plötzlich seiner bretonischen Wurzeln. Die Ereignisse dieses Sommers werden genau beobachtet von der druidischen Kräuterfrau Mamie Alexine, Hélènes Großmutter, und deren bester Freundin Émile Tanguy, Inhaberin des Dorfladens.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Gesellschaftsstrukturen, Familie, Frauenleben, Literatur, Nationalismus und alte Traditionen in der Bretagne.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte beginnt mit einem kurzen Einstieg in der Gegenwart, führt dann zwanzig Jahre zurück zu einem bestimmten Tag im Jahr 1994 und beginnt von dort an, in einem umgekehrten, rückwärtsgerichteten Zeitablauf, die Ereignisse aufzurollen. Parallel dazu führt ein zweiter Erzählstrang weitere fünfzig Jahre zurück und bietet dadurch auch Hinweise auf die bretonische Geschichte. Erinnerungen und Gedanken vertiefen die Erlebnisse und Charaktere der einzelnen Figuren. Es sind unterschiedliche Figuren, deren Verhalten nicht immer nachvollziehbar ist, da sich die Geschichte aus den Konflikten und den Handlungen der einzelnen Figuren ergibt. Die Sprache entspricht dem Genre Unterhaltungsroman und ist leicht zu lesen.

Fazit

Dieser Frauen- und Generationenroman konnte meine Erwartungen nicht ganz erfüllen. Die Geschichte wirkt auf mich zu bewusst konstruiert und die Figuren zu klischeehaft. Die abwechslungsreiche Erzählform macht diesen Roman dennoch zu einer angenehm zu lesende Unterhaltungslektüre, die sicher andere Leserinnen begeistern wird.

Die Zeit im Sommerlicht – Ann-Helén Laestadius

AutorAnn-Helén Laestadius
VerlagHOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Datum4. April 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten480
SpracheDeutsch
ÜbersetzungMaike Barth, Dagmar Mißfeldt
ISBN-13978-3455017083

„Als sie das Internat betrat, hatten sich die Betreuerinnen in einer Reihe aufgestellt und die Kinder angelächelt, in deren Gesichtern die Tränen Spuren hinterlassen hatten. Vor allen stand die Heimleiterin Rita Olsson, die sie Hausmutter nennen sollten. Sie lächelte nicht.“ (Zitat Pos. 49)

Inhalt

Vor zwei Wochen war auch die siebenjährige Else-Maj in dem Bus gesessen, der die Kinder aus den Sami-Dörfern einsammelte und in die Nomadenschule brachte, ein Internat in Láttevárri, wo sie die schwedische Sprache und Kultur lernen sollen. Wer von der gefürchteten Hausmutter Rita Olssen dabei erwischt wird, samisch zu sprechen, wird streng bestraft. Hilfe und Unterstützung finden sie bei der jungen Erzieherin Anna, doch diese verlässt eines Tages plötzlich das Internat. Die Jahre in der Nomadenschule, fern von ihren Heimatdörfern und ihren Familien, traumatisieren und prägen die Kinder wie Else-Maj, Jon-Ante, Nilsa, Marge und Anne-Risten für ihr weiteres Leben. Auch wenn sie nicht über diese schlimme Zeit reden, die Erinnerungen lassen sie auch nicht los, als sie längst erwachsen und selbst Eltern sind.

Thema und Genre

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Sami auch in Schweden diskriminiert und unterdrückt, man zwang die Eltern, ihre Kinder auf sogenannte Nomadenschulen zu schicken, wo der Unterricht ausschließlich in schwedischer Sprache stattfand. Es war verboten, samisch zu sprechen und die Zustände in diesen Schulen haben die betroffenen Menschen über Generationen traumatisiert. Obwohl es sich hier um einen Roman handelt, sind viele reale Erinnerungen von Schülerinnen und Schülern der Nomadenschulen in die Handlung eingeflossen.

Erzählform und Sprache

Die Autorin folgt ihren Hauptfiguren in einzelnen Abschnitten und mit einigen Zeitsprüngen über mehr als dreißig Jahre, beginnend 1950. Durch den jeweiligen Namen und auch das Jahr in den Kapitelüberschriften ist die Handlung jedoch sehr klar strukturiert und nachvollziehbar. Gerade diese Art des Erzählens macht die Geschichte packend, lebhaft und vielschichtig auf Grund der Entwicklung der einzelnen Charaktere als Folge der Kindheitserlebnisse. In Verbindung mit der präzise schildernden, empathischen Erzählsprache ergibt sich ein eindrucksvolles, berührendes Gesamtbild.

Fazit

Eine fiktive Geschichte mit realem geschichtlichen Hintergrund, ein beeindruckender Roman über die Sami, ihre Kultur, ihr freies Leben in der Natur und die Schicksale ihrer Kinder, die mit etwa sieben Jahren aus diesem Leben gerissen und in strenge Internate gebracht wurden, wo man versucht hat, sie mit Zwang umzuerziehen. Eine Lektüre, die nachhallt und die man noch lange in den Gedanken behält.

Ein falsches Wort – Vigdis Hjorth

AutorVigdis Hjorth
VerlagS. FISCHER
Datum13. März 2024
AusgabeHardcover
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13 978-3103975130

„Das war gut, und es war kein Wunder, dass sie wahrscheinlich darüber gesprochen hatten, was von der Geschichte zu halten war, denn man kann nicht alles glauben, was Menschen über ihre Kindheit erzählen.“ (Zitat Seite 245)

Inhalt

Der Erbstreit zwischen den vier Geschwistern beginnt schon Wochen vor dem Tod des Vaters, als dieser die beiden Ferienhütten der Familie auf der Insel Hvaler auf die zwei jüngeren Töchter Astrid und Åsa überschreibt und sowohl Bård, den Ältesten, als auch die ältere Tochter Bergljot übergeht. Dreiundzwanzig Jahre ist es her, seit Bergljot mit der Familie gebrochen hat, doch nun ergreift sie Partei für Bård. Bald wird klar, in dieser Geschichte ihrer Familie, die uns Bergljot hier erzählt, ist der Streit um das Erbe nur der Auslöser, denn es ist Bergljot, die endlich gesehen werden will. Sie will, dass man ihr endlich zuhört und ihr glaubt, denn ihre Kindheit ist anders verlaufen, als die ihrer beiden jüngeren Schwestern. Vielleicht könnte sie dann endlich einen Schlussstrich ziehen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Familiengeheimnisse, prägende Kindheitserfahrungen, Mutter-Kind-Konflikte, Geschwister, Anerkennung, Glaubwürdigkeit, Vertuschung, Schuld und die Frage nach den Grenzen der Vergebung.

Erzählform und Sprache

„Ich wusste nicht, wie es war, ein normaler Mensch zu sein, ein unbeschädigter Mensch, ich hatte keine andere Erfahrung als meine eigene.“ (Zitat Seite 75) Dies sagt die Ich-Erzählerin Bergljot, beinahe sechzig Jahre alt, Literaturwissenschaftlerin und Mutter von drei erwachsenen Kindern, über sich selbst. Die aktuelle Handlung erstreckt sich über einen knappen Zeitraum zwischen dem Tod des Vaters, Notartermin und Abwicklung des Nachlasses. Die persönlichen Erinnerungen, welche die Ich-Erzählerin mit uns teilt, schieben sich als kurze Episoden und nicht chronologisch zwischen die aktuellen Ereignisse. So wird rasch klar, dass sich der tiefe Riss, der sich seit dem Erbstreit durch die Familie zieht, nur symbolisch ist für Verfälle, sie weit in der Vergangenheit liegen und die nicht klar ausgesprochen werden, aber dennoch deutlich genug sind, wenn Bergljot „darüber“ sprechen will. Durch die gewählte Form der direkt Betroffenen als Ich-Erzählerin tauchen wir tief in ihre Gedankenströme ein. Die Sprache, wie die Hauptfigur Bergljot selbst, ist anstrengend, wie ein in Wiederholungen sich drehender Gedankenkreisel, und man wird beim Lesen in diesem Sog mitgewirbelt. Als bewusst eingesetztes Stilelement passen die dauernden Wiederholungen einzelner Gedankengänge für mich perfekt, aber diese Wiederholungen der Gedanken, Worte und Sätze ziehen sich konstant durch die gesamte Geschichte. Auch wenn die Idee dahinter klar ist, es wird die Situation der Hauptfigur auch durch die Sprache eindrücklich dargestellt, so hat die Handlung dadurch trotz einiger bewusst eingesetzter Wendungen und Spannungselemente Längen. „Das Leben der Menschen ist wie ein Roman, dachte ich, wenn du in einem Roman weit genug gekommen bist, willst du, auch wenn er ziemlich langweilig ist, wissen, wie es weitergeht …“ (Zitat Seite 310) Dieses Teilzitat beschreibt perfekt meine persönliche Leseerfahrung mit diesem Roman.

Fazit

Eine gespaltene Familie, verstörende Geheimnisse, über die nicht gesprochen wird, und die wiederholten Versuche einer etwas nervenden, an sich selbst und ihrem Leben zweifelnden Hauptfigur, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen.

Labyrinth der Masken – Leonardo Padura

AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum22. Februar 2006
Ausgabemetro-Taschenbuch
Seiten256
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHans-Joachim Hartstein
ISBN-13978-3293203648

„Er fühlte sich hoffnungslos überfordert, ohne im Mindesten die Antwort auf eine der tausend Fragen zu wissen, die sich ihm stellten.“ (Zitat Seite 53)

Inhalt

In diesem dritten Band des Havanna-Quartetts ist es Sommer geworden, 1989, ein heißer, staubiger August. Nach der Prügelei mit Teniente Fabricio vor drei Monaten ist Mario Conde zum Erkennungsdienst strafversetzt worden, während nicht nur gegen ihn interne Ermittlungen laufen. Doch nun wird er gebraucht, denn dieser Mord an einem jungen Mann in einem roten Frauenkleid mitten im Stadtwald von Havanna ist besonders heikel, der tote Transvestit stammt aus einer sehr bekannten, angesehenen Familie. Die ersten Spuren führen die beiden Ermittler El Conde und Manuel Palacios zu dem international bekannten Dramatiker und Theaterregisseur Alberto Marqués Basterrechea. Während der Teniente die Vor- und Nachgeschichte des Mordes zu ergründen versucht, der ausgerechnet am 6. August, dem Fest der Verklärung Christi, der Transfiguration, stattgefunden hat, führen seine Gespräche mit Alberto Marqués dazu, dass El Condes Vorurteile schwinden.

Thema und Genre

In diesem Kuba-Roman geht es um Politik, Korruption, Gesellschaft, Vorurteile, Diskriminierung, Homosexualität. Im Mittelpunkt von Mario Condes Ermittlungen stehen diesmal ein alter, exzentrischer Künstler und natürlich wieder die Literatur.

Charaktere

„Mario Conde ist kein Polizist, sondern eine Metapher und sein Leben spielt sich im virtuellen Raum der Literatur ab.“ (Zitat Seite 6, Vorbemerkung des Autors) Doch es liegt an der genauen Beobachtungsgabe, der Phantasie und dem genialen Können des Autors, reale Menschen in seine fiktiven Charaktere einzubringen, Mario Conde und auch alle anderen Figuren seiner Romane, ungemein glaubwürdig und lebensnah wirken zu lassen, mit ihren Fehlern, Zweifeln, Träumen und Gefühlen.

Erzählform und Sprache

Auch dieser dritte Kriminalfall, den Mario Conde während des Jahres 1989 lösen muss, ist nur ein Teil der Geschichte, um die es in diesem Kuba-Roman geht. Das Thema Homosexualität, die damit verbundenen Vorurteile, die politischen Versuche einer Umerziehung, in Verbindung mit dem alltäglichen Leben in Havanna in dieser Zeit des Umbruchs, verdichten und erweitern die Handlung zu einem intensiven, weit gefächerten Gesamtbild. Mario Conde sagt von sich selbst, ein Mann der Erinnerungen zu sein und so erfahren wir durch seine Gedanken interessante Details darüber, wie sich Kuba, und vor allem die Stadt Havanna, verändert haben. „Ich verstehe das, natürlich verstehe ich das, denn diese Insel hat den historischen Auftrag, immer wieder neu zu beginnen, alle dreißig oder vierzig Jahre. Das Vergessen ist Balsam für alle offenen Wunden …“ (Zitat Seite 116). Die Sprache ist eine elegante, poetische Sprache der Literatur, verbunden mit der manchmal verstörend direkten Sprache einer Männerwelt.

Fazit

Ein spannendes, interessantes, beeindruckendes Leseerlebnis, eingebettet in die Liebe zu Kuba und zur Literatur.  

Handel der Gefühle – Leonardo Padura

AutorLeonardo Padura
VerlagUnionsverlag
Datum28. Februar 2006
Ausgabemetro-Taschenbuch
Seiten256
SerieDas Havanna-Quartett: Frühling
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3293203525

 „Na prima, dachte er, wenn ichs mir recht überlege, äuft das doch so: Ich bring das Leben anderer Leute in Ordnung, krieg aber mein eigenes nicht in den Griff.“ (Zitat Seite 50)

Inhalt

Es ist Frühling 1989 in Havanna und einer der typischen Frühlingsstürme wirbelt den Staub durch die Straßen. Einen Tag nach dem Aschermittwoch wird Lissette Núñez Delgado in ihrer Wohnung tot aufgefunden, es war ein brutaler Mord. Die Gymnasiallehrerin für Chemie war nur vierundzwanzig Jahre alt geworden. Die ersten Spuren führen den Ermittler, Teniente Mario Conde, genau in jenes Gymnasium, in dem auch er vor Jahren seine Oberstufenzeit verbracht hatte. Der Fall ist heikel, denn neben Alkohol ist auch Marihuana im Spiel und bald wird El Condo und seinem Teampartner Sargento Manuel „Manolo“ Palacios klar, dass Spuren auf einen professionellen Drogenhandel hinweisen. Obwohl im Lauf der Ermittlungen langsam einige Fakten zusammenführen, passt für Conde irgend etwas einfach nicht, auch wenn er es zunächst nicht erfassen kann.

Thema und Genre

Die Serie um den Ermittler Mario Conde spielt in Havanna und es steht nicht der Kriminalfall im Mittelpunkt, sondern es geht um die politische Situation Kubas 1989, Korruption, Überwachung, Drogenhandel, Kleinkriminalität und das bunte Leben der unterschiedlichen Menschen in der Stadt Havanna, eine Stadt mit einer bewegten Vergangenheit und unendlich vielen Facetten. Es geht um Männerleben, Freundschaft, Liebe, Einsamkeit und um Literatur.

Charactere

Als Junge träumte der Teniente Mario Conde davon, Schriftsteller zu werden und dieser Traum ist geblieben, eines Tages wird er den Polizeidienst verlassen und wieder schreiben. Er gilt als verbissen, intelligent und zu effizient für den Polizeidienst. Persönlich ist er pessimistisch, melancholisch, hat Macho-Allüren und liebt guten Rum, wenn erhältlich, sehr guten, starken Kaffee, wenn verfügbar, und in stillen Stunden träumt er davon, endlich die Liebe fürs Leben zu finden.

Erzählform und Sprache

Die Recherchen und Ermittlungen sind in den Tagesablauf von Mario Conde eingebettet, er teilt mit uns seine Liebe zu Havanna, zum Meer, zu Kuba und seine Erinnerungen. Wir beobachten ihn in seinem winzigen Büro im dritten Stock, das er wegen der Aussicht liebt, und das er sich mit Sargento Manolo teilt. Mit dem dünnen Carlos verbindet ihn eine enge Freundschaft fürs Leben, andere Freunde besucht El Condo, wenn er Tipps für seine Ermittlungen braucht. Diese sehr spezielle Figur El Condo hätte beinahe dazu geführt, dass ich nach etwa achtzig Seiten die Lektüre abgebrochen und das Buch zurück ins Regal gestellt hätte. Auch an die Sprache, literarisch, philosophisch, bildintensiv in den Schilderungen, in den Dialogen und speziellen Szenen jedoch umgangssprachlich, hart bis ins Vulgäre, musste ich mich gewöhnen. Doch dann plötzlich war ich im Sog der Geschichte, der Themenvielfalt und auch der Figuren dieses Romans, El Condo, frisch in die attraktive Saxofonspielerin Karina verliebt, eingeschlossen.

Eine Bemerkung zur Reihenfolge der Bücher des Havanna-Quartetts: ich habe mit dem Frühling begonnen, ohne zuvor nachzulesen, doch diese Serie beginnt mit dem Winter und endet mit dem Herbst. Da es insgesamt um die Ereignisse nur eines Jahres geht und jeder Fall in sich abgeschlossen ist, sehe ich kein Problem in der geänderten Reihenfolge. Zur Zeit lese ich den Sommer, werde den Winter anschließen und zuletzt dann den Herbst lesen, da dieser doch einen gewissen Abschluss bildet.

Fazit

Ein intensiver Kuba-Roman mit vielen Facetten, offen, direkt, realistisch, auch sprachlich teilweise eine Herausforderung und gleichzeitig ein packendes Leseerlebnis.

Treffpunkt im Unendlichen – Klaus Mann

AutorKlaus Mann
NachwortFredric Kroll
Verlag Rowohlt Taschenbuch
Erscheinungsdatum Neuausgabe Dez. 2020
FormatTaschenbuch
Seiten332
SpracheDeutsch
ISBN-13 978-3499223778

„Und sind Bindungen, auf die Menschen sich einlassen, wirklich lockerer, als sie früher waren oder scheinen sie`s nur, weil die Zwangsvorstellung des Besitzes sich zu verflüchtigen anfängt? Ich glaube, sie scheinen nur lockerer.“ (Zitat Seite 138)

Thema, Genre und Inhalt

Dieser Roman spielt in Künstlerkreisen in Berlin und Paris und besteht aus Parallelszenarien, aus Handlungssträngen, jeder davon eine eigene Geschichte, die gleichzeitig stattfinden, jedoch voneinander getrennt sind. Die Figuren kennen sich teilweise, es sind  Freundeskreise, die sich manchmal überschneiden, manche pendeln auch zwischen den beiden Städten und Gruppen. Es sind vor allem die Abende und Nächte, die das Leben in dieser Zeit prägen, Menschen auf der Suche nach Glück, nach Ablenkung, nach Liebe, Freundschaft, nach Beziehungen mit finanzieller Sicherheit und neuen Möglichkeiten. Die Figuren in dieser Geschichte finden einander, verlieren einander wieder, treffen in neuen Konstellationen aufeinander. Während der junge Journalist und angehende Schriftsteller Sebastian Berlin verlässt und nach Paris reist, verlässt die junge Schauspielerin Sonja München und zieht nach Berlin. Auch sie treten in die jeweiligen Freundeskreise ein, ohne einander jedoch persönlich zu kennen, bis beide, völlig unabhängig voneinander, eine Reise nach Marokko planen.

Fazit

Klassiker wie dieser sind auf Grund des zeitgeschichtlichen Hintergrundes von zeitloser Aktualität. Gerade jetzt, in Zeiten politischer Veränderungen, stimmt dieser Roman, der in den 1930er Jahren in Deutschland und Frankreich spielt, sehr nachdenklich. Es ist nicht nur die Vielfalt an unterschiedlichen Themen, sondern auch die verschiedenen, realitätsnahen Charaktere, jeder und jede für sich präzise und in ihrem Verhalten nachvollziehbar geschildert, die sich zu einem lebhaften Gesellschaftsbild vereinen und diesen Roman auch heute noch zu einem beeindruckenden Leseerlebnis machen.

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