Die Enkelin – Bernhard Schlink

AutorBernhard Schlink
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 27. Oktober 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257071818

„Ich will keines dieser nicht gelebten Leben. Aber ich kann sie nicht von mir abtun. Meine nicht gelebten Leben sind mein wie mein gelebtes.“ (Zitat Seite 58)

Inhalt

Am 17. Mai 1964 lernen sie einander in Ostberlin kennen, Birgit aus dem Osten und Kaspar aus dem Westen, der für dieses Sommersemester nach Berlin gezogen ist. Sie verlieben sich, Kaspar ist bereit, nach Ostberlin zu ziehen, doch Birgit will in den Westen. Am 16. Januar 1965 landet sie in Tempelhof. Nun, nach fünfzig Jahren Ehe, ist Birgit tot und in ihren Entwürfen für einen Roman über ihr Leben entdeckt Kaspar eine völlig andere Frau, als er gekannt hat. Bei ihrer Flucht hat sie ihre kleine Tochter zurückgelassen, wollte sie suchen, hat es immer wieder hinausgeschoben. Kaspar begibt sich auf diese Reise in die Vergangenheit und findet die vierzehnjährige Sigrun, Birgits Enkelin. Können eine Vierzehnjährige, die in einem Dorf nach der Ideologie einer völkischen Gemeinschaft aufgewachsen ist und der ruhige, introvertierte Buchhändler eine gemeinsame Basis finden, einander kennenzulernen?

Thema und Genre

In diesem Generationenroman, Coming-of-Age-Roman, Beziehungsroman, geht es um drei Frauen aus drei Generationen, prägende Entscheidungen, die das Leben eines Menschen beeinflussen, zeitgeschichtliche und politische Themen wie Ostdeutschland-Westdeutschland, nationalistische, völkische Lebensformen in Deutschland heute. Auch die unterschiedlichen Ideen, beinahe verlassene ländliche Gebiete und Dörfer wieder mit Leben und Zukunftsperspektiven zu füllen, ist ein Thema.

Charaktere

Im Mittelpunkt dieses Romans stehen die Menschen. Birgit, die eine Entscheidung getroffen hat, ihr Leben mit immer präsenten Schuldgefühlen, ihr Schweigen darüber. Kaspar, der ruhige, intellektuelle Buchhändler, dessen ganzes Leben nach dem Tod seiner Frau Birgit durch ihre Aufzeichnungen plötzlich zu einem „Vielleicht“ wird. Auf der anderen Seite Birgits Tochter Svenja und deren Tochter Sigrun, die Kinder und Enkel der ehemaligen DDR-Bürger, ihre Träume, ihre Werte, manchmal ihr Scheitern.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in drei Teilen erzählt. Im ersten Teil wird die Beziehung zwischen Kaspar und Birgit kurz personal mit Kaspar als Mittelpunkt geschildert, daran anschließend wird Birgits Leben ausführlich erzählt, in Ich-Form, da es sich um ihre persönlichen Aufzeichnungen und Unterlagen zu ihrem geplanten Roman handelt. Der zweite Teil ist zugleich der Hauptteil. Kaspar begibt sich auf die Spurensuche, trifft unterschiedliche Personen aus Birgits früherem Leben und schließlich Sigrun, Birgits Enkelin, die auch für ihn zur Enkelin wird. Vorsichtig nähern sich die beiden so unterschiedlichen Personen und Generationen einander an. Der dritte, abschließende Teil spielt zwei Jahre später. Die Sprache erzählt leise und schildert eindrücklich.

Fazit

Ein facettenreicher Roman mit zeitlos aktuellen Themen. Die Konflikte und Suche nach Lösungen und Wendungen der einfühlsam geschilderten Figuren geben der Geschichte Intensität und Spannung und regen zum Nachdenken an.

Die wärmste aller Farben – Grégoire Delacourt

AutorGrégoire Delacourt
Verlag Atlantik Verlag
Erscheinungsdatum 1. November 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ÜbersetzungKatrin Segerer
ISBN-13978-3455011715

„Er lebt in einer Welt, in der wir beide, du und ich, unseren Platz haben. Einer Welt der Bäume und des Winds, der klugen Worte, einer Welt, in der Wut, Gewalt, das Böse nicht existieren.“ (Zitat Pos. 897)

Inhalt

Geoffrey Delatte lebt in seiner eigenen Welt, in die er sich zurückzieht, weil ihm der Lärm und die Einflüsse um ihn herum zu viel werden. Seine Mutter Louise liebt ihn, versucht ihn zu verstehen, seine eigene, präzise Ordnung, sein Weltbild aus Zahlen und aus Farben, seine Liebe zur Natur. Sein Vater Pierre war, als die Welt noch in Ordnung war, Maschinenführer in einer Papierfabrik, dann wurde er arbeitslos, bekam eine Teilstelle als Nachtwächter. Als die Gelbwestenproteste beginnen, ist Pierre Delatte dabei. Sein stiller Sohn Geoffrey ist in der Schule ein gemobbter Außenseiter, bis sich eines Tages in der Pause die zwei Jahre ältere Djamila neben ihn setzt und Geoffreys Leben sich für immer verändert. Ihre Freizeit verbringen sie im Wald des alten Einzelgängers Hagop Haytayan, wo Geoffrey Djamila die Natur erklärt, ein stiller, magischer Ort, doch kann er die drei Außenseiter vor der Realität dieser Tage schützen?

Thema und Genre

Dieser Roman ist vielseitig, es ist ein Familienroman, Gesellschaftsroman, Coming-of-Age-Roman. Themen sind Ausgrenzung, ASS, Migration, Radikalisierung, Sozialkritik aber auch Freundschaft, die stille Schönheit der Natur und die Liebe.

Charaktere

Geoffrey ist dreizehn Jahre alt und lebt seit seiner Geburt in seiner eigenen, genau geordneten Welt.  Man müsste nur zuhören, um ihn zu verstehen, und die zwei Jahre ältere Djamila und der alte Hagop Haytayan hören ihm zu. Der Autor zeichnet seine Figuren mit Empathie, auch die zornigen Gelbwesten, erklärt ihre Hintergründe, zeigt ihnen aber auch neue Möglichkeiten, lässt ihnen eine Wahl in ihren Entscheidungen.

Handlung und Schreibstil

Diese Geschichte ist ein Zeitbild von Frankreich und Paris während der intensiven Phase der zornigen Gelbwesten-Proteste. „Siebzehn Jahre später streifte sich die Verzweiflung neongelbe Warnwesten über. Jetzt bemerkte man sie schon von Weitem.“ (Zitat Pos. 149) Einfühlsam schildert der Autor die Hintergründe, seine Figuren stehen für Schicksale, die keine Einzelschicksale sind. Er erzählt das Leben seiner Hauptprotagonisten chronologisch, parallel, denn die Ereignisse finden gleichzeitig statt. In dieser Welt der Radikalisierung in alle Richtungen und Aufstände finden wir eine zweite, kleine Welt, leise und poetisch durch die Liebe zur Natur und das tiefe Verständnis zwischen drei Menschen, alle eine Form von Außenseitern. Der Autor ist ein wunderbarer Erzähler, dessen Sprache beeindruckt. Jedes Kapitel trägt als Überschrift eine bestimmte Farbe, die auch den Inhalt widerspiegelt.

Fazit

Eine facettenreiche, gesellschaftskritische, aktuelle Geschichte, einfühlsam, eindringlich und poetisch erzählt.

Hexenweib: Ein Zeitreiseroman – Marie von Stein

AutorMarie von Stein
Verlag tredition
Erscheinungsdatum 1. November 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3347406940

„Bis zu dieser unruhigen Zeit, in der die Kunst zu heilen und der Wunsch zu helfen schon mal voller Neid beobachtet wurde. Von denen, die solche Fähigkeiten nicht verstanden.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Auch wenn Anna Callendorp nach einer verleumderischen Anklage auf ihren Adelstitel und weite Ländereien ihres verstorbenen Vaters verzichten musste – der Meierhof ihrer Großeltern ist ihr geblieben und sie baut nun auf den Rat ihrer Zofe und Freundin Juliette erfolgreich Raps an. Doch dann die Hiobsbotschaft: Juliette, die kräuterkundige Heilerin, wurde verhaftet und ist der Hexerei angeklagt. Im Jahr 1670 bedeutet dies den Scheiterhaufen.

Im Jahr 2020, mitten in der Pandemie, hat Inge Süvern, die Großtante von Susanna Kallens Freund Thomas, einen schweren Verkehrsunfall. Doch trotz dieser Sorgen zögert Susanna nicht, als sie plötzlich, wie schon ein Jahr zuvor, einen Wolf sieht. Sie folgt ihm zum Elfenborn, denn sie spürt, ihre Ahnin braucht wieder ihre Hilfe und die Zeit drängt!

Thema und Genre

Auch dieser zweite Roman der Zeitreise-Serie „RegenbogenReigen“ verbindet die Geschichte des Kalletals im 17. Jahrhundert mit Ereignissen in dieser schönen Region im Jahr 2020. Es geht um die historischen Hexenverfolgungen in einer Zeit, die geprägt ist von Aberglaube und Verleumdung. Es geht aber auch um die zeitlos aktuelle Unterdrückung von Frauen, und um Familiengeheimnisse, die ein Leben zerstören können.

Charaktere

Susanna Kallen ist eine moderne junge Frau. Ein magisches Band scheint sie mit ihrer Vorfahrin Anna Callendorp zu verbinden. Beide sind selbstbewusst, etwas eigensinnig und in Notsituationen sehr mutig und erfinderisch.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt in unterschiedlichen Jahrhunderten, wobei die Ereignisse gleichzeitig stattfinden und abwechselnd oder vernetzt erzählt werden. Die einzelnen Kapitel tragen die jeweilige Jahreszahl als Überschrift, doch auch die Sprache ändert sich, passt perfekt zum historischen Hintergrund. Ein dritter Erzählstrang führt in die nähere Vergangenheit und erklärt die Hintergründe einer bestimmten Situation in der Gegenwart. So ergibt sich eine interessante, abwechslungsreiche Geschichte, in der man sich durch die lebhaften Beschreibungen beim Lesen rasch ebenso zu Hause fühlt, wie im Tal der Kalle mit den prächtigen Regenbogen, Wölfen und Wäldern, in denen auch magische Ereignisse möglich scheinen.

Fazit

Ein facettenreicher Roman mit Regionalbezug, der eine magische Landschaft und ihre Geschichte mit zeitlos aktuellen Themen verbindet.

Über uns die Nacht – Anat Talshir

AutorAnat Talshir
Verlag Diana Verlag
Erscheinungsdatum 8. Dezember 2014
FormatKindle-Version
Seitenca. 500
SpracheDeutsch
ÜbersetzungStefanie Fahrner
ASINB00KG67CZ4

„In den vergangenen Monaten hatte ihre unglaubliche Liebesgeschichte auf einem Fundament der Gewissheiten geruht: Sie wussten, dass unter ihnen die Erde und über ihnen der Himmel war – und alles andere in ihrer Hand lag.“ (Zitat Seite 103)

Inhalt

1947 lernen sie sich zufällig auf einem Empfang anlässlich einer Parade zu Ehren von King George VI kennen. Lila Cassuto ist eine junge, unabhängige Frau, arbeitet als Maniküre. Elias Riani ist ein junger, vermögender Teehändler. Doch ihrer Liebe bleibt nicht viel Zeit, denn die Jüdin Lila wohnt im Westteil von Jerusalem, der Araber Elias im Ostteil. Am 29. November 1947 wird die Teilung Palästinas beschlossen, der Staat Israel entsteht. Die Mauer, die bald darauf Jerusalem teilt, wird zu einem unüberbrückbaren Hindernis und trennt Lila und Elias für neunzehn Jahre. Sie vergessen einander nicht, doch ihr Leben entwickelt sich völlig unterschiedlich. Kann es einen Neubeginn geben?

Thema und Genre

In Roman geht es um die Problematik der Staaten Palästina und Israel, die geteilte Stadt Jerusalem, Politik, Kriege, Religion, vor allem aber um Familie und Liebe.

Charaktere

Lila ist eine engagierte, unabhängige Frau. Sie kann Elias nicht vergessen und hofft, ihn eines Tages wiederzusehen. Elias wählt seinen eigenen Weg, resigniert beugt er sich den Wünschen seiner Eltern. Nomi ist die Tochter von Lilas Freundin Margo, doch zu Hause wird das an allem interessierte Mädchen von allen übersehen, sie schließt sich Lila an und lernt später auch Elias kennen.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte findet auf zwei Zeitebenen statt und wird abwechselnd erzählt. Der erste Erzählstrang spielt in der aktuellen Zeit, im Jahr 2006, der zweite Erzählstrang umfasst die Ereignisse in den Jahren 1947 bis 1967. Im Mittelpunkt stehen die Liebe zwischen einem Araber und einer Jüdin, das unterschiedliche Lebensumfeld und das weitere Schicksal. Die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat bleiben Hintergrundthemen, wie auch die damit verbundenen Probleme und Kriege. Ich hatte etwas mehr Zeitgeschichte und weniger romantische Liebe erwartet. Die Sprache ist poetisch, leicht zu lesen und passt zum Genre.

Fazit

Ein romantischer Liebesroman, in dessen Mittelpunkt eine Jüdin und ein Araber stehen und ihre Liebe in Israel, in der durch eine Mauer geteilten Stadt Jerusalem.

Wenn ich wiederkomme – Marco Balzano

AutorMarco Balzano
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 29. Februar 2021
FormatHardcover
Seiten320
SpracheDeutsch
ÜbersetzungPeter Klöss
ISBN-13978-3257071702

„Du verstehst deine Mutter nicht, weil sie dir erlaubt hat, eine andere Frau zu werden.“ (Zitat Seite 276)

Inhalt

Manuel wächst in Rădeni auf, einem rumänischen Dorf nahe der Grenze zu Moldawien. Er ist zwölf Jahre alt, als er eines Morgens erwacht und seine Mutter ist weg. Heimlich hat Daniela die Familie verlassen und ist jetzt auf dem Weg nach Italien, wo sie in Mailand eine Stelle als private Pflegerin angenommen hat. Zurück bleiben Manuel, seine acht Jahre ältere Schwester Angelica und sein arbeitsloser Vater. Angelica muss sich, gemeinsam mit den Großeltern, um die Familie kümmern. Daniela will mit dem Geld, das sie verdient, ihren beiden Kindern eine gute Ausbildung und damit eine bessere Zukunft finanzieren. Besonders Manuel leidet unter dieser Situation, die immer kürzer werdenden Besuche der Mutter, die doch wieder wegfährt. Dann stirbt Opa Mihai, sein einziger Halt. Es gibt Tage, da läuft es für Manuel besser, dieser eine Tag war vom Aufwachen an keiner dieser guten Tage.

Thema und Genre

Dieser Roman handelt von den Migrantinnen, die ihre Familien verlassen, um im Ausland als billige Arbeitskräfte tätig zu sein, meistens als Haushaltshilfen und im privaten Pflegebereich. Es geht um diese Mütter, doch vor allem geht es um das Leben der zurückgelassenen Kinder und Jugendlichen, in ihren Heimatländern „Eurowaisen“ genannt.

Charaktere

Daniela will ihren Kindern eine bessere Zukunft bieten und ist enttäuscht, dass vor allem Manuel ihr Opfer nicht zu schätzen weiß, er fühlt sich von ihr im Stich gelassen, verraten. Manuel würde viel lieber die Landwirtschaftsschule besuchen, als das Gymnasium, das seine Mutter mit ihrer Arbeit in Italien finanziert. Angelica studiert, muss durch den Weggang der Mutter aber die Verantwortung für den Haushalt und den jüngeren Bruder übernehmen, was sie zornig macht und überfordert.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in drei Abschnitten von jeweils einer der Hauptpersonen als Ich-Erzähler, teilweise rückblickend, geschildert. „Außerdem gibt es keine gemeinsamen Erinnerungen, jeder hat seine eigene und macht aus ihr, was er will.“ (Zitat Seite 230) Im ersten Teil beschreibt Manuel diese Jahre, beginnend mit dem Morgen, an dem seine Mutter ohne ein Wort abgereist ist. „Im Leben geht es nur darum, einander nah zu sein, wie bei den Kaninchen im Stall, wenn’s draußen friert.“ (Zitat Seite 30) Das denkt der junge Manuel, wünscht sich die Mutter zurück und ist ihr absolut nicht dankbar. Im zweiten Teil erzählt Daniela, die Mutter, von ihrer Arbeit als Pflegerin und Kindermädchen, von den Menschen, die sie in Mailand betreut hat, von ihrem Alltag und den Lebensumständen während dieser Zeit. Sie ist überzeugt, das Richtige getan zu haben, als sie, zu Hause arbeitslos geworden, ins Ausland arbeiten ging. Dieser zweite Teil verbindet die vergangenen Jahre mit der Gegenwart. Im dritten Teil erzählt die Tochter Angelica die Geschichte in der Gegenwart weiter, es ist zugleich auch ihre Geschichte. In diesem letzten Abschnitt geht es auch um die Frage, ob diese Familie noch einmal zusammenfinden kann. Die Sprache ist leise, klar und einfühlsam.

Fazit

Die Geschichte einer Familie, die plötzlich Tausende von Kilometern voneinander entfernt ist, weil die Mutter das abgelegene rumänische Dorf verlässt, überzeugt, keine andere Wahl zu haben. Dieser Roman beleuchtet vor allem die andere Seite, was macht diese Situation mit der Familie, mit den heranwachsenden Kindern, die in der Heimat zurückbleiben. Die Intention des Autors ist es, auf die Situation aufmerksam zu machen. Diese Geschichte verurteilt nicht, aber sie wirft viele Fragen auf, die zum Nachdenken anregen.

Der Zauberer – Colm Tóibín

AutorColm Tóibín
Verlag Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsdatum 27. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten560
SpracheDeutsch
ÜbersetzungGiovanni Bandini
ISBN-13978-3446270893

„Es gab zwei Männer, zu denen er nicht geworden war, und wenn es ihm gelänge, ihren jeweiligen Geist auf glaubhafte Weise zu beschwören, ließe sich ein Roman aus ihnen machten. (Zitat Seite 426)

Inhalt

Thomas Mann lebt schon als Heranwachsender tiefer in seiner eigenen Traumwelt und in seinen Phantasien, als sein Bruder Heinrich. Doch er zeigt es im Gegensatz zu Heinrich nicht. Nach dem frühen Tod des Vaters wird Heinrich als Ältester finanziell abgesichert und er kann sich dem Schreiben als Beruf widmen. Auch Thomas schreibt seit Jahren eigene Texte und will Schriftsteller werden, die Lehrstelle, die er auf Weisung seiner beiden Vormunde antreten muss, verlässt er bald wieder. Er ist erst einundzwanzig Jahre alt, als er beginnt, einen Roman über den Niedergang einer angesehenen Kaufmannsfamilie zu schreiben: Buddenbrooks. Anfang 1901 wird das Werk veröffentlicht. Das Schreiben wird immer einen wichtigen Stellenwert in seinem Leben einnehmen. Der Zauberer, diesen Namen findet seine Tochter Erika für ihn und das bleibt er auch für seine erwachsenen Kinder: ein Zauberer, oft unerreichbar in seiner Welt der Phantasie, zwischen Realität und Romanfiguren, neuen Ideen, Politik und Alltag.

Thema und Genre

Ein Künstlerroman, in dessen Mittelpunkt das Leben und die Werke des berühmten Schriftstellers Thomas Mann stehen und zugleich ein Roman der eigenwilligen, bekannten Mitglieder der Familie Mann. Sein Bruder Heinrich und vier seiner sechs Kinder sind ebenfalls Schriftsteller.

Charaktere

Thomas Mann, der Zauberer, der Zögerer, er geht oft den vorsichtigen Weg. Seine Tätigkeit als Schriftsteller übt er immer sehr ernst und diszipliniert aus, seine Stoffe formt er aus eigenen Erlebnissen und Gegebenheiten, auch seine Figuren entnimmt er der Realität. Für das Familienleben, für die Kinder ist seine Frau Katia zuständig, die auch dafür sorgt, dass er in seinem Arbeitszimmer die Ruhe hat, die er zum Schreiben braucht. Andererseits kümmert sich Thomas Mann immer um das Wohlergehen der Familie, er sorgt dafür, das die gesamte Familie emigrieren kann und sie alle sind auch im Exil aktiv.

Handlung und Schreibstil

Der Autor schildert das Leben von Thomas Mann in chronologischen Etappen, er stellt ihn in den Mittelpunkt dieses Künstlerromans. Doch dieser Roman ist auch ein Familienroman, ein Generationenroman, denn das Leben dieser berühmten Künstlerfamilie ist kein Einzelbild, sondern die Summe von eigenwilligen und kreativen Künstlern. So zieht sich auch seine Beziehung zu seinem Bruder Heinrich durch den Roman, die unterschiedlichen politischen Ansichten, der künstlerische Wettstreit der beiden Schriftsteller. Jedes der eigenwilligen, kreativen, oft auch schriftstellerisch tätigen Kinder Thomas Manns erhält mit der eigenen Lebensgeschichte einen entsprechenden Anteil an diesem Roman. Thomas Mann hat immer Tagebücher geschrieben, wo er besonders die Ideen und Hintergründe, das Entstehen seiner Romane genau notiert und so fließt vieles davon in die Handlung ein. Einfühlsam nähert sich der Autor dem Künstler, Familienvater und Menschen Thomas Mann, er erzählt, aber er wertet nicht. So entsteht ein auch sprachlich überzeugendes, lebendiges Bild der berühmten Familie.

Fazit

Ein Künstlerroman, der auch ein Familienroman ist. Colm Tóibín ist ein interessanter, packender, aber auch leiser, einfühlsamer Roman über diese prägende, berühmte Familie in einer Zeit der Umstürze und Kriege, zwischen Politik, Exil, Träumen, Hoffnung, Beziehungen, Aufbruch und Schicksal gelungen.

Gesammelte Werke“ von Lydia Sandgren

AutorLydia Sandgren
Verlag mareverlag
Erscheinungsdatum 12. Oktober 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten880
SpracheDeutsch
ÜbersetzungStefan Pluschkat
Karl-Ludwig Wetzig
ISBN-13978-3866486614

„Das Leben führt einen von einer Weggabelung zur nächsten, und an jeder wählt man zwangsläufig eine Richtung. Man kann sich nie nicht entscheiden. Da auch das Nicht-Entscheiden eine Entscheidung ist.“ (Zitat Seite 768)

Inhalt

Cecilia Berg ist vierundzwanzig Jahre alt, als ihre Tochter Rakel zur Welt kommt, einunddreißig bei der Geburt von Sohn Elis. Dreiunddreißig Jahre ist sie alt, als sie im April 1997 ihre Doktorarbeit erfolgreich abschließt. Etwa zwei Wochen später, an einem Samstagmorgen, wecken die Kinder ihren Vater, Martin Berg, und fragen, wo die Mama sei. Auf ihrem leer geräumten Schreibtisch findet er einen Brief, in dem sie ihm mitteilt, dass sie ihre Familie verlassen hat. Inzwischen sind fünfzehn Jahre vergangen, der Göteborger Verlag Berg & Andrén bereitet die Fünfundzwanzigjahrfeier vor, der Verleger Martin Berg selbst wird demnächst fünfzig Jahre alt, trägt weiterhin seinen Ehering, doch Cecilia ist noch immer verschwunden. Eine deutsche Lektorin empfiehlt Martin den Roman „Ein Jahr der Liebe“, er solle ihn sich ansehen und überlegen, ob er die schwedische Übersetzung nicht in seinem Verlag herausbringen wolle. Martin bittet seine Tochter Rakel, die nach ihrer Studienzeit in Berlin sehr gut Deutsch spricht, den Roman zu lesen und ihm ihre Meinung dazu zu sagen. Rakel hat, obwohl sie sich für ein Psychologiestudium entschieden hat, eine große Begabung für Literatur und Sprachen. Zuerst desinteressiert, beginnt Rakel dann doch, das Buch zu lesen und plötzlich verändert sich ihr ganzes Leben.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Literatur, Malerei, Künstlerleben, den Schreibprozess, Schriftsteller, um lebenslange Freundschaften, um Beziehungen, Familie und Liebe.

Charaktere

Martin Berg ist Verleger und der Wunsch, selbst ein Buch zu schreiben, zieht sich in Form von zahlreichen Entwürfen, Texten und Notizen dazu durch sein bisheriges Leben. Rakel studiert Psychologie und ihr Leben ist vom Verschwinden ihrer Mutter geprägt und der Frage nach dem Warum. Gustav Becker ist Martins bester Freund und Vertrauter seit Studienzeiten, Patenonkel von Rakel, doch ihre Lebenswege verlaufen seit Jahren völlig unterschiedlich. Gustav Becker ist ein erfolgreicher Maler und ein Künstler mit einem exzentrischen Lebenswandel.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman umfasst mehrere, abwechselnd erzählte Geschichten: die intensiv gelebte Studienzeit des jungen Martin Berg in der Künstlerszene der 1980er Jahre in Göteborg und Paris, zusammen mit seinen Freunden Gustav Becker und Per Andrén, mit dem er später den Verlag gegründet hat, die Zeit seiner Ehe und seine Versuche als Schriftsteller, sowie seine arbeitsintensive Tätigkeit als Verleger, die brillante, ehrgeizige Cecilia Berg als Studentin, junge Ehefrau und Mutter, der Verleger Martin Berg in der aktuellen Zeit, kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag und dem fünfundzwanzigjährigen Verlagsjubiläum, seine nun erwachsene Tochter Rakel, ihre Kindheitserinnerungen, ihr Leben als Studentin und die aktuellen Ereignisse. Innerhalb der einzelnen Erzählstränge erfolgen die Ereignisse nicht immer chronologisch, ergänzt werden sie durch Erinnerungen. Unvorhersehbare Wendungen, welche manche Ereignisse aus neuen Blickwinkeln zeigen, uns beim Lesen über mögliche Hintergründe nachdenken lassen, ergeben den packenden Spannungsbogen.

Die auch sprachlich überzeugend erzählte Handlung ist in drei übergeordnete Teile gegliedert und insgesamt siebenundvierzig fortlaufende Kapitel. Der zweite Teil ist nochmals unterteilt. Verbunden werden die einzelnen Kapitel durch Auszüge aus dem Interview, einem Gespräch, das Martin Becker aus Anlass des Verlagsjubiläums mit dem Svensk Bokhandel führt.

Fazit

874 Seiten erzählen vom Leben von Martin Berg, von seiner großen Liebe Cecilia, von den gemeinsamen Kindern Rakel und Elis, von seinem besten Freund, dem bekannten Maler Gustav Becker: 874 Seiten, in die man eintaucht, gebannt versinkt, um irgendwann wieder aufzutauchen, erstaunt, wie spät es inzwischen ist und dass keine einzige Minute dieser großartigen, intensiven Lesezeit langweilig war.

So war’s eben – Gabriele Tergit

AutorGabriele Tergit
Verlag Schöffling & Co.
Erscheinungsdatum 24. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten624
NachwortNicole Henneberg
UmschlagbildLesser Ury
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3895614743

„Der Bürger erlebte den Zusammenbruch seiner Ideale, Besitz und Bildung, und fand im Felde seinen Kameraden, den Arbeiter. Das Nationale löste sich aus seiner Verflechtung mit dem Kapitalismus, der Sozialismus entschied sich für die nationale Idee.“ (Zitat Seite 346)

Inhalt

Sie treffen einander zum Damentee, die Frauen der jüdischen Familien, die im Zentrum dieses Generationenromans stehen. Ende der 1890 Jahre sind dies die Gastgeberin Franziska Stern, geborene Kollmann, Roserl, die Frau von Amtsrichter Julius Mayer, Sabine Gutmann, die Schwester des Amtsrichters, Adelina Markus, die Frau des Fabrikanten Manfred Markus. Immer wieder treffen sie einander in diesen Jahren, später sind es ihre Kinder und Enkelkinder. Ihre Schicksale und Beziehungen verbinden sich mit weiteren Familien und Personen, mit der reichen Familie Jacoby und der Bankiersfamilie Beer, aber auch mit der Familie v. Rumke, die zur militärischen deutschen Oberschicht gehört, und mit überzeugten Kommunisten, Künstlern und Journalisten. Am 30. Januar 1933 treffen sie alle nochmals bei einer Wohnungseinweihungsfeier zusammen, dann trennen sich ihre Wege. Mehr als zwanzig Jahre später besucht Grete Jacoby, geborene Mayer, die nun in London lebt, die früheren Freunde und Bekannten in New York, nun ein sehr kleiner Kreis von Menschen, die überlebt haben. „ … und langsam würde dieser Kinderkreis von fünf Menschen aufhören.“ (Zitat Seite 558)

Thema und Genre

Dieser Generationenroman ist ein authentisches Zeitbild der Geschichte Deutschlands zwischen 1890 und den fünfziger Jahren, erzählt durch das Leben und Schicksal der Menschen, die damals gelebt haben.

Charaktere

Es sind die Personen mit ihren Eigenheiten, ihrer Zugehörigkeit, ihrer Erziehung, Tradition, Gefühlen, Träumen und Schicksalen, deren Geschichte erzählt wird, ihr Alltag in diesen für immer die Geschichte prägenden Jahren Deutschlands. Eine der wichtigsten Romanfiguren, Grete Jacoby, ist autobiografisch geprägt.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung ist in fünf Abschnitte eingeteilt, die der Chronologie der geschichtlichen Abläufe entsprechen: Kaiserreich, Krieg, Weimarer Republik, Drittes Reich, Nachkrieg. Die Ereignisse werden nicht erzählt, sondern in langen Gesprächen zwischen den vielen unterschiedlichen Personen der Handlung  geschildert. Ergänzt werden diese politischen, gesellschaftskritischen und tagesaktuellen Dialoge durch ausführliche Beschreibungen des Lebensumfeldes, des alltäglichen Lebens der verschiedenen Gesellschaftsschichten in einer Zeit der Kriege, politischen Umstürze, der Wohnungsnot, der Arbeitslosigkeit, des Hungers, der Verfolgung. Hilfreich ist die Aufstellung aller Personen als entnehmbare Liste in Form eines Lesezeichens, denn es sind insgesamt über siebzig Personen, die einander bei unterschiedlichen Ereignissen treffen bzw. familiär verbunden sind. Die Sprache der auktorialen Erzählform entspricht der Zeit, in der dieser Roman geschrieben wurde. Verlegt wurde nun die ursprüngliche, ungekürzte Fassung, wodurch der Text mit den langen Dialogen und sich wiederholenden Schilderungen der persönlichen Lebens- und Wohnumstände manchmal etwas langatmig wirkt. Andererseits ergibt sich gerade daraus ein lebendiges Bild dieser Zeit, lässt uns nachempfinden, wie es damals eben war.

Fazit

Dieses Buch ist ein umfassendes Zeitbild, geschrieben als Generationenroman, in dessen Mittelpunkt Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stehen und ihr Leben in Deutschland in den Jahren zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

Das Haus auf dem Wasser – Emuna Elon

AutorEmuna Elon
Verlag Aufbau Verlag
Erscheinungsdatum 20. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten360
SpracheDeutsch
ÜbersetzungBarbara Linner
ISBN-13978-3351038410

„Ich selbst hoffe, dass mein Schreiben nicht im Sumpf der Vergangenheit gründet, sondern meine Seele und die Seelen meiner Leser zu dem trägt, was gegenwärtig ist, und was in Zukunft sein wird.“ (Zitat Pos. 122)

Inhalt

Joel Blum, ein preisgekrönter, international erfolgreicher israelischer Schriftsteller, reist mit seiner Frau Bat-Ami nach Amsterdam. Sein holländischer Verleger hat ihn eingeladen und seine Frau überzeugt ihn von der Wichtigkeit dieser Reise, obwohl Joel damit den letzten Willen seiner verstorbenen Mutter missachtet. Diese hatte ihn eindringlich gebeten, nie nach Amsterdam zurückzukehren. Bei dem Empfang, den der Amsterdamer Verlag ihm zu Ehren gibt, fragt plötzlich ein Journalist, ob es wahr sei, dass Joel Blum hier in Amsterdam geboren sei. Damit deckt er ein Geheimnis auf. Denn Joel Blum ist tatsächlich der Sohn einer alteingesessenen Amsterdamer Familie, die im zweiten Weltkrieg nach Israel ausgewandert ist. Damals war Joel ein Baby. Er selbst hat keine Erinnerungen an diese Zeit und seine Mutter hatte auf alle Fragen geschwiegen. Jetzt fliegt er, eine Woche nach diesem Vorfall, wieder nach Amsterdam, diesmal allein. Denn im Jüdischen Museum hatte er einen Film gesehen, eine kurze Sequenz, wenige Minuten, die alles verändert haben. Er begibt sich auf die Suche nach seiner eigenen Vergangenheit und arbeitet gleichzeitig an einem neuen Roman, der dies zum Thema hat.

Thema und Genre

In diesem Roman, der in Amsterdam und Tel Aviv spielt, geht es um die Zeit der Besatzung und Judenverfolgung in Holland, um Familiengeheimnisse und um die Suche nach der eigenen Identität. Gleichzeitig ist auch das Schreiben, die Entstehung einer Geschichte und ihrer Figuren ein Thema.

Charaktere

Joel Blum ist ein bekannter Schriftsteller, ein genauer Beobachter mit vielen offenen Fragen, auf die er nun Antworten sucht. „Doch etwas in ihm sagt ihm, sollte ihm das alles gelingen, würde dieses Buch der Roman seines Lebens werden – nur um diesen Roman zu schreiben, sei er überhaupt ein Schriftsteller geworden.“ (Zitat Pos. 227)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte ist in vier übergeordnete Kapitel gegliedert, jedes davon ein Notizheft, denn Joel Blum pflegt seine Eindrücke immer in Notizheften festzuhalten, wenn er an einem neuen Romanstoff arbeitet. Seine Tage in Amsterdam füllen sich mit Recherchen, dazwischen schildert er das Leben von Sonia, seiner Mutter, und ihrer Familie in diesen Tagen, an denen immer mehr Juden verhaftet und abtransportiert werden. Immer wieder füllen sich die Straßen, Plätze und Häuser, die er in der Gegenwart aufsucht, für ihn mit den Menschen aus seiner Vergangenheit und auch seine Notizhefte füllen sich. Diese Art des Erzählens macht diese besondere, eindrückliche Geschichte spannend. Ergänzt wird die Handlung durch lebhafte Schilderungen Amsterdams damals und heute, in einer wunderbar zu lesenden Sprache

Fazit

Eine überzeugend erzählte, einfühlsame, packende Geschichte über Familiengeheimnisse und die Suche nach der eigenen Identität als Resultat von Vergangenheit und Gegenwart.

Blaue Frau – Antje Rávik Strubel

AutorAntje Rávik Strubel
Verlag S. FISCHER
Erscheinungsdatum 11. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten432
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3103971019

„Ich frage die blaue Frau, ob es sich nicht umgekehrt verhalte. Ob nicht das Erzählen vor dem Leben geschützt werden müsse, vor dem Gewöhnlichen, dem Vergessen, dem Vergehen der Zeit.“ (Zitat Pos. 1650)

Inhalt

Adina, geboren 1984 wächst in einem Dorf im tschechischen Riesengebirge auf, in einem im Winter von Touristen besuchten Schigebiet. Am 18. September 2006, sie ist einundzwanzig Jahre alt, fährt sie nach Berlin. Sie besucht Deutschkurse, denn sie will Geowissenschaften studieren. Durch die Fotografin Rickie erhält Adina eine Praktikumsstelle auf einem Landgut in der Uckermark. Razlav Stein hat das verfallene Anwesen gekauft und will ein Kulturzentrum errichten. Den Namen Adina kann er sich nicht merken, er nennt sie Nina. Es ist ein Abend mit wichtigen Investoren, der ihr Leben völlig verändert. Sie flieht nach Helsinki, wo sie den estnischen Professor Leonides Siilmann, der sie liebevoll Sala nennt, kennenlernt. Eines Abends nimmt dieser sie auf einen Empfang mit, wo ihre Vergangenheit sie einholt. Wer ist diese junge Frau mit den drei Namen, die sich selbst jedoch „Mohikaner“ nennt und wer ist die blaue Frau, die ihre Geschichte begleitet und die Ilse Aichinger zitiert?

Thema und Genre

In diesem komplexen Roman geht es um die auch nach dreißig Jahren noch bestehenden mentalen und wirtschaftlichen Grenzen zwischen Ost und West, wobei Finnland das Bindeglied ist. Themen sind Gewalt an Frauen, Traumata, das Wegsehen der Gesellschaft, Ausbeutung, und die Lebensumstände der aus Osteuropa stammenden Menschen im Westen.

Charaktere

Die Autorin formt ihre Figuren, sie geht hart und realistisch mit ihnen um. Es geht ihr die tatsächlichen Umstände, Entscheidungen, Handlungen, Befindlichkeiten, die sie genau beobachtet und präzise beschreibt. Adina ist Opfer, weil es die Geschichte einer Frau ist, die durch ein einschneidendes Erlebnis zum Opfer wurde, die Autorin lässt ihrer Hauptfigur keine Wahl für mögliche andere Entscheidungen. Adinas Stärke zeigt sich, wenn der Mohikaner auftaucht, der in ihrer Jugend irgendwann plötzlich da war, eine Art Alter-Ego und ihr vierter Name.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt in Helsinki, wir folgen Adina als Mittelpunkt der personalen Erzählform, sehen durch ihre Augen die Umgebung, die Gegenstände ihrer Wohnung, aber auch Helsinki und die weiteren Orte der Handlung, immer wieder die genauen Beobachtungen der Natur, der Bäume, präzisiert durch Licht und Schatten. Sie erinnert sich an die Zeit mit Leonides, den sie gerade verlassen hat. Der zweite Teil geht in der Zeit zurück und schildert Adinas Ankunft und Neubeginn in Berlin. Es folgt der dritte Teil mit den Ereignissen in dem Landhaus an der Oder, der vierte Teil beschreibt ihren Weg aus der Uckermark bis nach Helsinki und verbindet sich hier mit der Gegenwart. Ergänzt wird die Geschichte durch Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend. In einem eigenen Erzählstrang taucht immer wieder die blaue Frau auf, sie trägt einen hellen Mantel und ein blaues Tuch. „Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten.“ (Zitat Pos. 146). Die Momente dieser Begegnungen werden von einer Ich-Erzählerin geschildert. Die Autorin überlässt es uns Lesenden, diese Figur zu interpretieren, für mich ist es die Idee zu diesem Roman, zur Figur der Adina und zum gesamten Schreibprozess.

Fazit

Ein vielschichtiger, packender Roman mit brisanten aktuellen Themen, mit spannenden Varianten der Erzählperspektiven, mit trotz kleiner Längen sprachlich beeindruckenden Schilderungen, der nachdenklich stimmt und einige wichtige Aspekte der eigenen Interpretation der Lesenden überlässt.

Die nicht sterben – Dana Grigorcea

AutorDana Grigorcea
Verlag Penguin Verlag
Erscheinungsdatum 1. März 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3328601531

„Nun aber will mir scheinen, dass gerade das Gegenteil stimmt, dass also jegliche Reihenfolge einen Sinn ergibt, da es nicht um Ursache und Wirkung geht, sondern nur um eines: Schicksal.“ (Zitat Seite 59)

Inhalt

Eine junge Künstlerin aus Bukarest kehrt nach Abschluss ihres Masterstudiums in Paris in ihre Heimat zurück. Sie besucht ihre Großtante Margot, die sie Mamargot nennt, in der Kleinstadt B., wo sie mit ihrer Familie alle Sommerferien ihrer Kindheit verbracht hatte. Damals war die Villa nur gemietet, nach 1989 wurde das Anwesen an ihre Großtante zurückgegeben. Hier erhofft sich die junge Malerin mehr Inspirationen für ihre Bilder, als an allen anderen Orten der Welt. Doch B. hat sich in den Jahren ihrer Abwesenheit verändert, viele Menschen sind weggezogen, die Häuser dem Verfall überlassen. Als in der Gruft ihrer Familie das Grab von  Vlad Țepeș, besser bekannt als Dracula, entdeckt wird, kehrt die Vergangenheit zurück. Die junge Künstlerin beschließt, die Geschichte des nach Gerechtigkeit und absoluter Ehrlichkeit strebenden, aber auch sehr grausamen Fürsten zu erzählen. Doch plötzlich bekommt der alte rumänische Ausspruch in Bezug auf die Korruption und gesellschaftlichen Zustände im Land „Wo bist du, Țepeș Herr?“ eine völlig neue Dimension.

Thema und Genre

Dieser Roman mit Elementen der klassischen Schauerliteratur ist eine sehr moderne, gleichzeitig aber archaische, atmosphärisch dichte Version einer Vampirgeschichte, verbunden mit der Geschichte Rumäniens und der Menschen in ihren teilweise verlassenen Dörfern.  

Charaktere

Die einzelnen Figuren sind sehr genau beobachtet, die Eigenschaften wurden bewusst gewählt. Die Künstlerin, Ich-Erzählerin, kehrt voll Schwung und Vorfreude zurück nach B., fühlt in sich schon die Bilder, die sie malen wird, zu denen sie der B. der Ort ihrer Kindheit, inspiriert. Doch es sind völlig andere Eindrücke, die sie prägen und verändern.

Handlung und Schreibstil

Die junge Malerin schildert die Geschichte als Ich-Erzählerin. Wir erfahren Details über das Leben einer gut situierten Bukarester Familie während der sorglosen Zeit der Sommerfrische in B. im Kreis vieler Freunde. Gleichzeitig schildert sie die aktuellen Ereignisse, unterbrochen durch die Geschichte des berühmten Fürsten Vlad Țepeș, sein Leben, seine politischen und menschlichen Motive in Fakten und Fiktion, verbunden mit den vielen Legenden um Dracula und Vampire. Die facettenreiche Sprache beschreibt einfühlsam und bildhaft die Figuren und die Schönheit der Landschaft, schildert die Geschichte des berühmten Woiwoden packend, realistisch und die Erlebnisse der Ich-Erzählerin intensiv, dicht, beklemmend, mystisch und sehr spannend.

Fazit

Eine großartig zu lesende Mischung aus moderner, zeit- und gesellschaftskritischer  Interpretation der bekannten Legenden und Geschichte von Vlad III. Drăculea und einem klassischen Schauerroman aus der Blütezeit der Schauerliteratur zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Der Schattenkönig – Maaza Mengiste

AutorMaaza Mengiste
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum 17. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten576
ÜbersetzerinBrigitte Jakobeit
ÜbersetzerinPatricia Klobusiczky
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423282925

„Er ist ein stiller Mann, der einst eine Nation gegen ein stählernes Ungeheuer anführte, und sie war seine treueste Soldatin: die starke Wächterin des Schattenkönigs. Erzähle es ihnen, Hirut. Jetzt oder nie.“ (Zitat Pos. 85)

Inhalt

Geley und Fasil, die Eltern der jungen Hirut, sind tot. Kidane, ein hoher Offizier des Kaisers Haile Selassie hat ihren Eltern versprochen, sich um ihre Tochter zu kümmern. Er nimmt Hirut als Dienstbotin für seine Frau Aster in sein Haus auf. Mussolinis Truppen sind unterwegs nach Äthiopien, um das Land zu kolonialisieren. Anfang Oktober 1935 rücken die Italiener mit einhunderttausend Mann und stark bewaffnet an. Der Kaiser flieht mit seiner Familie nach England, doch er befiehlt Kidane, trotz des übermächtigen Gegners weiterzukämpfen. Da schreitet Aster ein und ruft alle Frauen auf, ihre Männer als Soldatinnen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln im Kampf zu unterstützen. Auch die Köchin und Hirut erhalten wichtige Aufgaben bei der Versorgung der kämpfenden Männer und der Verwundeten. Als Hirut den Musiker Minim sieht, hat sie eine Idee, doch der Gegner ist einer der grausamsten, brutalsten Offiziere Italiens.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um den Abessinienkrieg Mussolinis von 1935 bis 1941, Rassismus, Völkermord, chemische Massenvernichtungswaffen. Vor allem jedoch geht es um die Solidarität mutiger Frauen aus allen Bevölkerungsschichten, die bereit waren, die Männer als Soldatinnen zu unterstützen. Wichtige Themen sind die Unterdrückung der Frauen durch die Männer, ihre Rechtlosigkeit, aber auch die Frage nach der Mitschuld am Beispiel eines Kriegsfotografen.

Charaktere

Aster, die als junges Mädchen zur Ehe mit dem älteren Kidane gezwungen worden war, ist herrisch und launenhaft, durch den frühen Tod ihres kleinen Sohnes aus der Bahn geworfen. Doch dieser Krieg verändert sie, sie wird zur Soldatin und ruft alle Frauen zum Widerstand gegen die übermächtigen Feinde auf, zeigt ihnen, wie man kämpft, selbst Patronen herstellt. Hirut ist eine Dienstmagd, der Herrschaft ausgeliefert. Doch mutig kämpft auch sie für die Freiheit Abessiniens. „Foto“ Ettore Navarro dokumentiert als Fotograf der italienischen Truppen alle Ereignisse, er sieht nicht die Menschen, sondern die künstlerische Ausdruckskraft seiner Fotografien.

Handlung und Schreibstil

Eingebettet in einen Prolog und Epilog 1974 werden die Ereignisse der Jahre 1935 bis 1941 chronologisch erzählt, ergänzt durch klassische Kommentarstimmen eines Chors im Hintergrund. Sprachlich ist die Geschichte eine Mischung aus Legenden, wie man sie den Nachkommen erzählt, und einem Heldinnenepos. Die Sprache bewegt sich zwischen blumig ausgeschmückt und kantig, knapp in den Schilderungen der brutalen  Szenen, obwohl immer eine tiefe Empathie mitschwingt. Wem es möglich ist, sollte diesen Roman „The Shadow King“ in der englischen Originalsprache lesen. Es liegt nicht an der Übersetzung, aber die englische Sprache kann mit wenigen Worten unendlich viel aussagen und erklären, wo die deutsche Sprache mehrere Sätze braucht und das liest sich dann manchmal holprig. Dies umso mehr, da die Autorin für ihre Geschichte ungewohnte Erzählformen wählt.

Fazit

Eine extrem intensive Geschichte über den brutalen Angriff auf Abessinien durch das faschistische Italien, den mutigen Widerstand der generell unterdrückten Frauen, die hier nicht mehr Opfer sind, sondern zu Soldatinnen werden.

Der perfekte Kreis – Benjamin Myers

AutorBenjamin Myers
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 17. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ÜbersetzungUlrike Wasel
ÜbersetzungKlaus Timmermann
ISBN-13978-3832181581

„In diesen Momenten zerbröckelt die Moderne, und eine Art Zeitreise findet statt. Und heute Nacht, wie in allen vorangegangenen Nachten und jenen, die noch folgen werden, versetzt diese Reise die beiden Männer in die Lage, in nur wenigen schweißtreibenden Stunden etwas zu vollenden, das verblüffen, betören, provozieren und verwundern wird.“ (Zitat Pos. 667)

Inhalt

Seit etwa zehn Jahren kennen Redbone, Anarcho-Punk-Musiker, und der Falkland-Kriegsveteran Calvert einander und sind Freunde. Beide leben im Heute, doch beide sind immer noch dabei, die Erfahrungen ihrer Vergangenheit zu verarbeiten, auch wenn diese aus völlig unterschiedlichen Ereignissen entstanden sind. Es ist ihr dritter Sommer, in dem sie in langen Nächten diese besonderen, mythischen Gebilde schaffen, die Kornkreise, angetrieben durch Verrücktheit, Angst, Spaß, die Wertschätzung der Natur, die Suche nach uneingeschränkter Freiheit und dem Wunsch, den Menschen etwas Besonderes zu zeigen. In diesem Jahr 1989 arbeiten sie auf den Höhepunkt ihres Schaffens hin, ihr Opus Magnum, die Honigwabe-Doppelhelix, ein kompliziertes Muster von perfekter Schönheit, geplant für das Ende des Sommers.

Thema und Genre

Dieser poetische Roman spielt 1989 im ländlichen Südengland. Es geht es um die Achtung vor der Natur, Träume, den Umgang mit der eigenen Vergangenheit, Freundschaft und natürlich um die heimliche Schaffung von Kornkreisen.

Charaktere

„Nähre den Mythos und strebe nach Schönheit“ ist Redbones Lebensziel. Er tüftelt das Design der Kornkreise aus, ist fantasievoll, visionär, kreativ. Calvert ist ein sehr ruhiger Mensch, pragmatisch, diszipliniert, hat langjährige Kampferfahrung aus Auslandseinsätzen. Die wichtigsten Kriterien ihrer nächtlichen Tätigkeit sind für beide absolute Verschwiegenheit unter allen Umständen und die perfekte Schönheit der Kreise.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt im Sommer 1989 und wird chronologisch geschildert. Die Erzählform ist personal und Redbone und Calvert stehen im Mittelpunkt. In diesem Sommer entstehen zehn Kornkreise und jedes Kapitel trägt als Überschrift den Namen des jeweiligen Kornkreises, der in diesem Kapitel entsteht. Doch auch wenn sie versteckt arbeiten und darauf achten, auf keinen Fall entdeckt zu werden, sind sie nicht allein in der Nacht. Sie begegnen sonst kaum sichtbaren Tieren und beobachten nächtliche Partys, Zusammenkünfte, esoterische Gruppen, unterschiedliche Menschen auf ihren nächtlichen Wegen und Abenteuern.

Großartige Schilderungen der Natur und interessante Beschreibungen der einzelnen Kornkreis-Strukturen ergänzen die spannende Frage, ob ihnen dieser eine ganz besondere Kornkreis gelingen wird.

Fazit

Eine poetische, packend und einfühlsam erzählte Geschichte, ein überzeugendes Leseerlebnis.

Drei Kameradinnen – Shida Bazyar

AutorShida Bazyar
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 15. April 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462052763

„Ihr werdet alles, was ich sage, ein wenig anzweifeln und euch vergewissern, dass ihr es besser wisst. Ihr habt vielleicht recht, genauso wie ich. Ich habe recht, und ich habe beim Schreiben manchmal gelogen, okay, aber ich habe trotzdem recht, denn lügen und recht haben, das schließt sich nicht aus, auch bei mir nicht.“ (Zitat Pos. 4193)

Inhalt

Kasih kennt Hani und Saya schon seit ihrer Kindheit und Jugend in einer hauptsächlich von Menschen mit Migrationshintergrund bewohnten Problemsiedlung am Stadtrand. Inzwischen haben sie studiert, Saya ist beruflich viel auf Reisen, doch ihre Freundschaft ist beständig. Nun treffen sie einander nach sechs Jahren wieder, Saya kommt für einige Tage zu Kasih auf Besuch, da eine gemeinsame Freundin heiratet. Dann kommt diese besondere Nacht, in der Kasih alles niederschreibt, wie es ist, als Deutsche mit den täglichen Diskriminierungen und Vorurteilen zu leben, die sich allein durch das Aussehen ergeben. Es sind Erinnerungen und aktuelle Ereignisse in einer Zeit, in welcher Ausländerhass und Rassismus stärker werden, statt zu verschwinden.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Kraft der Freundschaft, den Alltag von Frauen und Familien mit Migrationshintergrund, um Alltagsrassismus, Rechtsruck in der Politik, Vorurteile und Missverständnisse.

Charaktere

Kasih ist studierte Soziologin, arbeitslos, kritisch und dennoch der Ruhepol zwischen der pragmatischen Hani und der zornigen, aufbrausenden Saya, deren innere Wut und Solidarität dazu führen, dass sie keine Konfrontation auslässt. „Damit war die Diskussion beendet und erst Jahre später, wirklich viele Jahre später, sagen wir, in diesem Jahr, war Saya aufgefallen, dass sie in solchen Diskussionen nie eine Chance gehabt hatte, denn alle, auch sie selbst, sahen ihre Rolle lediglich darin, provozierende Dinge in die Runde zu werfen und allen inbrünstig zu widersprechen, aber ihre Rolle sah nicht vor, recht zu haben.“ (Zitat Pos. 702)

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman besticht neben Inhalt und Handlung durch seine moderne Erzählform, in Verbindung mit einer modernen, aber gleichzeitig eindrücklichen Sprache. Wir Lesende sind „Ihr“, viele von uns sicher die „Weißen“, während die drei Frauen Kasih, Hani und Saya „wir“ sind. Es sind Episoden, Ereignisse, kurze Szenen, die hauptsächlich Kasih als Ich-Erzählerin schildert, Erinnerungen an die Kindheit und Jugend, an ihre Beziehungen als Erwachsene. Eingebettet sind diese Rückblicke, in die ebenfalls knapp und rasch aufeinanderfolgend skizzierten aktuellen Ereignisse innerhalb von wenigen Tagen. Wenn es sich um Situationen handelt, in denen Kasih nicht anwesend ist, wechselt die Autorin in eine personale Erzählperspektive. Diese Vielfalt, die raschen Gedankensprünge, die geballte, zornige Kraft der Aussagen und Inhalte der Ich-Erzählerin machen diesen Roman packend, intensiv, und gleichzeitig regt jede Seite zu neuem Nachdenken an, zu Änderungen der eigenen Erfahrungen und Sichtweisen. Auch ich musste ein persönliches Vorurteil revidieren, denn ich hätte dieses Buch längst lesen können, aber die für mich negative Wortwahl des Titels schreckte mich ab, bis ich durch die Longlist-Broschüre eine längere Leseprobe lesen konnte, zusammen mit mehr Informationen.

Fazit

Eine intensive Geschichte über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, bewusst, oder im Alltag unbewusst, über gegenseitige Vorurteile und Missverständnisse, die einen normalen, unverkrampften Umgang miteinander verhindern. Es geht um eine einfach Frage: Jobsuche, Wohnungsnot, Beziehungen – es sind Probleme, die wir alle kennen, egal, ob unsere Haut etwas heller oder dunkler ist. Warum aber macht das immer noch einen Unterschied?

Madame Exupéry und die Sterne des Himmels

AutorSophie Villard
Verlag Penguin Verlag
Erscheinungsdatum 13. September 2021
FormatBroschiert
Seiten480
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3328106869

„Als Consuelo, nur Consuelo, die Malerin, die Köchin, die Liebhaberin schöner Künste, die sinnliche Grenzgängerin zwischen den Welten, der alten und der neuen, hatte sie hier niemand wahrgenommen.“ (Zitat Seite 292)

Inhalt

Im September 1930 kehrt die Künstlerin Consuelo Suncin Sandoval de Gómez als junge Witwe in ihre Heimat zurück. Mehr als zehn Jahre hatte sie in Europa gelebt und besonders Paris vermisst sie schon jetzt. Bei einem Empfang in Buenos Aires lernt sie Antoine de Saint-Exupéry kennen, den Flugzeugpiloten und Schriftsteller. Am 22. April 1831 heiraten sie. Eine Verbindung wie eine Naturgewalt, denn trotz der Liebe ist diese Ehe nicht einfach. Consuelo arbeitet einerseits weiter an ihrer eigenen Karriere als Künstlerin, hat einen Freundes- und Bekanntenkreis in den finanziell gehobenen Pariser Gesellschafts- und Künstlerkreisen. Andererseits umsorgt sie Antoine, repräsentiert an seiner Seite als Ehefrau, richtet jede ihrer Wohnungen rasch zu einem behaglichen Heim für ihn ein in der Hoffnung, aus seiner Rast- und Ruhelosigkeit eine neue, glückliche Sesshaftigkeit zu machen. Sie unterstützt seine schriftstellerische Tätigkeit, dennoch nimmt er immer wieder Aufträge als Flugzeugpilot an, die ihn von ihr fort, in fremde Länder und Abenteuer führen. So auch zu diesem Einsatz für seine bedrohte Heimat Frankreich am 31. Juli 1944.

Thema und Genre

Der vorliegende Roman mit biografischem Hintergrund schildert das Leben an der Seite des exzentrischen und erfolgreichen Piloten und Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry aus der Sicht seiner Ehefrau Consuelo, Madame de Saint-Exupéry und basiert auf ihren persönlichen Erinnerungen „Mémoires de la rose“.

Charaktere

Die Ehe zwischen der temperamentvollen Künstlerin aus Mittelamerika und dem exzentrischen französischen Adeligen, dem freiheitsliebenden Piloten und Schriftsteller, verläuft turbulent. Sie umsorgt ihn, unterstützt ihn als Schriftsteller, doch immer wieder wird ihm diese Fürsorge zu eng, er übernimmt Einsätze als Pilot, sie trennen sich, kommen wieder zusammen. Consuelo ist mit den vielen Facetten ihres Charakters nach Meinung der Literaturexperten das Vorbild für viele Hauptfiguren des „Kleinen Prinzen“, nicht nur für die Rose.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt im gemieteten Sommerhaus „The Bevin House“ auf Long Island im Juli 1942. Die Autorin wählt die personale Erzählform, in deren Mittelpunkt Consuelo steht, welche diese gemeinsamen Tage und die Fertigstellung der Letztfassung und Illustrationen der märchenhaften Erzählung  „Der Kleine Prinz“ schildert. Diese aktuellen Tage sind gefüllt  mit Rückblicken und Erinnerungen an die turbulente, intensive Beziehung zwischen Consuelo und Antoine seit dem Tag ihres Kennenlernens. Kurze Textpassagen aus dem Kleinen Prinzen sind manchen Kapiteln vorangestellt, zu denen sie einen gedanklichen Bezug ergeben. Die Sprache schildert lebhaft und ist unterhaltsam zu lesen.

Fazit

Ein interessanter, angenehm zu lesender Roman mit biografischem, realem Hintergrund, in dessen Mittelpunkt Consuelo de Saint-Exupéry steht, die Ehefrau und Muse des Piloten und Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry.

Besichtigung eines Unglücks – Gert Loschütz

AutorGert Loschütz
Verlag Schöffling
Erscheinungsdatum 20. Juli 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3895611575

„Es ist die Liste, die am nächsten Tag in der Genthiner Zeitung abgedruckt wurde, die erste einer ganzen Reihe von Listen, die bereits den Namen enthielt, der mich lange beschäftigen würde, weil es der einzige ausländische war. Buonomo Giuseppe aus Neapel.“ (Zitat Pos. 600)

Inhalt

An diesem 22. Dezember 1939, um 0 Uhr 53, sind die Wetterverhältnisse extrem schlecht und knapp vor dem Bahnhof Genthin prallen zwei Züge aufeinander. Vier entscheidende Sekunden führen zu einem Trümmerfeld mit hunderten Toten und Verletzten und dennoch ist dieses schwere Zugunglück durch die deutsche Geschichte der darauffolgenden Jahre in Vergessenheit geraten. Der Journalist Thomas Vandersee hat seine Kindheit in Genthin verbracht. Als er von einem alten Herrn, der Lisa, die Mutter von Thomas, aus Schultagen vom Sehen kannte, einen Zeitungsartikel über dieses Zugunglück erhält, ist er zunächst nicht interessiert. Doch eine Bemerkung über eine der beiden Unglückslokomotiven, die unter einer geänderten Nummer wieder in Betrieb genommen wurde, ändert alles. Er beginnt zu recherchieren, doch während er versucht, anhand der Akten den Unglückshergang zu rekonstruieren, tauchen eine Reihe weiterer Fragen auf. Carla Finck war in diesem Zug, warum steht ihr Name auf keiner Opferliste? Immer tiefer taucht er in Einzelschicksale ein und gleichzeitig auch in die Vergangenheit der eigenen Familie, in die Geschichte seiner Mutter.

Thema und Genre

Was als Recherche zu einem tragischen Eisenbahnunglück beginnt, erweitert sich in diesem Roman rasch zu den Geschichten von irgendwie mit diesem Zugunglück in Verbindung stehenden Menschen mit ihren Beziehungen, Träumen, Geheimnissen. Es geht um Entscheidungen, Zufälle und den Faktor Zeit, denn es sind immer wenige Sekunden, die alles verändern.

Charaktere

Der Autor nimmt sich Zeit für seine Figuren, er schildert ihr Verhalten und Entscheidungen im Kontext mit der damaligen Zeit. Thomas Vandersee erkennt, dass es die Familiengeheimnisse seiner Kindheit und Jugend sind, die ihn prägen.

Handlung und Schreibstil

Der Roman umfasst fünf große Teile und Thomas Vandersee als Ich-Erzähler ergänzt die Geschichte noch mit seinen persönlichen Erinnerungen. Der erste Teil führt uns in die Gegenwart, in das Leben und den Alltag des Journalisten Thomas Vandersee als Ich-Erzähler, unterbrochen von minutiösen Schilderungen möglicher Hergänge des Zugunglücks, wie auch die Akten unterschiedliche Versionen zur Klärung der Schuldfrage darstellen. Im zweiten Teil geht es um das Leben von Carla Finck, im personalen Mittelpunkt des dritten Teils steht Lisa, die Mutter von Thomas, der vierte Teil trägt den Titel „Aus den Notizheften“, denn Thomas macht sich zu allen Alltagsereignissen Gedanken und füllt damit Notizhefte, die er alle aufbewahrt, weil sie seine Vergangenheit dokumentieren. Der letzte, fünfte Teil bringt nochmals ergänzende Details zu Carlas Leben, einige Fragen werden gelöst, andere bleiben offen und überlassen es uns, darüber nachzudenken. Die poetische, klare Sprache schildert und beschreibt eindrücklich.

Fazit

Dieser facettenreiche Roman ist nicht nur die Besichtigung eines Unglücks, sondern vielmehr eine vielschichtige, intensive Besichtigung von Lebenswegen und folgenreichen Entscheidungen, von Sekunden, die das Leben eines Menschen verändern können.

Der versperrte Weg: Roman des Bruders – Georges-Arthur Goldschmidt

AutorGeorges-Arthur Goldschmidt
Verlag Wallstein
Erscheinungsdatum 28. Juni 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten111
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3835350618

„Es ist ein sonderbares Gefühl, so nahe aneinander gelebt zu haben und so wenig vom älteren Bruder zu wissen.“ (Zitat Pos. 166)

Inhalt

Erich Goldschmidt ist fast fünf Jahre alt ist, als am 2. Mai 1928 sein Bruder Jürgen-Arthur geboren wird und dieses schreiende Baby ist für Erich ein Eindringling. Dennoch fühlt er sich später für seinen Bruder verantwortlich. Besonders ab diesem 18. Mai 1938, an dem die Eltern sie beide zu Verwandten nach Italien schicken, um sie in Sicherheit zu bringen, denn plötzlich sind sie keine Deutschen mehr, sondern Juden. Da ist Erich vierzehn Jahre alt, Jürgen-Arthur zehn. Bald ist auch Italien nicht mehr sicher und am 17. März 1939 werden sie nach Frankreich geschickt, wo sie die nächsten Jahre im Internat einer Privatschule verbringen. Nach dem Abitur ist Erich für die Résistance tätig, um seine neue Heimat Frankreich im Kampf gegen die Nationalsozialisten zu unterstützen. Dennoch wird Erich immer das Gefühl haben, irgendwo zwischen Deutschland und Frankreich zu stehen, in Deutschland verfolgt, weil er Jude ist, in Frankreich nach Kriegsende verfolgt, weil er Deutscher ist.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses autobiografischen Romans steht diesmal der ältere Bruder des Autors. Es geht darum, wie sehr die Verfolgung, Lebensgefahr und Flucht aus Deutschland das Leben eines jungen Menschen, im konkreten Fall das Leben von Erich, nachhaltig prägen.

Charaktere

Erich ist Deutscher, protestantisch erzogen und als er plötzlich aus dem Freundeskreis des Gymnasiums ausgeschlossen wird, weil er Jude ist, bricht für ihn die Welt zusammen, er versteht das nicht. Dieser Verlust der Heimat prägt sein ganzes Leben, obwohl er sich rasch in Frankreich zu Hause fühlt, bleibt eine innere Zerrissenheit.

Handlung und Schreibstil

Der Autor erzählt die Geschichte seines Bruders chronologisch, wobei Kindheit und Jugend im Mittelpunkt stehen, vor allem die Ereignisse ab dem Jahr 1938. Immer wieder müssen sie fliehen, entkommen nur knapp, werden versteckt und im Jahr 1943 trennen sich ihre Wege. Während Jürgen-Arthur bei Bauern untertaucht, beginnt Erich, für die Résistance tätig zu sein. 1947 treffen sich die Brüder kurz, aber die hier erzählte Geschichte erfährt der Autor von seinem Bruder erst, als sie sich Ende der siebziger Jahre in Deutschland wiedersehen. In leiser, eindringlicher Sprache schildert der Autor das Leben eines Menschen, der von seiner persönlichen Vergangenheit geprägt ist und sich selbst damit den eigenen Lebensweg zu versperren scheint.

Fazit

„Warum bin ich gerade der, der ich bin?“ (Zitat Pos. 812). Diese autobiografische Geschichte erzählt von einer Generation, die in Deutschland aufwuchs, um über Nacht plötzlich als Jude verfolgt, bedroht zu werden und gerade noch durch Flucht aus dem Land entkommt, das für sie bisher Heimat war.

Sternflüstern: Die Geschichte eines Neuanfangs – Paula Carlin

AutorPaula Carlin
Verlag Diederichs
Erscheinungsdatum 30. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3424351163

„Sternflüstern! In diesem Moment vernahm ich es wieder. Dieses Knistern voller Wunder und Versprechen und Möglichkeiten, das sich für einen Augenblick auf alles um mich herum und in die neuen Tage legte.“ (Zitat Seite 132)

Inhalt

Es ist ein altes, baufälliges Haus, doch seine Ausstrahlung ist nicht unglücklich, es wirkt eher verlassen, denn es steht schon längere Zeit leer. Nach dem Tod des vorigen Besitzers soll es verkauft werden, doch der Zustand und die Größe schrecken mögliche Interessenten ab. Die sechsundfünfzigjährige Irith Falterberg, die das Haus zufällig entdeckt, erliegt sofort dem Charme dieses Hauses mit dem breit auslandenden Dach, aber sie weiß, dass dies weit außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten liegt. Warum hört sie ausgerechnet in diesem etwas verwahrlosten Garten, plötzlich die Stimme ihre Freundes Lunis, dessen Tod sie noch nicht verwunden hat? Warum treten gerade jetzt die junge Künstlerin Sophie und die soeben pensionierte Alix, Dozentin für Forstwirtschaft, in ihr Leben, ahnte Lunis, was passieren würde, wenn er diese drei Frauen zusammenbringt?

Thema und Genre

In diesem klugen, einfühlsamen Roman geht es um Verlust, Trauer, künstlerische Kreativität, Hoffnung, den Mut zum Neubeginn, Freundschaft und Liebe. Kernaussage ist die Freude am Leben und die immer neuen Überraschungen, die es bietet, wenn wir uns darauf einlassen.

Charaktere

Irith hat den Tod von Lunis noch nicht verwunden, doch sie ist bereit für Neues. Die Arbeit an ihren Mosaiken hat in den letzten Jahren ihren Blick für Details und Ideen intensiviert. Sophie kann sehr hartnäckig sein, wenn es sich um „etwas Unbedingtes“ handelt. Alix ist gerade pensioniert worden und überlegt, womit sie nun ihre Zeit verbringen will. Zwischen den drei Frauen entwickelt sich eine lebendige, kreative Eigendynamik und plötzlich scheint alles möglich zu sein.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt in der Jetztzeit. Es ist Sommer, doch der nahende Herbst kündigt sich schon an. Die Ereignisse werden von Irith als Ich-Erzählerin geschildert. Parallel dazu tauchen wir in ihre Erinnerungen und damit in die Vergangenheit ein. Durch die Gespräche mit den beiden anderen Hauptfiguren Sophie und Alix erfahren wir auch Details aus deren Leben. Dies macht die Geschichte stimmig und nachvollziehbar. Lebhafte Schilderungen der Natur, besonders des verträumten, magischen Gartens, des alten Hauses und der Entstehung unterschiedlicher Kunstobjekte ergänzen die Handlung. Diese eindrückliche Sprache ist eine Stärke der Autorin Patricia Koelle, die wir bereits aus ihren Serien kennen, die an der Nordsee oder Ostsee spielen. Für diesen Roman wählte sie das Pseudonym Paula Carlin, macht jedoch kein Geheimnis daraus.

Fazit

Ein nachdenklicher, positiver Wohlfühlroman, der vom Leben in allen Facetten erzählt und von den Möglichkeiten und Überraschungen, die es bietet, wenn man bereit ist, sich auf Neues einzulassen.

Der Panzer des Hummers – Caroline Albertine Minor

AutorCaroline Albertine Minor
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 25. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinUrsel Allenstein
ISBN-13‎978-3257071788

„In letzter Zeit hat Ea zunehmend Angst davor, die falschen Entscheidungen zu treffen. Sie läuft mit dem bedrückenden Gefühl umher, die Jahre wären wie ein Trichter angeordnet, und der weiteste, offene Teil des Lebens läge schon hinter ihr.“ (Zitat Pos. 558)

Inhalt

Aufgewachsen sind die Geschwister Ea, Sidsel und Niels Gabel mit einem Vater, der meistens irgendwo auf der Erde unterwegs und daher abwesend war, während sich ihre Mutter Charlotte „Lotta“ bis zu ihrer Krankheit und frühem Tod um alles gekümmert hat. Heute lebt Ea in den USA, Sidsel in Kopenhagen und Niels, der jüngste der drei Geschwister, lebt heute überall und nirgends, zurzeit jedoch in der Nähe von Kopenhagen. Die Lebenswege der Geschwister sind unterschiedlich verlaufen und immer noch sind sie, unabhängig voneinander, auf der Suche nach dem Platz im eigenen Leben.

Thema und Genre

In diesem modernen Familienroman geht es um unterschiedliche Lebensformen, den Verlust vertrauter Strukturen, Patchwork-Familien und die Frage, wie wir im heutigen Gesellschaftsgefüge unser Leben gestalten wollen. Auch spirituelle und philosophische Elemente spielen eine Rolle.

Charaktere

Die einzelnen Figuren des Romans werden am Beginn der Geschichte vorgestellt. Im Mittelpunkt stehen die Mitglieder der Familie Gabel und der Familie Wallens, wobei sich die Wege einzelner Personen der beiden Familien zufällig kurz kreuzen. Es sind schwierige Charaktere, die Frauen unsicher zwischen ihrer Rolle als Mütter und der eigenen Lebensplanung. Niels ist ein moderner Job- und Wohnungsnomade.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt innerhalb von fünf Tagen im April, die Ereignisse sind Momentaufnahmen, Rückblenden zeigen ergänzende Details der persönlichen Entwicklung der einzelnen Figuren als mögliche Erklärung für die jeweilige aktuelle Situation. Die Chancen auf Veränderungen und Neubeginn klingen im Hintergrund an, bleiben jedoch offen. Der gesamte Handlung wirkt beim Lesen wie ursprünglich unabhängig voneinander geschriebene Erzählungen, die für dieses Buch nachträglich in kurze Kapitel unterteilt und neu zusammengefügt wurden, abwechselnd, mit jeweils einer der Hauptfiguren im Fokus, und ergänzt durch verbindende Elemente. Vorbild der Autorin war, wie in einem Interview bestätigt, die „Carrier Bag Theory of Fiction“ („Tragbeutel-Theorie“) von Ursula K. Le Guin, wonach es im Roman nicht nur einen Helden und einen Konflikt geben soll, sondern viele verschiedene Teile, deren Verhältnis zueinander ebenfalls unterschiedlich, aber möglichst gleich gewichtet sein sollte. Leider nimmt diese bewusste Konstruktion, dieses Schreiben nach Anleitung,  der vorliegenden Geschichte die lebensnahe Lebendigkeit.

Fazit

Ein moderner Familienroman über die Vielfältigkeit der Strukturen abseits der traditionellen Familiengefüge, mit Figuren in existenziellen und emotionalen Krisensituationen.

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García – Moritz Rinke

AutorMoritz Rinke
Verlag ‎Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 19. August 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten448
SpracheDeutsch
ISBN-13‎978-3462054521

„So wie ich das sehe, sitzen hier drei Männer. Der eine ohne Sohn, völlig am Ende. Der andere ohne Job, ohne Fische, ohne das Meer, nur mit einem Joint. Und der dritte ohne Papiere, nur mit irgendwelchen Gedichten.“ (Zitat Seite 312)

Inhalt

Sein Großvater hat die kleine Poststelle in Yaiza eröffnet, inzwischen führt Pedro Fernández García, vierzig Jahre alt, diese weiter. Er muss kreativ sein, denn im Zeitalter des modernen Internets schreibt niemand mehr Briefe und er muss seine Auslastung belegen, um seinen Arbeitsplatz zu erhalten. Kreativ ist auch sein bester Freund, der Fischer Tenaro, zur Zeit ein arbeitsloser Fischer mit viel Fantasie und immer neuen Ideen. Als Pedros große Liebe Carlota ihn überraschend verlässt und mit dem Sohn Miguel nach Barcelona zieht, verliert er die Lebensfreude, plötzlich entdeckte Familiengeheimnisse belasten ihn zusätzlich. Sein Leben wird grau, bis Amado, Dozent für spanische Literaturen in Afrika, zur Zeit Flüchtling ohne Papiere, mit seinen bunten T-Shirts und seiner Geschichte in sein Leben tritt. Auch er braucht Hilfe auf seinem umgekehrten Fluchtweg, zurück in die Heimat. Tenaro hat eine Idee – sind sie gemeinsam kreativ und stark genug, um diese umzusetzen?

Thema und Genre

Diese Geschichte ist eine weit gefächerte Mischung aus Poesie, Magie, Schicksal, vielfältig wie das Leben. Es geht um Freundschaft, Beziehungen, Vater und Söhne, Familiengeheimnisse, aber auch um sozialkritische, brisante Themen.

Charaktere

Jede der Figuren ist etwas Besonderes mit ihren Gefühlen und persönlichen Eigenheiten, und man folgt gespannt ihren Wegen und Erlebnissen. „Zwei Freunde sind wie zwei Geschichten, die sich zu einer verbinden.“ (Zitat Seite 400)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt auf der Insel Lanzarote, während der Jahre 2009 und 2010. Die aktuelle Handlung wird ergänzt durch Erinnerungen an vergangene Ereignisse und Kindheitserinnerungen. Einzelne Tage mit ihren jeweils besonderen Erlebnissen, von denen sich manche nicht erklären lassen, aber trotzdem stattfinden, fügen sich zu einem vielschichtigen, eindrucksvollen Ganzen, in dem sich die einzelnen Fäden zusammenfinden. Es sind bewegte Wochen, die Pedro, Tenaro und Amado zusammenführen und für eine Zeitspanne die Schicksale des Postmannes, des arbeitslosen Fischers mit den phantasievollen Geschäftsideen und des Literaturdozenten, derzeit illegaler Flüchtling, verbinden, vereint durch Literatur und Fußballbegeisterung. Die Sprache erzählt einfühlsam, intensiv und begeistert durch die wunderbaren Schilderungen der dem Tourismus verborgenen Schönheit der Insel Lanzarote.

Fazit

Eine großartige Mischung aus Geschichten, Menschen, Alltag und Gefühlen. Liebenswerte Charaktere und humorvoll-skurrile Szenen vereinen sich mit der Nachdenklichkeit der brisanten Themen unserer Zeit und werden erzählerisch eingebettet in eindrücklichen Schilderungen der Schönheit und des Lebens auf der besonderen Insel Lanzarote.

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