Die vier Liebeszeiten – Birgit Rabisch

AutorBirgit Rabisch
VerlagVerlag duotincta GbR
Datum28. September 2018
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten252
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3946086420

„Liebe ist möglich ist zum geflügelten Wort zwischen ihnen geworden, das immer einer von ihnen irgendwann zitiert, wenn die Liebe unter Alltagssorgen und kleinlichen  Streitereien begraben zu werden droht. Bisher haben sie sie immer wieder ausgebuddelt.“ (Zitat Seite 165)

Inhalt

Als Rena im Frühling 1970 Hauke trifft, den fünfundzwanzigjährigen Cousin ihrer Freundin Monika, ist sie erst siebzehn Jahre alt. Mit einer anschließenden Fahrradtour entlang der Elbe beginnt für Rena und Hauke der Weg durch das gemeinsame Leben. Es ist Sommer, zehn Jahre später, Hauke ist Schriftsteller und Rena schreibt an ihrer Doktorarbeit, Physik, und immer noch ist es die Elbe, die ihr gemeinsames Leben begleitet, das gerade dabei ist, sie vom Paar zur Familie zu machen. Dann ist Hauke, plötzlich, wie er es empfindet, sechzig Jahre alt und während Renas Gedanken in den unendlichen Weiten ihres Forschungsgebietes Exoplaneten kreisen, überlegt Hauke, wie die gemeinsamen Jahre im Alter wohl weitergehen werden.

Thema und Genre

Dieser Roman endet nicht mit dem unbeschwerten, glücklichen Liebesfrühling, sondern folgt dem Paar Rena und Hauke weiter in den Alltag, begleitet diese Liebe durch den langen gemeinsamen Lebensweg. Weitere Themen sind Familie und die immer neue Faszination der Natur an der Elbe und im Wattenmeer.

Erzählform und Sprache

Die personale Hauptfigur ist Rena und ihre vielen Erinnerungen ergänzen die chronologisch verlaufende Haupthandlung, wir kennen ihre Gedanken und sie teilt ihre Beobachtungen mit uns. Hauke dagegen erzählt Details und Ereignisse aus seinem Leben in seinen Gesprächen. Rena ist es auch, die ihre Liebe in Gedanken mit den Jahreszeiten vergleicht. Birgit Rabisch schreibt in einer lebhaften Erzählsprache und ihre eindrücklichen Schilderungen des Wattenmeers und der Flusslandschaft der Elbe wecken Sehnsüchte, diese Landschaft auch selbst zu erleben.

Fazit

Ein vielseitiger Roman, in dem die Liebe einen wichtigen Platz hat, der jedoch wesentlich mehr ist, es ist die Geschichte einer Zeit der Umbrüche und darüber, was folgt, und des Lebens von der Jugend bis ins Alter, humorvoll, witzig in den Details, einfühlsam, aber niemals kitschig. Ein Buch für entspannte, genüssliche Lesestunden.

Von hier aus weiter – Susann Pásztor

AutorSusann Pásztor
VerlagKiepenheuer & Witsch GmbH
Datum13. Februar 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462005684

„Auf jeden Fall würde sie mit etwas beginnen, das irgendwann irgendwohin führte, vielleicht sogar schon bald.“ (Zitat Pos. 211)

Inhalt

Die pensionierte Grundschullehrerin Marlene Hansen braucht dringend einen Klempner, der die Dusche in ihrem Haus repariert. Als Jack Habermann vor ihr steht, erkennt dieser seine ehemalige Lehrerin sofort. Er sieht jedoch noch mehr, er sieht eine Frau, die sich in ihrer wütenden, zornigen Trauer um ihren kürzlich verstorbenen Ehemann Rolf völlig aus dem Leben zurückgezogen hat, niemanden an sich heranlässt und sich antriebslos mühsam durch die Tage quält. „Und morgen würde sie dann weitersehen. Das machte sie schließlich seit Wochen so.“ (Zitat Seite 455). Zuerst räumt Jack ihre Küche auf und zieht, da er ohnedies eine Wohnung braucht, in das Gästezimmer des großen Hauses. Als Marlene beginnt, sich wieder um Anrufe und ihre Post zu kümmern, findet sie einen Brief ihrer ehemals besten Freundin Valerie „Wally“, die in Wien lebt. Vor ihrem Tod hat der bereits unheilbar kranke Rolf einen Brief an Wally geschickt, mit genauen Weisungen, diesen Brief Marlene nur persönlich und in Wien zu übergeben. Zuerst lehnt sie ab, doch dann beschließt sie, mit dem Auto nach Wien zu fahren. Natürlich lässt Jack sie nicht alleine fahren und auch ihre Hausärztin Ida, die vor Jahren Rolfs Praxis übernommen hat, kommt mit.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um eine Frau, die aus Wut über den Tod ihres Mannes völlig aus der Bahn geworfen wird und keinen Grund mehr in ihrem Leben sieht. Themen sind Verlust, Trauer, Familiengefüge, Freundschaft und Veränderungen.

Erzählform und Sprache

Im personalen Mittelpunkt der Geschichte steht Marlene, seit wenigen Wochen Witwe. Die Handlung wird chronologisch erzählt, ergänzt durch Erinnerungen. So ergibt sich langsam ein Bild und wir erfahren, warum Marlene so wütend auf ihren verstorbenen Mann Rolf ist. Es sind die sympathischen, mit ihren Stärken, Schwächen, Problemen überzeugenden Figuren, welche die Handlung tragen. Vor allem Marlene bleibt trotz des Stillstands in ihrem Leben in ihrer wütenden Trauer aktiv, sie zieht sich bewusst zurück, verweigert sich, aber ohne Selbstmitleid. Dies macht die Handlung spannend, man ist neugierig auf mögliche Überraschungen und Wendungen. Auch kleine, magische Momente und Begegnungen fehlen nicht, nicht alles ist erklärbar, aber durchaus möglich.

Fazit

Eine Geschichte über Verlust, Trauer und Veränderungen im Leben, einfühlsam und mit leisem Humor erzählt, aber niemals kitschig. Es macht Freude, diesen Roman zu lesen. 

Die Kolonie – Audrey Magee

AutorAudrey Magee
VerlagNagel & Kimche
Datum28. Januar 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinNicole Seifert
ISBN-13978-3312012893

„Hier geht es um Irland, sagte Masson. Um die irische Sprache. Und haben die Iren mitzureden, fragte Lloyd, bei ihrem großen Plan, die Sprache zu retten?“ (Zitat Seite 104)

Inhalt

Es ist das vierte Jahr, dass JP Masson, ein französischer Linguist, auf diese kleine irische Insel kommt, auf der zweiundneunzig Menschen in zwölf Familien leben. Bei einer dieser Familien verbringt JP den Sommer als zahlender Feriengast. Er schreibt an seiner Doktorarbeit über die Veränderungen der alten Irischen Sprache, verbissen in seinem Anliegen, diese Sprache unbedingt zu erhalten. In diesem Jahr jedoch hat die Familie einen zweiten Feriengast aufgenommen. Auch der Maler Mr. Lloyd wird hier die drei Sommermonate verbringen, um in der Einsamkeit zu malen. Er ist Engländer, aus London, und natürlich spricht er nur Englisch. Vom ersten Moment an ist er für JP ein weiterer Gefährder der ursprünglichen irischen Sprache, während sich Mr. Lloyd durch JP in seiner Sehnsucht nach Ruhe und Stille gestört fühlt. Beide sind Fremde auf der Insel und beide versuchen auf ihre Art, die Menschen für ihre Zwecke einzusetzen, bewusst oder unbewusst, machen Versprechungen und wecken Hoffnungen.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen des Kolonialismus für die Sprache und Kultur, für die Identität der Menschen, am Beispiel einer kleinen irish-gälischen Insel. Themen sind das raue und gefährliche Leben der Fischer, traditionelle Familiengefüge und die Situation der Frauen. Es geht um Kunst, Künstler und die wilde Schönheit der Natur, und natürlich auch um den Nordirlandkonflikt.

Erzählform und Sprache

Die Ereignisse dieses Sommers 1979 werden chronologisch von Tag zu Tag erzählt, Nachrichtenmeldungen geben das Datum an und bringen gleichzeitig das Wissen über die beinahe täglichen Anschläge auch zu den Menschen auf dieser entlegenen Insel. Der Kreis der handelnden Figuren ist bewusst klein gehalten, was dem Roman zusätzliche Tiefe gibt.

Die Autorin lotet alle Möglichkeiten aus, welche die Sprache bietet, um eine Geschichte zu schreiben. Oft setzt sie Dialoge ein, um Sachverhalte und Konflike zu präzisieren. Schilderungen von alltäglichen Verrichtungen und  innere Monologe  fließen ohne Punkt und Innehalten über mehr als eine Seite. Letztere sind für die Autorin eine Möglichkeit, viele zusätzliche Themen und Details zu erzählen, seien es Einblicke in die Vergangenheit einzelner Figuren, Erlebnisse, die sie geprägt haben, persönliche Hoffnungen und Träume für die Zukunft, aber auch ein ausführlicher Rückblick auf die Geschichte Irlands. Dazwischen entstehen überraschend knappe lyrische Wortsequenzen. Die neunundachtzigjährige Bean Uí Fhloinn erzählt JP ihre Geschichten und so wird auch die tief verwurzelte irische Tradition des Geschichtenerzählens eingebunden. Der Maler Lloyd dagegen erfasst jede Situation, jedes Naturschauspiel, detailgenaue Beschreibungen seines Umfeldes in Gedanken sofort als Bild und gibt allen Bildern auch entsprechende Titel. Trotz meiner Begeisterung für die Ausdruckskraft der Sprache verfing ich mich beim Lesen manchmal in den langen Gedankenströmen der Figuren, wenn sie gleich Mäander sich drehten und wendeten, sich wiederholten, vielleicht wäre weniger in manchen Abschnitten mehr gewesen.

Fazit

Ein facettenreicher Irland-Roman, ein mit Worten gemaltes Bild in vielen Nuancen, Schattierungen und Tönen zwischen kraftvoll-bunt und nebelgrau.

Möglichkeit der Liebe – Birgit Rabisch

AutorBirgit Rabisch
VerlagFISCHER Taschenbuch
Datum15. Juni 2015
AusgabeTaschenbuch
Seiten112
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3596302680

„Angenehm zu wissen, daß er in ihr nur die anregende Gesprächspartnerin sieht wie sie in ihm den anregenden Gesprächspartner.“ (Zitat Seite 19)

Inhalt

Vera, einundvierzig Jahre alt, eine erfolgreiche Lektorin, hat sich ihr Leben ohne Männer  gut eingerichtet, alleine und für sich selbst verantwortlich. Seelische Blessuren vergangener Erfahrungen bleiben tief in ihr vergraben. So genießt sie ihre besondere Freundschaft mit dem Astronomen Armin, den sie seit der Kindheit kennt. In diesem Frühjahr treffen sie sich an seinem Bootsplatz und er lädt sie ein, ihren nächsten Urlaub gemeinsam mit ihm auf seiner BONDESTAVE auf dem nordfriesischen Wattenmeer zu verbringen. „Stell dir vor: Eine Hallig, ganz bedeckt mit einem lila Teppich, leuchtend im Sonnenschein, dunkelviolett unter den Schatten der ziehenden Wolken.“ (Zitat Seite 40) Schließlich sagt sie zu, sieben Tage, danach Philippinen. Doch das lila Meer der Hallig, das Sommermeer vieler Vogelarten, dazu Nähe ohne Druck – so viele Eindrücke, so viele Möglichkeiten.

Thema und Genre

In diesem Roman, 1998 in der Rubrik „Die Frau in der Gesellschaft“ des Fischer Taschenbuch Verlages erschienen, geht es um eine Frau im mittleren Lebensalter, erfolgreich und auf Grund prägender Erfahrungen von ihrem Singleleben überzeugt. Themen sind Literatur und Verlagswesen, Beziehungen und natürlich das Wattenmeer.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte beginnt mit Vera, ihrem Tagesablauf, einfache, normale Tätigkeiten, doch alles ist in ihren Gedanken mit Literatur hinterlegt. Sieht sie am Himmel rosa Wolken, überlegt sie, welche Geschichte sich daraus ergeben könnte, ihr Leben erfasst sie als mögliche Szenen eines Romans und Worte sind ihre Barriere gegenüber ihren Gefühlen. Die Handlung verläuft chronologisch, Vera und Armin im Präsens, doch diese Ebene fließt, unterbrochen von Abschnitten, Veras Gedanken und Erinnerungen, die Sprache wechselt ins Imperfekt, dazu Texte im Text, neue Varianten, neue Geschichten. So gelingt es der Autorin, auf diesen im Grunde wenigen Seiten eine Fülle unterschiedlicher Informationen in die Handlung einzubinden, bevor die Reise Tag für Tag erzählt wird. Die Schilderungen der beeindruckenden Schönheit, aber auch der Unberechenbarkeit der Natur der Halligen und des Wattenmeers sind ein eindrucksvoller Teil dieser Geschichte. Es ist unglaublich, wie es Birgit Rabisch gelingt, mit ihrer klaren, knappen Sprache solche Bilder zu malen.

Fazit

„Ist Freiheit ein Ersatz für Liebe?“ (Zitat Seite 42). Dieser lesenswerte Roman ist eine der möglichen Antworten auf diese Frage.

Wackelkontakt – Wolf Haas

AutorWolf Haas
VerlagCarl Hanser Verlag
Datum9. Januar 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3446282728

„Sie vermutete, Madrisa hätte ihr sagen wollen, man weiß nie, was geschrieben steht, bevor man den letzten Satz gelesen hat. Bevor man am Ende des Buches angekommen ist.“ (Zitat Pos. 2474)

Inhalt

Seit Franz Escher, von Beruf Trauerredner, zu seinem neunzehnten Geburtstag sein erstes Puzzle bekommen hat, tausend Teile, kamen viele weitere dazu. An diesem Tag, über dreißig Jahre später, wartet er auf den Elektriker. Die Wartezeit vertreibt er sich mit dem Puzzle „Die große Welle“, fünfhundert Teile. Das Puzzle ist fertig, der Elektriker noch nicht da, also greift er zu dem Roman, den er am Vorabend zu lesen begonnen hat, ein Mafia-Roman, sein bevorzugtes Genre. Elio Russo, ein junges Mitglied der Mafia, wurde zum Kronzeugen. In einigen Tagen soll Russo mit einer neuen Identität in ein neues Leben in Deutschland entlassen werden, doch er ist überzeugt, nicht vor der Rache der Mafia sicher zu sein. Er kann nicht schlafen und liest weiter in einem Buch über einen Mann namens Escher, der auf den Elektriker wartet.

Thema und Genre

Eine Roman im Roman im Roman, parallel und gleichzeitig gespiegelt, spielt er mit den Möglichkeiten des Erzählens, OFF-ON, diffus wie ein Wackelkontakt.

Erzählform und Sprache

Was mit zwei parallelen Handlungssträngen beginnt, die Geschichte des Puzzle-begeisterten Eigenbrötlers Franz Escher und die Geschichte des jungen Kriminellen Elio Russo, entwickelt sich rasch zu einem spannenden, genialen Verwirrspiel, je weiter Escher und Elio lesen, desto mehr verwischen die Grenzen zur Realität, kommen sie einander im Gelesenen näher, bis sie rasant durch die aktuellen Ereignisse gleiten. Franz Escher denkt über die Formulierungen seiner Trauerreden nach: „Es ging darum, mit seinen Worten den Übergangsbereich zu berühren. Die unsichtbare Nahtstelle zwischen den Welten des tatsächlich Geschehenen und des möglich Gewesenen.“ (Zitat Pos. 1725) Genau darum geht es auch in diesem Roman.

Fazit

Dieser Roman ist eine Wundertüte aus vielen Geschichten, Kriminalroman, Lebensgeschichte, Liebesgeschichte und ein spannendes, amüsantes Verwirrspiel zwischen Romanfiguren und  Erzählebenen, überraschend bis zum letzten Satz.

Im Schnee – Tommie Goerz

AutorTommie Goerz
VerlagPiper Verlag
Datum10. Januar 2025
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten176
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3492073486

„Und er saß noch hier und ließ seine Gedanken im Halbschlaf treiben, hierhin und dorthin, vor und zurück, nein, eigentlich nur zurück.“ (Zitat Pos. 830)

Inhalt

Max ist über achtzig Jahre alt, er ist in Austhal geboren, aufgewachsen und hier geblieben. Die Läden haben längst für immer zugesperrt, es sind kaum mehr Höfe bewirtschaftet. Max steht am Fenster und schaut dem Schnee beim Herabfallen zu, denkt an seine Apfelbäume, die im Frühjahr wieder blühen werden und im Herbst Äpfel tragen. Es hätte wieder ein schöner Tag werden können, wenn nicht plötzlich das Totenglöckchen für Georg geläutet hätte, für Schorsch, seinen bester Freund, und Max weiß, dass für ihn ohne diese besondere Freundschaft die Welt eine andere geworden ist.

Thema und Genre

In dieser Geschichte geht es um das Erinnern, um das einfache Dorfleben zwischen Vergangenheit und Gegenwart, um Verlust, Trauer und Freundschaft.

Erzählform und Sprache

Die Handlung schildert die kurze Zeit zwischen dem Tod von Schorsch und dem Begräbnis, die Nacht der Totenwache und den Tag danach. Ein chronologischer Rahmen, in dessen Mittelpunkt der ruhige, beschauliche Alltag von Max steht, und seine Gedanken. In seinen Erinnerungen und durch die Geschichten, die von den Alten während der Totenwache erzählt werden, wird das einfache Leben in diesem Dorf lebendig, die Veränderungen zwischen damals und heute, der Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft, wenn bei er Kartoffelernte alle zusammenhalfen, und auch, wenn es darum ging, über welche Vorkommnisse beharrlich geschwiegen wird.

Fazit

Es ist eine Geschichte der leisen Töne, mit einer besonderen Erzählsprache, die durch ihre schnörkellose, eindringliche Tiefe die perfekte Ergänzung zum Inhalt bildet, ein beeindruckendes Leseerlebnis.

Putzfrau bei den Beatles – Birgit Rabisch

AutorBirgit Rabisch
Verlagduotincta GbR
Datum14. März 2018
AusgabeBroschiert
Seiten168
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3946086307

„Alle vier nicken. 275 Jahre geballte Lebenserfahrung finden, dass die Jugend einen guten Vorschlag gemacht hat.“ (Zitat Seite 49)

Inhalt

Die „Yellow Submarine“ ist eine renovierte, prächtige Gründerzeitvilla in Hamburg Eimsbüttel und die Fassade ist tatsächlich leuchtend gelb. John, Paul, George und Ringo nennen sich die vier älteren Herren, die in dieser Villa leben. Nach wie vor kritisch und oft unterschiedlicher Meinung zum aktuellen Zeitgeschehen und ebenso oft in Erinnerungen an die 1968 zurückblickend, verbindet sie eine lange Freundschaft und die gemeinsame, ebenso zeitlos lange Liebe zur Musik, besonders zu den Songs der Beatles. Als Jana, vierundzwanzig Jahre alt, an einem Ampelmast einen Zettel entdeckt, dass eine zuverlässige Reinigungskraft gesucht wird und das in der engen Nachbarschaft, ist es der perfekte Job für sie, denn sie will Schriftstellerin werden und träumt davon, einen erfolgreichen Debütroman zu schreiben. Nun ist sie bereits seit sechs Monaten Putzfrau bei den Beatles, doch es fehlen ihr zündende Ideen für ihrem Roman – bis ein Junge vor der Tür steht. Leander ist zwölf Jahre alt, laut Oma Monis Tagebuch ist Paul sein Großvater und Leander will bei ihm wohnen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Beatles, die 68er Bewegung und die Frage, wie die aktiven Jugendlichen von damals heute leben, zwischen Erinnerung und den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Es geht um lebenslange Freundschaften, das Zusammenleben von mehreren Generationen, die Konflikte, aber auch das voneinander Lernen. Gleich einem roten Faden zieht sich das Thema Schreiben und Schreibprozess durch die Geschichte.

Erzählform und Sprache

Die Sprache versteht es, sich den Ausdrucksformen der unterschiedlichen Figuren anzupassen und wirkt dadurch natürlich, die Sympathie des Lesers, der Leserin, für die einzelnen Charaktere verstärkend. Man kann sich sofort in jeden der Protagonisten hineinversetzen, in ihre Sicht der Dinge, denn im Zuge der Geschichte werden Ereignisse bekannt, die jede der Figuren tief geprägt haben. Die Geschichte wird chronologisch erzählt, aus wechselnden Perspektiven, mal ist es Jana, die ihre Sicht der Dinge und ihr Leben in der Ich-Form schildert, mal steht Leander im personalen Mittelpunkt und so bildet diese Geschichte ein trotz der Vielfalt der Themen überzeugendes Ganzes.

Fazit

Eine originelle und abwechslungsreiche Geschichte mit aktuellen Fragen und Themen. Witzige Szenen und überraschende Wendungen machen diesen Roman zu einem Leseerlebnis, auch 2025, und somit inzwischen 57 Jahre 1968.

Tod der Autorin: Ein Leben in elf Romanen – Birgit Rabisch

AutorBirgit Rabisch
Verlag‎Verlag duotincta GbR
Datum16. Dezember 2024
AusgabeTaschenbuch
Seiten384
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3946086772

„Sie blättert in ihren Romanen, liest sich fest, reißt sich wieder los, macht sich Notizen zu ihren Romanfiguren, nimmt eine Figur in die Liste auf, streicht sie wieder, überlegt es sich, nimmt sie doch auf, streicht eine andere, bis die Gästeliste für ihr Dinner 70 endlich fertig ist.“ (Zitat Seite 19)

Inhalt

Zu ihrem siebzigsten Geburtstag hat die Autorin eine Idee, ein neues literarisches Projekt, ein festliches Dinner in einem eleganten, schönen Rahmen. Als Gäste lädt sie Figuren aus ihren elf Romanen ein, sechsundzwanzig Figuren, die sie gerne sehen will, ohne Unterscheidung in Hauptfigur oder Nebenfigur. Nicht nach Roman, sondern bunt gemischt platziert sie ihre Romanfiguren an sechs Tische, geht im Laufe des langen Dinners von Tisch zu Tisch. Sie diskutiert mit ihren Figuren, erinnert sich gleichzeitig an die Zeit in ihrem Leben, als sie zu der jeweiligen Geschichte inspiriert wurde, die sie in ihren Romanen und durch ihre Romanfiguren erzählen wollte.

Thema und Genre

Die Autorin erklärt selbst, keine Autobiografie schreiben zu wollen, sondern Autofiktion, genau genommen eine Autorinnenfiktion. „Selbst wenn ich um Wahrheit bemüht über mein Leben schreiben würde, wäre es nur die Fiktion, die sich in meinem Erinnerungsprozess verfestigt hat.“ (Zitat Seite 134) Im Mittelpunkt ihrer Geschichten stehen die Menschen, ihre Gefühle, Liebe, Freundschaft, Verlust, in Verbindung mit zeitlos wichtigen Fragen aus den Bereichen Wissenschaft, Forschung, Gesellschaftspolitik. Gleichzeitig geht es um das Schreiben selbst von der Idee bis zur fertigen Geschichte, um Erzählformen und Erzählperspektiven.

Erzählform und Sprache

Schon die Idee, prägende Ereignisse durch die Erinnerung der Autorin an die jeweils daraus entstandenen Romane und Figuren nochmals erlebbar zu machen, ist ungewöhnlich, originell und es macht Freude, diese Geschichte in Form eines Dinners mit vielen unterschiedlichen Tischgesprächen zu lesen. Gekonnt gibt Birgit Rabisch gerade so viel aus den elf Romanen preis, wie für die Gespräche mit den Figuren wichtig ist, um die Handlung auch für Menschen nachvollziehbar zu machen, welche keinen der zugrundeliegenden Romane gelesen haben. Die Erinnerungen der Autorin ergänzen diese Details und bieten so einen hervorragenden Einblick in die Tätigkeit von Schriftstellern, in das Schreiben, in die Entstehung und Ausformung von Romanfiguren. Natürlich sind die Figuren an die jeweilige Geschichte, Themen und Konflikte angepasst, die sie für uns spätere Leser erlebbar machen sollen, doch so wie hier in diesem besonderen Roman wirkt nichts konstruiert, man hat das Gefühl, die Figuren können und dürfen sich mit der Handlung entfalten, die auch nicht auf eine bestimmte Erzählperspektive festgelegt ist. Der Titel ist wohl eine Abwandlung der literaturtheoretischen These vom Tod des Autors und der Geburt des Lesers, im Sinne der Bedeutung, die ein Text erst durch die Gedanken des Lesers erhält. Der vorliegende Roman hat viele Facetten und Themen, ist für mich auch einer der unterhaltsamsten Rundgänge durch wichtige Grundlagen der Erzähltheorien, Fachwissen für literaturinteressierte Laien, knapp, interessant und lesbar präsentiert.

Fazit

Es macht Freude, dieses Buch zu lesen, selbst wenn man keinen der elf Romane von Birgit Rabisch kennt. Auf eine sichere Nebenwirkung sei jedoch hingewiesen: man wird ganz sicher Lust bekommen, den einen oder anderen Roman zu lesen, nachdem man die Figuren bei anregenden Tischgesprächen kennengelernt hat.

Das Echo der Träume – María Dueñas

AutorMaría Dueñas
VerlagBlanvalet Taschenbuch Verlag
Datum18. Februar 2013
AusgabeTaschenbuch
Seiten736
SpracheDeutsch
ÜbersetzungBarbara Reitz
Maria Zybak
ISBN-13978-3442380398

„Die Normalität war nur das, was mein eigener Wille, mein Engagement, mein Wort als normal akzeptierten, und von daher war sie auch immer bei mir. Sie an einem anderen Ort suchen oder sie aus dem Gestern zurückgewinnen zu wollen, hatte keinen Sinn.“ (Zitat Seite 581, 582)

Inhalt

Sira Quiroga Martín, geboren am 25. Juni 1911 in Madrid, beginnt mit zwölf Jahren eine Lehre in dem Modeatelier, in dem auch ihre Mutter arbeitet. Sie ist eine junge Frau, die ihre Hochzeit plant, als eine Schreibmaschine alles verändert. „Eine Schreibmaschine stellte mein Leben auf den Kopf. Es war eine Hispano-Olivetti und von ihr trennte mich über Wochen eine Schaufensterscheibe.“ (Zitat Seite 9) Denn in diesem Geschäft trifft sie auf Ramiro Arribas und verliebt sich leidenschaftlich. Ende März 1936 verlassen die beiden Madrid, um mit dem Geld, das Sira von ihrem Vater erhalten hat, in Marokko ein neues Leben aufzubauen. Als Ramiro mit ihrem Geld und wertvollem Familienschmuck spurlos verschwindet und sie mit hohen Schulden sitzen lässt, besinnt sie sich ihres Berufs und ihrer Begabung und eröffnet einen Schneidersalon, in dem sich bald die Damen der Gesellschaft einfinden, Deutsche, Spanierinnen und Engländerinnen. Als man an sie herantritt, nach Madrid zurückzukehren und dort neben einem eleganten Atelier, das für sie eingerichtet wird, auch besondere, allerdings sehr gefährliche Aufgaben zu übernehmen, sagt sie zögernd zu und damit nimmt ihr Leben nochmals eine unvorhersehbare Wende.

Thema und Genre

Dieser Roman mit historischem Hintergrund gibt interessante Einblicke in Gesellschaft und Politik in Marokko, während Europa bereits am Rande des zweiten Weltkriegs steht. Vor allem jedoch geht es um die politische Lage Spaniens zur Zeit der Bürgerkriege, Francos Weg an die Macht und die Zeit des Franco-Regimes. Es geht um die Haltung Spaniens gegenüber den deutschen Nationalsozialisten, um die Interessen Englands und den Widerstand. Gleichzeitig geht es um Frauenfreundschaft und Zusammenhalt.

Erzählform und Sprache

Es ist Sira selbst, die rückblickend ihre Geschichte erzählt und auch die Lebensumstände in dieser ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt, die gesellschaftliche Schere zwischen Armut und Reichtum. Im Mittelpunkt steht neben ihren persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen die Rolle, die sie während dieser gefährlichen Jahre des politischen Franco-Regimes in Madrid spielt, über Intrigen, Vertrauensbrüche und wie sie selbst sogar ungewöhnliche Situationen spontan meistert. Durch Sira lernen wir ihre Kundinnen kennen und die Faszination besonderer Stoffe und exquisiter Entwürfe. Die Sprache schildert packend und macht diese Geschichte zu einem Page-Turner.
 

Fazit

Die spannende Geschichte einer Frau in einer geschichtlich brisanten Zeit.

The Light in the Ruins – Chris Bohjalian

AutorChris Bohjalian
VerlagVintage Contemporaries
Datum9. Juli 2013
AusgabeKindle Ausgabe
Seiten322
SpracheEnglish
ASINB00B3GMIBY

„She might even take two days and visit the Rosati villa in Monte Volta. Maybe she would learn something from its ghosts.” (Zitat Seite 86)

Inhalt

Das alte Landgut der adeligen Familie Rosati, die Villa Chimera, liegt versteckt zwischen Weinbergen etwas außerhalb des toskanischen Ortes Monte Volta und damit auch abseits des direkten Kriegsgeschehens im zweiten Weltkrieg. Bis im September 1943 die Nationalsozialisten weite Teile Italiens besetzen und erfahren, dass sich nahe der Villa eine antike etruskische Grabstätte befindet. Zunächst interessiert den deutschen Oberst Erhard Decker, immer auf der Suche nach Kunstschätzen für Berlin, vor allem das Grabgewölbe, doch rasch auch für die große Villa selbst.

1955 findet Cristina Rosati den toten Körper ihre Schwägerin Francesca Rosati, das Herz wurde aus der Brust geschnitten und wirkungsvoll in einem Aschenbecher vor dem Frisierspiegel präsentiert. Rasch zeigt sich, dass es jemand offenbar auf die noch lebenden Mitglieder der Familie Rosati abgesehen hat. 1943 kämpfte Serafina Bettini trotz ihrer Jugend aktiv auf der Seite der Partisanen. Heute ist sie die erste Frau in der Mordkommission von Florenz. Sie ist überzeugt, dass der Tathintergrund in der Vergangenheit zu suchen ist, obwohl sie und ihr Chef Paolo Ficino sich fragen, warum erst jetzt, nach elf Jahren.

Thema und Genre

In diesem Roman mit geschichtlichem Hintergrund geht es um Italien im zweiten Weltkrieg zwischen Nationalsozialisten, Angriffen der Alliierten und Widerstand, Familiengeheimnisse, Verlust, Liebe und Rache. Die Geschichte zeigt viele Facetten zwischen Kriminalroman, Familiengeschichte und Generationenroman.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte wird in zwei Handlungssträngen und auf zwei tatsächlichen Zeitebenen erzählt, die einander abwechseln und in sich chronologisch verlaufen. Die aktuellen Ereignisse schildern die Mordfälle, die Ermittlungsarbeit und Recherchen im Jahr 1955, ergänzt durch Erinnerungen. Das Geschehen in der Vergangenheit spielt während der Kriegsjahre 1943 und 1944. Wirklich spannend und interessant wird die Geschichte jedoch durch einen dritten Erzählstrang, den Gedankenströmen der Tatperson. Damit beginnt das Buch und die Schilderungen der Ermittlungen und Befragungen im Jahr 1955 werden wiederholt durch die Gedanken, Überlegungen und Planungen der nächsten Schritte dieser unbekannten Person ergänzt, wodurch wir aus einer anderen Perspektive auf das Geschehen blicken. Der Roman in englischer Sprache wurde nie übersetzt, doch die elegante, klare Erzählsprache, eindrucksvoll und lebhaft in den Schilderungen, ist sehr gut zu lesen.

Fazit

Ein packender Roman mit zeitlos gültigen Themen und Fragestellungen und einer Vielfalt an Charakteren, menschlichem Verhalten und Gefühlen. Spannende Unterhaltung und Lesevergnügen.

Vierundsiebzig – Ronya Othmann

AutorRonya Othmann
VerlagRowohlt Buchverlag
Datum12. März 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-349800361

„Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist. Die Sprachlosigkeit ist das Unbeschreibliche, und sie ist selbst Teil des Textes.“ (Zitat Pos. 93)

Inhalt

Die Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann ist in Deutschland aufgewachsen, als Tochter eines êzîdischen Vaters und einer deutschen Mutter. Im August 2014 ist sie einundzwanzig Jahre alt, als sie vor dem Fernsehgerät sitzt und versucht, in Gedanken und Worte zu fassen, was an diesem 3. August 2014 in Shingal geschehen ist, der vierundsiebzigste Ferman, ein Massaker durch IS-Kämpfer an den andersgläubigen Jesiden. Menschen, die fliehen konnten, kommen in den Bergen von Shingal um, die Männer, die im Vertrauen auf ihre arabischen Nachbarn geblieben sind, werden getötet, junge Frauen und Kinder werden auf Sklavenmärkten verkauft. Nach und nach ergibt sich das Bild dieser Ereignisse und der Verbrechen während der Besatzungszeit durch den IS aus den vielen Gesprächen, die sie führt, Camps, die sie besucht, in denen auch Familien leben, die vor dem IS aus Shingal geflohen sind, Fragen, die sie stellt und die doch keine Fragen sind, als sie 2018 in den Irak fliegt und ihre Familie in Silêmanî in der Region Kurdistan besucht. Am ersten Oktober 2022 fliegt sie mit ihrem Vater wieder nach Erbil und gelangt auf abenteuerlichen Wegen von Bagdad über Mossul nach Shingal und damit findet dieser Roman ein formales Ende, auch wenn die Geschichte nicht abgeschlossen werden kann.

Thema und Genre

In dieser literarischen Form eines dokumentarischen Romans zwischen Fakten, Autobiografie, Erinnerungen und tagebuchartigen Aufzeichnungen geht es um den Genozid an den Jesiden, den Versuch, die Ereignisse in einen Text zu fassen, das unvorstellbare Leid, welches der IS über die Menschen in dieser Region gebracht hat und das sich für die Autorin nicht in Worte fassen lässt, aber auch um die karge Schönheit des Landes, um die gelebte Gastfreundschaft und darüber, was Familie bedeutet.

Erzählform und Sprache

Die Texte sind Fragmente, Ronya Othmann schreibt, fügt Worte zu Sätzen zusammen, die Gedanken und Eindrücke kommen und gehen. Wiederholt nähert sie sich und ihre Texte dem Jahr 2014 an, recherchiert in der Bibliothek, liest die Berichte, liest und hört ihre Aufzeichnungen, ergänzt mit ihren persönlichen Erinnerungen, nicht immer chronologisch, aber durch Jahreszahlen und Datumsangaben zuordenbar. Immer wieder die Frage an sich selbst als Schriftstellerin, wie sie über all das Unfassbare schreiben soll, das passiert ist. Sie bezweifelt das erzählerische „Ich“, da sie dies nicht persönlich erlebt hat, die Alltäglichkeiten, die sie beschreibt, eingebunden in die Texte über die Verbrechen an den Êzîden, über die sie aber schreiben muss, damit sie nicht vergessen werden. „Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt. Die verborgenen und aufklaffenden Lücken, nicht unter dem Text, sondern darin.“ (Zitat Pos. 5965)

Fazit

Vielfältig, literarisch ungewöhnlich, eine tief beeindruckende Leseerfahrung.

Pi mal Daumen – Alina Bronsky

AutorAlina Bronsky
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Datum15. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004250

„Moni saß neben mir, nachdem sie ihre Ikea-Tasche in den Gang gestellt hatte. Daraus lugten ein kleiner, bunter Gummistiefel und mehrere Stangen Lauch hervor.“ (Zitat Pos. 91)

Inhalt

Semesterbeginn, die erste Vorlesung Analysis hat schon begonnen, als Moni Kosinsky in den Hörsaal kommt und sich auf den freien Sitz neben Oscar setzt. Oscar, Graf von Ebersdorff, ist erst sechzehn Jahre alt, hochbegabt und sagt immer, was er denkt, da soziales Verhalten und das Knüpfen von Kontakten definitiv kein Thema für den leicht autistischen Einzelgänger sind. Moni, dreiundfünfzig, als Großmutter von drei Enkeln und Inhaberin mehrerer Nebenjobs immer unter Zeitdruck, will sich endlich den Traum vom Mathematik-Studium erfüllen. Da sie in einigen Fächern Zweiergruppen bilden müssen, für Oscar ein notwendiges Übel, das er gerne umgangen hätte, denn „Gut bin ich selber“ (Zitat Pos.134) scheint ihm Moni die beste Lösung zu sein. Womit er Recht hat, denn bald stellt sich heraus, wie gut sie als Zweiergruppe auch die nicht immer einfachen Anforderungen des Alltags meistern.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um zwei Menschen aus unterschiedlichen Generationen und Gesellschaftsschichten, beide sind auf ihre Art Außenseiter. Themen sind Familie, Freundschaft, Vorurteile, Träume und Wünsche an das eigene Leben und natürlich die Mathematik.

Erzählform und Sprache

Oscar ist der Ich-Erzähler der Geschichte und schildert die Ereignisse chronologisch. Da er ein extrem guter Beobachter ist und gewohnt ist, alle Ereignisse, auch die alltäglichsten Kleinigkeiten, in seinen Gedanken genau zu analysieren, erfahren wir nicht nur viel über ihn selbst, sondern auch über Moni und deren Familie. Spannend sind Oscars innere Gedankenströme, denn so können wir besser nachvollziehen, wie einfach für ihn auch sehr komplexe mathematische Fragen zu lösen sind, aber wie herausfordernd es für ihn wird, wenn es um menschliches Miteinander und emotionale Empathie geht. Diese völlig gegensätzlichen Charaktere und ihr ebenso unterschiedliches persönliches Umfeld funktionieren großartig, füllen die Geschichte mit Leben und Spannung. Die mit der Handlung vernetzten mathematischen Themen werden interessant und allgemeinverständlich erklärt. Die Erzählsprache ist eine überzeugend ausgewogene Mischung zwischen einfühlsam, nachdenklich, frech und sehr witzig.

Fazit

Zwei liebenswerte Hauptfiguren und eine unterhaltsame, aber keineswegs triviale Geschichte, die man mit großem Vergnügen liest.

Eine Nebensache Adan- ia Shibli

AutorAdania Shibli
VerlagUnionsverlag
Datum29. Juli 2024
AusgabeTaschenbuch
Seiten128
SpracheDeutsch
ÜbersetzerGünther Orth
ISBN-13978-3293710177

„Und so kam es also, dass ich jenen Artikel las, an dem mich ein ganz bestimmtes Detail interessierte, nämlich das Datum des darin geschilderten Vorfalls.“ (Zitat Seite 65)

Inhalt

Die junge Ich-Erzählerin hat gerade einen neuen Job begonnen und ist auch in eine neue Wohnung gezogen. An die Checkpoints und Kontrollen durch Militärstreifen hat sie sich längst gewöhnt, daher wäre die Geschichte, die sie zufällig in der Zeitung liest, trotz der Tragik für sie nichts Außergewöhnliches gewesen. Was ihr jedoch sofort auffällt, ist das Datum, der 13. August 1949, an dem sechs Schüsse das Leben eines Beduinenmädchen gewaltsam beendet haben, denn am 13. August, genau fünfundzwanzig Jahre später, wurde sie geboren. Da sie generell unfähig ist, Grenzen zu erkennen, ist ihr sofort klar, dass sie wegen dieses besonderen Datums wieder einmal Grenzen überschreiten wird, denn sie will wissen, was damals wirklich geschehen ist und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit hinter der Geschichte des Mädchens.

Thema und Genre

Dieser Roman greift zeitlos brisante Themen auf, Gewalt an Frauen in Kriegszeiten, kriegerische Auseinandersetzungen, Einengung durch Kontrollpunkte und Gebietsgrenzen, Alltagsleben zwischen Palästina und Israel. Vor allem geht es um die Möglichkeiten des erzählenden Schreibens, um Wahrheit und Medienethik, besonders in der Kriegsberichterstattung.

Erzählform und Sprache

Adania Shibli erzählt diese Geschichte in zwei Teilen und wählt dafür auch zwei unterschiedlichen Erzählformen. Im ersten Teil berichtet ein auktorialer Erzähler über eine zur Grenzsicherung eingeteilte Einheit israelischer Soldaten am Rande der Negev-Wüste und den Ablauf der Ereignisse zwischen dem 9. und 13. August 1949. Im zweiten Teil beginnt eine junge Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht kennen, auf Grund eines Zeitungsartikels mit eigenen Nachforschungen, die sie bis an den Ort des damaligen Geschehens führen.

Trotz oder gerade wegen der für einen Roman relativ wenig Seiten ist dies eine Geschichte von hoher sprachlicher und inhaltlicher Dichte. Spannend sind auch besondere Parallelen, die nur wir Leser erkennen, da die Ich-Erzählerin gewöhnt ist, auf Details zu achten und diese in ihrer Schilderung auch immer wieder erwähnt. Die Sprache ist einfühlsam, poetisch und die Ich-Erzählerin überzeugend authentisch.

Fazit

Eine beeindruckende, auch in der Erzählform intensive Geschichte, in der es um wesentlich mehr geht, als das Einzelschicksal eines bis heute unbekannten Beduinenmädchens. Dieser Roman ist keine Nebensache, fiktiv an keine Grenzen gebunden, zeigt er die Auswirkungen von kriegerischen Auseinandersetzungen und Gewalt auf und regt zum Nachdenken an.
 

Die Wirtinnen“  von Silvia Pistotnig

AutorSilvia Pistotnig
VerlagElster & Salis Verlag
Datum9. Mai 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten360
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3039300464

„Nur nicht an das Orgelspielen und die Musik denken. Das war nichts, womit sich ein Essen auf den Tisch stellen oder ein Mann finden ließ.“ (Zitat Seite 62)

Inhalt

Es sind die Arbeit und die Verantwortung für das familieneigene Gasthaus in einem Kärntner Dorf, welche das Leben der beiden Frauen, Johanna und Marianne, ihre Tochter, prägen. Sowohl die hochbegabte Johanna mit ihrer Liebe zur Musik und zu den Tasteninstrumenten, als auch Marianne mit ihrer Affinität für Zahlen und Mathematik, haben keine Chance, ihre Träume und Wünsche an das Leben verwirklichen zu können. Mariannes Tochter, die junge, rebellische Getrud „Trudi“, schämt sich für ihr Zuhause in diesem in die Jahre gekommenen Familiengasthof und plant, dieses sofort nach der Matura verlassen, nach Wien zu gehen und dort zu studieren. Dieser Wunsch kann sich erfüllen, denn ihr älterer Bruder Thomas studiert bereits, nicht jedoch ihr Traum von einer Fußball-Karriere als Mädchen in diesen frühen 1990er Jahren. Noch aber lebt Trudi bei ihrer altmodischen, verschlossenen Großmutter Johanna und ihrer Mutter Marianne, die auf Grund der Arbeit im Gasthaus kaum Zeit für sie hat, und versucht, sich in dem eigenartigen, komplizierten Gefüge der Generationen ihrer Familie zurechtzufinden. „Kann mir irgendwer irgendwas erklären?“ (Zitat Seite 309)

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um traditionelle Rollen der Frau, Gehorsam und Pflichtgefühl. Diese starren Gefüge lassen keine Veränderungen und schon gar kein Ausbrechen zu, Begabungen und eigene Lebensträume sind unerfüllbare Wünsche, geopfert der Verantwortung für die Familie.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte erstreckt sich über die Jahre 1936 bis 2022 und ist in Kapitel eingeteilt, wobei jeweils eine der drei Frauen, Johanna, Marianne oder Gertrud, im personalen Mittelpunkt steht. Die einzelnen Erzählstränge der drei Hauptfiguren verlaufen in sich chronologisch, jedes Kapitel trägt als Überschrift den entsprechenden Namen und die Jahreszahl. Dadurch ergibt sich eine vielschichtige Handlung, sehr klar strukturiert und nachvollziehbar. Gleichzeitig wird die Geschichte dadurch packend, da sich Details, die wir als Leser bereits aus den Schilderungen der Geschehnisse in Johannas Vergangenheit kennen und über die in der Familie geschwiegen wird, für Marianne und Getrud erst viel später durch Antworten auf ihre Fragen zumindest teilweise enthüllen. Doch wichtige Ereignisse, besonders in Johannas Leben, bleiben ungesagt, dadurch können wir Johannas Verhalten besser verstehen, als ihre Tochter und Enkelin. Die Autorin verändert auch ihre Erzählsprache passend zur jeweiligen Zeit und Figur. So sehen wir mit Johannas Augen die Großstadt Wien im Jahr 1938, wo sie eine Stelle als Dienstmädchen antritt, und Trudi, oder wie sie genannt werden will, Geri, wird 1994 durch ihre Sprache sofort zur erfrischend unangepassten Jugendlichen, die sie ja auch ist.

Fazit

Eine facettenreiche Familien- und Generationengeschichte, in deren Mittelpunkt drei Frauen stehen, von denen jede auf ihre Art besonders ist, die sich jedoch auf Grund des Umfeldes und der Lebensumstände nicht so entfalten können, wie es ihren Begabungen und Wünschen entspricht. Skurrile Momente und die genaue, aber dennoch einfühlsame, liebevolle Zuwendung, mit der die Autorin auf ihre Figuren blickt, machen diese Geschichte zu einem überzeugenden Leseerlebnis.

Villa Sternbald oder Die Unschärfe der Jahre – Monika Zeiner

AutorMonika Zeiner
Verlagdtv Verlagsgesellschaft
Datum12. September 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten672
SpracheDeutsch
ISBN-13ISBN-13: 978-3423284240

„Ich war lange Zeit nicht mehr in der Villa Sternbald gewesen, aber ich hatte sie mir oft vergegenwärtigt, als müsste mir die Erinnerung etwas zeigen, das bisher verborgen gewesen ist.“ (Zitat Seite 7)

Inhalt

Seit Generationen stellt das Familienunternehmen Finck Schulmöbel her. Gegründet von Ferdinand „Ferry“ Heinrich Finck, ging es auf seinen Sohn Johann „Jean“ Finck über, obwohl dieser viel lieber Insektenforscher geworden wäre. Jeans Sohn Heinrich „Henry“ jedoch ist der geborene Unternehmer. Die Beziehungen der jeweiligen Söhne zu ihren Vätern ist in dieser Familie immer problematisch, es sind die Großväter, die sich um die Enkel kümmern. Daher entscheidet sich der schon als Junge phantasievolle Drehbuchautor Nikolas Finck, der vor vielen Jahren den Familiensitz, die Villa Sternbald, verlassen und seither nicht mehr betreten hat, nun doch an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren, zum 103. Geburtstag seines Großvaters Henry. Obwohl es das Verhalten und die Entscheidungen seines Großvaters waren, die dazu geführt hatten, dass es zum Bruch kam, als Nikolas ein Jugendlicher war, der viele Fragen stellte, Fragen, die nicht oder ausweichend beantwortet wurden. Konkret ging es um die Übernahme des Unternehmens der Familie Stein, das ebenfalls Schulmöbel herstellte, im Jahr 1935. Aus den geplanten Tagen werden Wochen und Monate, in denen Nikolas in die Vergangenheit der Familie, in die Familiengeheimnisse und in seine eigenen Erinnerungen eintaucht. „Ist es, dachte ich, das Gedächtnis, das die Sanduhr umdreht und die Zeit immer wieder verrieseln lässt?“ (Zitat Seite 53)

Thema und Genre

In diesem deutschen Generationen- und Familienroman, geht es um Familiengefüge, Familiengeheimnisse, Halbwahrheiten, Erinnerungen, Kindheit, Erziehung, Gesellschaftsnormen, Philosophie, Religion, Konflikte und Gefühle – und Insekten in vielen Varianten. Ein wichtiges Kernthema ist das Verhalten der Familie während der Jahre des Nationalsozialismus.

Erzählform und Sprache

Monika Zeiner passt die gewählte Erzählform dieses Romans, der aus aneinandergereihten Episoden besteht, den Personen an, Nikolas Finck, die Hauptfigur, ist der Ich-Erzähler in der aktuellen Zeit. Die Geschichte seines Großvaters, Urgroßvaters, Ururgroßvaters wird in der personalen Form geschildert, mit jeweils einer der Figuren im Mittelpunkt. Die Rahmenhandlung, der Besuch von Nikolas in seinem Elternhaus, verläuft chronologisch, wird jedoch von eigenen Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, und von den zahlreichen Episoden aus dem Leben seiner Vorfahren unterbrochen. Die Erzählform ordnet die Handlung den Figuren und Anliegen unter, schildert nicht so sehr die Ereignisse, sondern vielmehr die Hintergründe, Konflikte und Befindlichkeiten der einzelnen Figuren, wodurch sich neben Dialogen, die nicht unbedingt mit einem realen Gegenüber geführt werden, es kann auch Gisberta, eine tote Feuerwanze sein, viele innere Monologe und Gedankenströme ergeben. Die Kernthemen der Autorin, Familiengefüge, Väter und Söhne, fehlende Mütter, Literaturverweise, Philosophische Abhandlungen, Religion, Kindheit und Erziehung im Wandel der Zeit, die Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus, ergänzt durch umfassendes Wissen über Insekten, füllen die Seiten. Sprachlich hat mich dieser Roman sehr angesprochen, die gekonnten Sätze, Formulierungen und die brillanten Vergleiche machen Freude beim Lesen.

Fazit

„Von fließender Zeit kann in der Villa Sternbald keine Rede sein. Sie hat es nicht eilig, sie hat sich hier eingerichtet wie die Schnecke in ihrem Haus.“ (Zitat Seite 345)

Diese Aussage beschreibt meiner Meinung nach auch perfekt den vorliegenden Roman, eine Geschichte, die sich breit und behäbig fließend statt packend über sechshundertfünfzig Seiten ergießt. Für mich nicht das richtige Buch, andere Leser begeistert es, wie die positiven Fachbewertungen zeigen.

Reichskanzlerplatz – Nora Bossong

AutorNora Bossong
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum12. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten296
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518431900

„Sie war nicht einfach nur verliebt in diesen Mann, und ich habe erst später Worte dafür gefunden: Mit ihm glaubte sie in den Himmel aufzusteigen und alles darunter überließ sie der Hölle.“ (Zitat Pos. 1552)

Inhalt

1919 ist Hans Kesselbach zwölf Jahre alt, als er von seinem gleichaltrigen Schulfreund Hellmut Quandt in die Villa der Industriellenfamilie eingeladen wird und dessen Stiefmutter kennenlernt. Magda Quandt ist damals erst neunzehn Jahre alt, und obwohl Hans heimlich in Hellmut verliebt ist, beeindruckt ihn auch dessen junge, schöne Mutter. Als er diese nach beinahe zehn Jahren auf Grund eines schweren persönlichen Verlustes, der sie beide betrifft, wieder besucht, beginnen sie eine Affäre. Zwischen Hans und Magda entsteht eine Verbindung, die trotz aller Konflikte auch bestehen bleibt, als aus Magda Quandt Frau Magda Goebbels geworden ist und Hans diese Verbindung und die völlig veränderte Magda nicht verstehen kann. Hans verlässt Deutschland im Herbst 1938 und ist als deutscher Diplomat im Mailänder Generalkonsulat tätig. Er passt sich an, ist vorsichtig und versucht, sie möglichst unauffällig zu verhalten. „Weniges wollen wir so sehr wie betrogen werden, und Meisterschaft bedeutet ja nichts anderes, als zu wissen, wie man täuscht.“ (Zitat Pos. 2362)

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Roman, Fiktion mit zeitgeschichtlichem Hintergrund, stehen die Menschen, Familiengefüge, Konflikte, zwischenmenschliche Beziehungen, Freundschaft und die Facetten der Liebe. Die Kernthemen persönliche Entscheidungen, die Möglichkeit, dass eine andere Wahl des Lebensweges das gesamte nachfolgende Leben vielleicht hätte verändern können, Schuld, Mitschuld und Mitwissen ziehen sich durch den gesamten Roman. „Es war ja nicht so, dass wir nichts sahen oder hörten oder wussten.“ (Zitat Pos. 1923)

Erzählform und Sprache

Die Handlung dieser Geschichte umfasst die Jahre 1919 bis 1945, doch es geht nicht um historisch bekannte Ereignisse und Fakten, sondern Nora Bossong will mit diesem Roman die Entwicklungen dieser Jahre aus der Sicht der Menschen, besonders ihrer beiden Hauptfiguren Hans und Magda, nachvollziehen und legt ihren präzise beobachtenden Blick auf die persönliche Haltung der Menschen. Magda Goebbels aus unterschiedlichen, nuancierten Blickwinkeln darzustellen, nahe an den bekannten Fakten, aber mit erzählerischer Freiheit, die sich aus einigen vagen Einträgen in Goebbels privaten Tagebüchern ergab, wonach Magda bereits während ihrer Ehe mit Quandt eine Affäre mit einem jungen Studenten hatte und diese Beziehung weiterführte, als sie bereits mit Joseph Goebbels zusammen war. Daraus entstand die fiktive Figur Hans Kesselbach, der die Ereignisse als Ich-Erzähler schildert, ergänzt durch seine Erinnerungen, seine Beobachtungen und die eigenen Gedanken, mit denen er sein Verhalten und auch das seiner Umgebung hinterfragt und die Entscheidungen, die sie treffen. Somit ist er die eigentliche Hauptfigur dieses Romans. Die Handlung verläuft chronologisch und die einzelnen Kapitel sind in übergeordneten Abschnitten zusammengefasst, die den jeweiligen Zeitrahmen angeben und die teilweise einige Jahre überspringen, da es kein historischer Roman ist. Auch die nachdenkliche, präzise Sprache, mit der Nora Bossong auf ihre Figuren blickt und ihnen folgt, ist interessant und packend zu lesen.

Fazit

Ein sehr kluger, vielschichtiger und auf Grund der Erzählform und der Figuren überzeugender Roman zwischen Fakten und Fiktion, in dessen Mittelpunkt die Menschen stehen, ihr Verhalten und die Entscheidungen, die sie treffen. Die Konflikte, Fragenstellungen und Themen sind gerade heute wieder von brisanter Aktualität und regen zum weiteren Nachdenken an. „ … und man entkommt nicht der Geschichte, die man selbst schreibt.“ (Pos. 3231)

Der Rabe, der mich liebte – Abdelaziz Baraka Sakin

AutorAbdelaziz Baraka Sakin
VerlagVerlag Klingenberg
Datum31. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten137
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinLarissa Bender
ISBN-13978-3903284272

„Tauben stammen von Raben ab. Aber die Tauben lieben die Sanftmut und die Unterwürfigkeit, während die Raben die Rebellion und die Weisheit lieben, weil sie klüger sind und einen reineren Geist haben.“ (Zitat Seite 17, 18)

Inhalt

Der Sudanese Ahmad Al-Nur, genannt Nuri, hatte an der Universität in Khartum Maschinenbau studiert, doch in Europa werden seine Zeugnisse nicht anerkannt. Als sein Asylantrag in Paris angenommen wird, macht er sich als Schrotthändler selbstständig und seine Geschäftsreisen führen ihn durch ganz Europa. Adam Inglitz dagegen, Nuris bester Freund aus Jugendtagen, mit dem er gemeinsam die Fluchtwege quer durch Europa bis nach Calais gemeistert hatte, will nur eines, heimlich nach Großbritannien übersetzen, an der Universität Oxford studieren und anschließend dort Universitätsprofessor werden. Ihre Wege trennen sich. Nun trifft Al-Nur auf einer Dienstreise in Graz ein und sieht dort auf dem Hauptbahnhof zufällig seinen Freund Adam Inglitz nach zwei Jahren wieder, dünn, sichtbar gealtert, bettelnd. Adam scheint ihn nicht wiederzuerkennen und läuft weg. Nuri versucht, seinen Freund zu finden.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Flucht, das Leben der Migranten im Untergrund, um Fluchtrouten, Schleuser, Asylgesetze, die Dublin-Verordnung, aber auch um Zusammenhalt und Freundschaft. Im Mittelpunkt stehen die Menschen mit ihren Träumen, Hoffnungen, mutigen Entscheidungen, aber auch Entbehrungen und Verzweiflung.

Erzählform und Sprache

Zu Beginn der Geschichte schildert Al-Nur als Ich-Erzähler das Wiedersehen mit Adam Inglitz, ergänzt durch viele Erinnerungen an die gemeinsame Zeit im heimatlichen Dorf und am Gymnasium. Er erinnert sich an prägende Episoden auf ihrer Fluchtroute, die Gefahren und die erste Zeit in Europa. Die Ich-Perspektive bleibt, doch es sind nun unterschiedliche Personen, die jeweils ihren Teil der Geschichte, ihre eigenen Erinnerungen und persönlichen Erlebnisse mit Adam Inglitz erzählen, in denen auch die Liebe einen Platz hat. So ergibt sich ein eindrückliches, vielschichtiges Gesamtbild, ein besonderer Blick auf einen besonderen Menschen, geschrieben in einer präzise beobachtenden und gleichzeitig sehr poetischen Sprache.

Fazit

Eine einfühlsame Geschichte über die harte Realität der Migration und des illegalen Lebens ohne Aufenthaltsstatus, aber auch über Hoffnungen, Träume, Freundschaft und Liebe. „Ohne ihn hätte der Dschungel mich umgebracht, die Hoffnungslosigkeit des Dschungels, seine salzige Luft und seine giftigen Winde.“ (Zitat Seite 131)

Beteigeuze – Barbara Zeman

AutorBarbara Zeman
Verlagdtv Verlagsgesellschaft
Datum15. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423284158

„Und der Himmel ist still und das Meer ist still, nur mein Atem geht laut, und als ich mich umdrehe, schwankt der Boden ein bisschen unter dem Gewicht des Meeres und dem von mir.“ (Zitat Seite 19)

Inhalt

Theresa Neges ist vierzig Jahre alt und lebt mit ihrem fünf Jahre jüngeren Freund Josef, einem Austellungsarchitekten für Künstler, in einer kleinen Wohnung in der Wiener Taborstraße. Ursprünglich hat Theresa an der Wiener Angewandten Mode studiert, doch irgendwie hat sich ihr Leben in den Jahren sehr verändert. Seit drei Tagen hat sie wieder Arbeit gefunden, in einem Wiener Café, doch am liebsten lebt sie ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen, füllt den Tag mit spontanen Einfällen und wartet darauf, dass im späten Herbst ihr Lieblingsstern am Himmel auftaucht, Beteigeuze, rot leuchtend im Sternbild Orion.

Thema und Genre

Ein Roman in Fragmenten, Skizzen, Gedankenschnipseln. Es geht um Tagesabläufe und sich spontan ergebende, teilweise skurrile Ereignisse im Leben einer Vierzigjährigen, die beschlossen hat, die Medikamente abzusetzen, die sie auf Grund ihrer psychosozialen Beeinträchtigung nehmen sollte.

Erzählform und Sprache

Die Geschichte versetzt uns in die innere Welt der Hauptfigur Theresa und so besteht eine Art von Handlung ausschließlich aus den vielen Bewusstseinsströmen Theresas. Auch Gespräche und Dialoge werden von Theresa zuerst in ihren Gedanken interpretiert, umformuliert und kommentiert, sie hört nur, was und wie sie es hören will. Auf mich wirkt diese Figur wie eine in die Jahre gekommene, tragische und deprimierende Pippi Langstrumpf, die sich ihre eigene Welt erschafft, in der sie sich bewegt, wie es ihr gerade passt. Von den Menschen in ihrem Umfeld erwartet sie, dass sich alle ihren skurrilen Ideen und ihrem eigenartigen Verhalten, das sie selbst oft lustig findet, unterordnen. Mich konnte diese Hauptfigur teilweise nicht erreichen. Da es sich bei der Erzählform ausschließlich um die Wiedergabe der Gedanken und inneren Monologe der Wienerin Theresa handelt, ist auch die Sprache entsprechend einfach, ergänzt durch Theresas Wissen zu Themen, die sie interessieren, Lexika-Einträge, die sie in ihren Gedanken wiederholt.

Fazit

Ich habe das Buch auf Grund der Inhaltsbeschreibung des Verlages und der begeisterten Besprechungen in literarischen Fachkreisen und Medien gekauft und kann diese Begeisterung nur bedingt nachvollziehen.

Die Projektoren – Clemens Meyer

AutorClemens Meyer
VerlagS. FISCHER
Datum28. August 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten1056
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3100022462

„Viele Jahre später, als der Cowboy mit seinem Wanderkino in einem alten roten Lastwagen durch endlose Steppen und fremde Berge fuhr, erinnerte er sich falsch, und er sah, wie Negosava und der Mann mit dem karierten Halstuch, der Cowboy der frühen Jahre, der er einmal gewesen war, im Bioskop von Split saßen und einen deutschen Indianerfilm sahen, doch was sind schon die richtigen Erinnerungen, und wo beginnen die Träume und wo die Märchen?“ (Zitat Pos. 2950)

Inhalt

Ein Mann, wegen seines karierten Halstuchs Cowboy genannt, der die Originalverfilmungen der Bücher von Karl May im Velebitgebirge 1962 miterlebte, kleine Rollen als Komparse hatte, schreibt ab 1970 selbst unter dem Pseudonym Fallmer erfolgreiche Westernromane. Viele Jahre später reist er bis in den Irak. So wie dem Cowboy folgen wir auch einem Hadschi, der seinen Sihdi sucht, durch die Zeiten der DDR, durch Titos Jugoslawien, die Jahre danach und durch die brutalen Kriege, die ab 1992 das Land Jugoslawien zerrissen. „Ich bin der, der ich bin. Der Hadschi, wie er im Buche steht, der den sucht der ihn einst ins Buch geschrieben hat.“ (Zitat Pos. 12851) Denn damit hat im Grunde alles begonnen, mit Karl May und seinen Geschichten, in der Indianer und Deutsche Blutsbrüder waren, dem wilden Kudistan geholfen wurde und Araber als edle Wüstensöhne auftraten.

Thema und Genre

Dieser epische Roman ist vieles, die Geschichte Europas zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert, ein spannender Abenteuerroman, eine Geschichte des Films, darin eingebettet Familien- und Generationengeschichten. Es geht um Zeitgeschichte, um politische Strömungen und um die grausame Zerstörung durch Kriege und vor allem deren Auswirkungen auf die Menschen, die davon betroffen sind.

Erzählform und Sprache

Im Hintergrund besteht eine chronologische Abfolge der Ereignisse, doch führen die einzelnen Episoden durch die Zeiten und die Kriege, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und zurück in eine andere Vergangenheit, ein Sprung über Jahre in eine wieder andere Jetztzeit. Man folgt den einzelnen Figuren, fiktiven und auch realen wie Lex Barker. Mit den Jahren tritt auch die nächste Generation der fiktiven Figuren auf, die völlig andere Wege gehen. Man blättert manchmal verwirrt einige Kapitel zurück, wer ist jetzt wer, bis man sich einfach auf diese weite, facettenreiche, oft surreale Geschichte einlässt, sich von ihr weitertragen lässt, staunend, Kopfschüttelnd-erheitert,und dann wieder zutiefst erschüttert durch die brutale Realität der Schilderungen der Kampf- und Kriegshandlungen. Im Roman tritt mehrmals die Figur des Fragmentaristen auf, der erzählt und erzählt, ganze Geschichten zwischen gestern, heute und morgen auf Wände schreibt und so liest sich auch dieser Roman. Die Sprache ist vielfältig, schildert ruhig fließend, poetisch, um dann, wenn es um den raschen Ablauf von Szenen geht, atemlos Wort um Wort, Wortgruppe um Wortgruppe zu einem einzigen Satz in Seitenlänge aneinanderzureihen.

Fazit

Ein roter LKW mit einem Wanderkino, ein uralter Mann am Steuer, so ziehen sich Filmrollen, Projektoren, Erinnerungen, Romane und Filme nicht nur durch Jugoslawien, sondern durch diese Jahrhundertgeschichte Europas. Eine literarische Achterbahnfahrt, auf die man sich bald einlässt, ohne viel zu fragen, sich beim Lesen von den Ereignissen weitertreiben lässt, neugierig dieser ungewöhnlichen, kreativen und auch sprachlich großartigen Mischung folgend, die uns Clemens Meyer hier vorsetzt.

Dorf ohne Franz – Verena Dolovai

AutorVerena Dolovai
VerlagSeptime Verlag
Datum12. Februar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten168
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3991200352

„Ich bin kein hübsches, zartes Pflänzchen, das fürsorglicher Pflege bedarf. Eher der robuste Dornenbusch, der kaum Wasser braucht und selten Blüten trägt.“ (Zitat Pos. 319)

Inhalt

Maria ist das mittlere Kind zwischen dem fünf Jahre älteren Bruder Josef und dem vier Jahre jüngeren Bruder Franz. Josef erbt den Hof und die Grundstücke, der als Kind zarte, von der Mutter deshalb verwöhnte Franz erhält Geld und verlässt das Dorf, so bald er kann. Von Maria, die ja nur ein Mädchen ist, wird erwartet, dass sie den Erbverzicht unterschreibt, möglichst rasch einen Ehemann im Dorf findet und fleißig für alle arbeitet. Während ihre Freundin Theresa auf ein Internat gehen darf und dadurch für immer der beklemmenden Enge des Dorfes und der ebenso eng denkenden Dorfgemeinschaft entflieht, bleibt Maria und führt ein Leben als pflichtbewusst mitarbeitende Hilfskraft, Pflegerin, Ehefrau und Mutter einer Tochter. „Ich habe der Rolle entsprochen, die erwartet wurde. Weil ich nicht auffallen wollte, weil ich es nicht konnte?“ (Zitat Pos. 963)

Thema und Genre

n diesem Roman geht es um Erinnerungen an ein hartes Leben voller Entbehrungen und Verzicht auf dem Land, in einer Familiestruktur mit dem beklemmend traditionellen Frauenbild, um unerfüllte Träume eines Mädchens, später Frau, das Dorf zu verlassen und ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen.

Erzählform und Sprache

Maria, die Hauptfigur, erinnert sich im Heute an ihr Leben zurück. Sie erzählt von ihrer harten Kindheit in den 1960er Jahren, von fehlender Mutterliebe, von der unerfüllten Sehnsucht nach einer Ausbildung. Sie schildert ihren Alltag in einem engen, von den Männern dominierten Familiengefüge und starren Dorfleben. Chronologisch folgen wir ihrem Weg als Kind, als junge Frau, als Ehefrau und Mutter. Langsam enthüllen sich einige Familiengeheimnisse, es wird klar, warum der jüngere Bruder Franz das Dorf verlassen hat, denn in Marias Erinnerungen taucht er trotz seiner Abwesenheit immer wieder auf. Die knappe und dadurch eindringliche Erzählsprache verstärkt in ihrer Ausdrucksweise die Hauptfigur und das Genre.

Fazit

Landleben ohne falsche Romantik, Frauenleben in einer Welt der Väter, Brüder und Ehemänner, fern jeder Freiheit und Gleichstellung. Man möchte die Hauptfigur abwechselnd mitfühlend in Gedanken umarmen, dann wieder eindringlich auf sie einreden, sie metaphorisch anschreien, dass es nicht so sein muss, dass sie die Dinge ändern könnte, ihr Leben selbst in die Hand nehmen, so wie sie es sich in all den Jahren wünscht. Eine beklemmende, gleichzeitig beeindruckende Geschichte.

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