Signora Sommer tanzt den Blues – Kirsten Wulf

AutorKirsten Wulf
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Erscheinungsdatum 10. Juni 2020
FormatKindle
Seiten384 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ASINB07ZXRB3RK

„Blues ist nicht die choreografische Vorstellung vom Leben. Blues ist das Leben. Ehrlich und niemals perfekt.“ (Zitat Pos. 1127)

Inhalt

Im Sommer 1945 kamen mit den amerikanischen Soldaten der Swing, Jazz und Blues nach Rom. Die Musik verbindet Guenda und Lesley vom ersten Augenblick an, beide sind gerade Anfang zwanzig. Heute, viele Jahre später, verbindet die Musik, der Blues, drei völlig unterschiedliche Frauen. Laura Sommer, Anfang fünfzig, reist nach ihrer Scheidung nach Rom und trifft dort Fabio Belli, Professor für Kunstgeschichte. Doch der geplante Hochzeitstag wird zum Tag von Fabios Begräbnis. Damit scheint auch ihr eigenes Leben zu Ende. Die bunte, unangepasste Blues-Sängerin Fra ist gerade in ihre neue Wohnung eingezogen, als ein Wasserrohrbruch diese unter Wasser setzt. Es ist Fabios und nun Lauras große Wohnung, die genau darüber liegt und Fra zieht in eines der Gästezimmer. Die junge amerikanische Studentin Samantha Carter hatte bei Fra ein Zimmer gemietet, gut, das es bei Laura noch ein Gästezimmer gibt. Laura will nur eines, wieder alleine mit ihrer Trauer und ihren Erinnerungen an Fabio sein, ihre Ruhe haben. Doch Fra und Sam sehen das anders.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses Romans stehen starke Frauen, die eines gemeinsam haben: sie stehen, bewusst oder unbewusst, vor einem Neubeginn, einer Planänderung in ihrem Leben, vor neuen Möglichkeiten. Es geht um Verlust, Trauer, vor allem aber um Mut, Entscheidungen, sich auf etwas Neues einzulassen, um Freundschaft, und um die Kraft der Musik. Natürlich sind auch Beziehungen und die Liebe ein Thema.

Charaktere

Laura ist durch ihren Verlust völlig blockiert, sie scheint langsam aus ihrem eigenen Leben zu verschwinden. Die laute, unkonventionelle Fra ist ihr suspekt, erst langsam erkennt sie das große Einfühlungsvermögen dieser Frau und öffnet sich für Neues, vor allem für die Gefühle, die der Blues und das Tanzen in ihr auslösen. Sam ist Anfang zwanzig, spontan, für sie ist jeder Tag in Rom ein wunderbares Abenteuer, an dem sie die ganze Welt über Social Media teilhaben lassen will.

Handlung und Schreibstil

Der Roman spielt in Rom, in der Jetztzeit, doch ein zweiter Handlungsstrang führt als erzählte Erinnerung zurück in das Jahr 1945 und zu den Ereignissen, die damals in diesem Palazzo stattgefunden haben. Die Ereignisse bekommen ihre Intensität und Spannung durch die drei völlig unterschiedlichen Frauen und ihre Art, diese oft turbulente Zeit in Rom mit Leben zu füllen. Die Schilderungen des Alltagslebens auf der Straßen von Trastevere versetzen den Leser sofort nach Rom mit der lebhaften Italianità, den Gerüchen, der Stimmung. Ergänzt werden diese Eindrücke durch die intensive Musik, die durch alle Seiten klingt, die Sängerin Fra und die Musiker.

Fazit

Ein vielschichtiger Roman, ernst, humorvoll, ein Lesevergnügen für entspannte Stunden, in dessen positiver Stimmung der Blues mit einem glücklichen Lächeln mitschwingt.

DER JUDAS-SCHREIN – Andreas Gruber

AutorAndreas Gruber
Verlag Luzifer-Verlag
Erscheinungsdatum 31. März 2020
FormatBroschiert
Seiten534
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3958354807

„Die Tagebucheinträge waren genauso verrückt wie der Fall, in dem sie ermittelten. Womöglich passten die Ereignisse gerade deshalb zusammen.“ (Zitat Seite 328)

Inhalt

Er ist knapp vierzehn Jahre alt, als er seinen Geburtsort Grein am Gebirge verlässt, nun kehrt Kommissar Alex Körner aus Wien nach siebenundzwanzig Jahren als Ermittler in einem Mordfall zurück. Ein Reporterteam hat einen anonymen Hinweis erhalten und entdeckt den brutal zerfetzten Körper eines toten Mädchens. In dem kleinen Dorf stoßen Körner und sein Team auf eine Mauer des feindseligen Schweigens. Gleichzeitig macht ein starkes Hochwasser es ihnen unmöglich, den Ort zu verlassen. Was sie dann im Zuge der Ermittlungen in alten Dokumenten aus dem Jahr 1864 entdecken, widerspricht jeder kriminalistischen Logik und Vorstellungskraft.

Thema und Genre

Dieser Roman ist ein packender Thriller, der gleichzeitig der phantastisch-mystischen Horrorliteratur in der Tradition von H.P. Lovecraft zuzuordnen ist, wobei der Schwerpunkt der Geschichte im Bereich des dunklen, gefährlichen Übernatürlichen liegt. Ein Thema ist auch das Leben der Menschen in einer kleinen, abgeschiedenen Dorfgemeinschaft.

Charaktere

Das Wiener Ermittlerteam unter der Leitung von Chefinspektor Alex Körner kennt einander lange, nur die Kriminalpsychologin Sonja Berger ist erst seit drei Wochen in seinem Team. Die einzelnen Charaktere mit ihren speziellen Eigenheiten sind sehr sympathisch und stimmig geschildert, auch die zwischenmenschliche Komponente fehlt nicht.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in fünf übergeordneten Teilen erzählt, die in Kapitel eingeteilt sind. Zwischen den einzelnen Teilen wird abschnittsweise ein Ereignis erzählt, das im Jahr 1937 stattgefunden hat. Auch ein altes Tagebuch aus dem Jahr 1864, im passenden Schriftbild klar abgegrenzt, spielt eine wichtige Rolle und führt langsam zum Hintergrund der aktuellen Handlung, die im knappen Zeitrahmen von Montag bis Freitag innerhalb einer Woche stattfindet. Dieser Aufbau vertieft die Spannung und ist eine hervorragende Lösung, die den Leser zuerst langsam, dann in einem immer schneller werdenden Tempo vom Thriller direkt in die dunklen Abgründe des atemberaubenden Horrors führt. Die Sprache der Tagebucheinträge passt perfekt in die damalige Zeit und hebt sich im Ausdruck von der aktuellen Handlung ab. Sehr beklemmend sind die sehr anschaulichen, atmosphärisch dichten Beschreibungen der Ereignisse, des Dorflebens und der einzelnen Dorfbewohner, und der Situation vor und während eines starken Hochwassers.

Fazit

Eine packende, beklemmende Mischung aus Thriller und Horror, wobei die düstere, geheimnisvolle Schauer-Komponente deutlich überwiegt. Überraschende Wendungen sorgen für Spannung und intensive Lesestunden bis zur letzten Seite.

Abgrund – Yrsa Sigurdardóttir, Kommissar Huldar und Psychologin Freyja, Band 4

AutorYrsa Sigurdardóttir
Verlag btb Verlag
Erscheinungsdatum 27. April 2020
FormatBroschiert
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442758470

„Irgendetwas stimmte hier nicht. Huldar korrigierte sich: Hier stimmte gar nichts. Absolut gart nichts.“ (Zitat Seite 188)

Inhalt

Ein Toter hängt zwischen zwei Lavafelsen, auf Grund der historischen Bedeutung des Ortes genannt Galgenfelsen. Es ist Helgi Friðriksson, ein sehr vermögender Investmentbanker. Zuerst denken die Ermittler an Selbstmord, doch ein Nagel mit dem Rest eines Notizzettels in der Brust des Toten zeigt, dass es sich um Mord handelt. Als Huldar zur Adresse des Toten kommt, findet er in der stylischen Wohnung Freyja vor, die sich um einen vierjährigen Jungen kümmert, der seinen Namen, Siggi, kennt und die sehr geläufigen Kurzformen der Vornamen seiner Eltern, aber weder Familiennamen, noch Adresse. Er weiß nur, dass er nicht in dieser Wohnung wohnt, in der das Jugendamt ihn auf Grund eines anonymen Anrufes gefunden hat. Parallel zu den Ermittlungen im Mordfall Helgi muss das Team auch nach den Eltern des kleinen Jungen suchen. Offenbar gibt es keinerlei Zusammenhänge, oder doch?

Thema und Genre

In diesem spannenden Thriller geht es um einen mysteriösen Mordfall und die schwierige Suche nach den Eltern eines kleinen Jungen. Gesellschaftskritische Hintergründe sorgen für Tiefgang.

Charaktere

Kommissar Huldar und die Psychologin Freya ergänzen einander bei den Ermittlungen und auch die junge, engagierte Lína passt sehr gut in das Team von Huldar, auch wenn die schroffe Vorgesetzte Erla dies anders sieht. Die einzelnen Figuren der Ermittler in diesem verworrenen Fall sind als unterschiedliche Charaktere sehr gut und realistisch geschildert.

Handlung und Schreibstil

Die packende Handlung spielt in einem knappen Zeitraum, denn in den Ermittlungen drängt die Zeit. Der Hintergrund der Geschichte wird Stück für Stück, gleich kleinen Puzzleteilen, offengelegt. Nach zahlreichen Wendungen ergeben sich am Schluss die nicht vorhersehbaren Zusammenhänge. Die Ereignisse sind jedoch immer nachvollziehbar und stimmig. Eine geniale Wendung bildet den überraschenden Abschluss dieses neuen, vierten Falles des Ermittlerteams. Der Schreibstil ist dem Genre Thriller angepasst, enthält aber auch interessante Beschreibungen und bietet mit einer guten Prise Humor ein spannendes, begeisterndes Leseerlebnis.  

Fazit

Ein packender Thriller mit sympathischen Ermittlern, der den Lesern Rätsel und überraschende Wendungen bietet. Ein Pageturner und Garantie für eine lange Lesenacht.

Die letzte Prophezeiung des Nostradamus – Darius Quinn

AutorDarius Quinn
Verlag Independently published
Erscheinungsdatum 27. Mai 2020
FormatKindle Ausgabe
Seiten644 (Print-Ausgabe
SpracheDeutsch
ASINB088DYV1PK

„Es wird passieren – das wissen wir, die Prophezeiung beschreibt es. Keine Ahnung wie, aber dass es geschieht, steht fest. Sofern wir es nicht verhindern …“ (Zitat Seite 465, 466)

Inhalt

Frank Fischer ist als Historiker für das Deutsche Museum Berlin tätig und bereitet gerade eine Nostradamus Ausstellung vor, als ihm das bisher verschollene, dreizehnte Buch der Centurien des Michel de Nostredame, angeboten wird. Er zögert nicht, diese Sensation für das Museum zu erwerben. Im Gegensatz zu den bekannten Weissagungen, die sehr unterschiedlich interpretiert werden konnten, enthalten diese Prophezeiungen trotz der  Gedichtform klare Aussagen. Diese müssen aber von Frank erst entschlüsselt werden, um das Ende der Welt verhindern zu können. Ein Wettlauf beginnt, nicht nur gegen die Zeit, sondern auch gegen mächtige, sehr gefährliche Gegner, die dieses Buch aus unterschiedlichen Motiven in ihren Besitz bringen wollen.

Thema und Genre

In diesem packenden Wissenschaftsthriller geht es um die auch heute noch faszinierenden Weissagungen des Michel de Nostredame, sowie um Technik, Quantenphysik, Kernforschung, moderne Computertechnologien, Geheimbünde und Geheimdienste, und um die Macht der Kirche.

Charaktere

Frank Fischer ist ein introvertierter Bücherwurm, als Wissenschaftler ein Fachmann auf seinem Gebiet, aber erst durch die Ereignisse wird er zum mutigen Kämpfer, der sein Leben für den Erhalt der Erde einsetzt. Seine frühere Ehefrau Lena Gerber, die als Chemikerin Tests durchführt, um die Echtheit des Buches zu prüfen, gerät dadurch  ebenfalls in Gefahr, unterstützt ihn aber trotzdem. Doch erst durch den erfahrenden, britischen Spezialagenten Jack Cooper und dessen weltweite Verbindungen können sie hoffen, die Kette von Ereignissen vielleicht noch rechtzeitig zu stoppen. Die Figuren sind authentisch, mit ihren jeweiligen Eigenheiten sehr gut charakterisiert, und bleiben auch bei geballter Action glaubhaft.

Handlung und Schreibstil

Die straffe, rasante Handlung passt perfekt zum Genre. Überraschende Wendungen, die dennoch nachvollziehbar sind, sorgen für durchgehende Spannung bis zur letzten Seite. Für mich ist der Kern eines gekonnten Wissenschaftsthrillers eine prefekte Mischung aus Fiktion und sehr gut recherchierten Fakten, wodurch sich eine Handlung ergibt, die möglich wäre. Genau das ist hier der Fall und das Resultat ist ein ungemein spannendes, actionreiches Lesevergnügen mit Niveau. Sehr interessant ist die Aufstellung am Ende des Buches, in welcher der Autor Fakten und Fiktion offenlegt.

Fazit

Ein packender, kreativer Page-Turner, nicht nur für Fans von Dan Brown und J.R. Dos Santos, der durch seine technischen Fakten in Kombination mit einer brillanten Geschichte überzeugt.

Fragen zu Corpus Delicti – Juli Zeh

AutorJuli Zeh
Verlag btb Verlag
Erscheinungsdatum 25. Mai 2020
FormatTaschenbuch
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442719846

„Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst.“ (Zitat aus dem Originalroman, Seite 187)

Thema und Inhalt

Moritz Holl, unschuldig für einen Mord verurteilt, begeht Selbstmord. Seine Schwester Mia Holl, zuvor angepasst mit einem tadellosen Lebenswandel, wird dadurch völlig aus der Bahn geworfen. Sie beginnt aufzubegehren und Fragen zu stellen in diesem Staat, in dem Gesundheit das oberste Gebot ist und der durch Regeln, die „METHODE“, gelenkt wird.

Darum geht es, sehr kurz gefasst, im 2010 erschienen dystopischen Roman „Corpus Delicti“ von Juli Zeh, der ursprünglich als Theaterstück geschrieben und auch an etwa 20 Theatern inszeniert wurde.

Da der Roman seit Jahren auch auf dem Lehrplan im Deutschunterricht steht, ist gerade dieser Text für die Autorin immer präsent geblieben. Zehn Jahre und viele Fragen später, ist nun dieses Begleitbuch erschienen, das jedoch keine Interpretation des Romans ist. Juli Zeh beschäftigt sich vielmehr mit den unterschiedlichen Fragen, die sich in den Jahren besonders bei den jungen Leser*innen ergeben haben und bietet Antworten an. Se greift die Themen auf und ergänzt diese durch viele neue Gedanken, die sich auch mit dem aktuellen Gesellschaftsbild auseinandersetzen und mögliche Wege in eine positive Zukunft aufzeigen.

Die Autorin hält es für sehr wichtig, dass sich immer mehr zeitgenössische Romane mit den aktuellen Entwicklungen auseinandersetzen. Eine der Fragen, die wir uns stellen sollten, ist es, wie wir in Zukunft als Einzelperson und als Gesellschaft miteinander umgehen wollen. Eine zentrale Rolle spielt das Gesundheitsthema und damit verbunden eine politisch verordnete Prävention, welche die demokratischen Grundrechte und Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen einschränkt.

Umsetzung

Juli Zeh wählt die Form eines fiktiven Interviews mit Fragen und Antworten. Das Buch ist in vierzehn übergeordnete Kapitel gegliedert und reicht von der Entstehungsgeschichte des Romans über die Protagonisten, Einflüsse, Literaturgattungen, bis zu ihrem eigenen schriftstellerischen Werdegang. Ein eigenes Kapitel (VIII) beschäftigt sich mit dem Genre politische Literatur. Im letzten Kapitel (XIV) spricht Juli Zeh „Statt eines Nachworts“ über die besondere Bedeutung, die der Roman „Corpus Delicti“ für sie hat.

Fazit

Eine interessante, wichtige und vertiefende Ergänzung zum Roman „Corpus Delicti“, gerade in diesen Wochen von brisanter Aktualität.

Ein Wort, um dich zu retten – Guillaume Musso

AutorGuillaume Musso
Verlag Pendo
Erscheinungsdatum 2. Juni 2020
FormatBroschiert
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3866124837

„Wenn du Romanschriftsteller bist, dann bist du es rund um die Uhr. Du hast nie Urlaub. Du liegst immer auf der Lauer, wartest immer gierig auf eine Idee, die du aufgreifen kannst, auf einen Ausdruck, ein Verhalten, die eine deiner Figuren charakterisieren könnten.“ (Zitat Pos. 1263)

Inhalt

1999 erklärt der erfolgreiche Autor und Pulitzer-Preisträger Nathan Fawles, fünfunddreißig Jahre alt, in einem Interview, er werde nie mehr schreiben, es werde keine neuen Veröffentlichungen mehr geben. Er zieht sich auf die schöne, abgeschiedene Insel Île Beaumont zurück. Nun, beinahe zwanzig Jahre später, nimmt Raphaël Bataille, ein junger Autor, einen Job in der Buchhandlung auf der Insel an, um mit Nathan Fawles in Kontakt zu treten. Da geschieht ein grausamer Mord auf dieser kleinen Insel, gleichzeitig kommt die Schweizerin Journalistin Mathilde Monney auf die Insel um nachzuforschen, warum der Schriftsteller seine Karriere damals wirklich beendet hat. Kann sie das Geheimnis um Nathan Fawles lüften, obwohl sein Agent immer wieder versichert, es gebe kein Geheimnis.

Thema und Genre

In diesem spannenden Roman geht es um Schriftsteller und das Schreiben, um ein nie vollständig aufgeklärtes Verbrechen in der Vergangenheit, um ein Verbrechen in der Gegenwart, um Zufälle, Schuld, Familiengeheimnisse und die Liebe.

Charaktere

Nathan Fawles hat insgesamt nur drei Romane veröffentlicht, diese jedoch sehr erfolgreich. Bewusst beschließt er, sein Leben nicht mehr dem Schreiben und seinen Figuren zu unterwerfen und zieht auf die kleine Insel Beaumont. Raphaël ist ein junger Autor, der unbedingt die Meinung  von Nathan Fawles zu seinem Romanskript hören möchte, da ihn die Bücher von Fawles sehr geprägt haben. Mathilde Monney ist verbissen auf der Suche nach Antworten.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird von unterschiedlichen Personen geschildert, die jenen Teil der erzählen, den sie erlebt oder erfahren haben. Interviews aus dem Jahr 1999 ergänzen die Handlung, die der Schriftsteller als fiktive Erzählerfigur beendet. So vielschichtig und packend die Handlung ist, so überraschend die Wendungen, so ungewöhnlich ist auch diese Erzählform. Ergänzt wird die Geschichte durch Zitate von bekannten Schriftstellern zum Thema Schriftsteller und Schreiben am Beginn der einzelnen Kapitel.

Fazit

Ein spannender Roman um Schicksal und Zufall, Familiengeheimnisse und das Leben als  Schriftsteller. Der Originaltitel: La vie secrète des écrivains sagt wesentlich mehr aus, als dieser triviale deutsche Titel und das ebenfalls sehr einfache Cover, das dieser vielschichtigen, packenden und intensiven Geschichte nicht gerecht wird. Man sollte sich davon nicht abhalten lassen, dieses anspruchsvoll-unterhaltsame Buch zu lesen.

Belmonte: Eine deutsch-italienische Familiensaga – Antonia Riepp

AutorAntonia Riepp
Verlag Piper Paperback
Erscheinungsdatum 2. Juni 2020
FormatBroschiert
Seiten496
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3492062015

„Ihren ersten Kaffee trank sie auf der Steinbank neben dem Kücheneingang im Schatten des Moro und beobachtete eine Eidechse, die sich auf dem Mäuerchen der Terrasse sonnte.“ (Zitat Pos. 952)

Inhalt

Simona, demnächst dreißig Jahre alt, hat Landschaftsgärtnerei studiert und ist in Kempten im Allgäu freiberuflich tätig. An dem Tag, an dem sie ihren Job verliert, stirbt auch ihre Großmutter, Nonna Franca, bei der sie aufgewachsen ist. Simona wusste nicht, dass Franca ein Haus in der Region Marche in Mittelitalien besaß. Dieses Haus in Belmonte ist das renovierte Elternhaus von Franca, mit einem wunderbaren Obst- und Gemüsegarten, das Simona nun erbt. Da sie ohnedies auch Abstand von ihrem Lebensgefährten Sebastian braucht, fährt sie nach Italien. Als sie mehrere Kuverts ohne Absender erhält, auf denen ihre Großmutter ihr Leben erzählt, beginnt sie nachzuforschen.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieses deutsch-italienischen Familienromans stehen die Frauen. Themen sind Familie und ihr Zusammenhalt, die eigenen Wurzeln, Heimat und Auswanderer, eine noch ursprüngliche italienische Gegend und die Liebe. Es geht auch um schwierige Mutter-Tochter-Beziehungen, die sich durch vier Generationen ziehen.

Charaktere

Teresa und ihre Freundin Marta, Franca und ihre Freundin Irma, Marina und ihre Tochter Simona: unterschiedliche Frauen, deren Leben durch vergangene Ereignisse geprägt ist. Es sind einprägsame Figuren und die sympathisch gestalteten Charaktere stehen im Mittelpunkt dieser Geschichte.

Handlung und Schreibstil

Die Familiengeschichte wird in zwei Handlungssträngen erzählt, Simona in der Jetztzeit, unterbrochen immer wieder durch Teresas und Francas Geschichte in der Vergangenheit. Franca erzählt ihr Leben in der Ich-Form. Jedes Kapitel ist mit Zeit- und Namensangabe versehen, das macht die Handlung übersichtlich. Italienisches Flair erhält der Roman vor allem durch die Charaktere und die Schilderungen des Alltags in Belmonte. Denn obwohl auch Landschaft und Natur beschrieben werden, fehlte mir beim Lesen etwas von diesem lebendigen, typischen Italien der Marche, wie ich es kenne. Überraschende Wendungen sorgen für Spannung, allerdings trifft Simona im Laufe der Handlung eine Entscheidung, die für mich im Zusammenhang mit dem Charakter dieser Figur und Details der Ausgangssituation nicht stimmig und nicht nachvollziehbar ist.

Fazit

Ein Generationenroman mit starken Frauen, der von Ereignissen und Schicksalen erzählt, die ein Leben völlig verändern können. Ernste, traurige Erfahrungen wechseln mit humorvollen Episoden ab und Mut, Hoffnung und Liebe machen dieses Buch zu einer angenehmen Lektüre für entspannte Lesestunden.

City of Girls – Elizabeth Gilbert

AutorElizabeth Gilbert
Verlag S. FISCHER
Erscheinungsdatum 27. Mai 2020
FormatBroschiert
Seiten492
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3100024763

„Denn zunächst möchte ich sagen, dass sich das Lily Playhouse von allen Welten, die ich bis dahin bewohnt hatte, ganz und gar unterschied. Es war die elektrisierende Verkörperung von Glamour, Wagemut, Chaos und Spaß – mit anderen Worten, eine Welt voller Erwachsener, die sich wie Kinder benahmen.“ (Zitat Pos. 659)

Inhalt

Vivian Louise Morris wächst behütet und gelangweilt in einer vermögenden Familie auf und sie will auf keinen Fall übergangslos in einer ebenso behüteten Ehe enden. Ratlos schicken ihre Eltern sie 1940 schließlich zu ihrer Tante Peg nach New York. Dieser gehört eine Theaterkompanie in New York City, das Lily Playhouse. Vivian ist neunzehn Jahre alt und im Gepäck hat sie ihre Nähmaschine. Ihre große Begabung und Leidenschaft für Mode machen sie rasch zur kreativen Kostümbildnerin in Pegs Theater. Vivian ist jung und sie will alles vom Leben. Erfahrungen sammelt sie in den wilden Nächten der Clubs und Bars der schillernden Großstadt New York, bis sie durch ihre Gedankenlosigkeit in einen Skandal verwickelt wird und zu ihren Eltern zurückkehren muss. Im Sommer 1942 holt Peg sie zurück nach New York, doch es dauert noch viele Jahre, bis Vivian ihren Weg findet.

Thema und Genre

Dieser Roman, in dessen Mittelpunkt Frauen stehen, ist kein typischer Frauenroman. Es geht um das glitzernde, turbulente Leben im New York der Vierzigerjahre, um die Welt der kleinen Theater, Musik, um Mode und Frauen, die ein unabhängiges, selbst gestaltetes Leben wollen. Auch  Männer, Familie, Freundschaft und die Liebe in allen Facetten sind ein Thema. 

Charaktere

Vivian hält ihre privilegierte, finanziell abgesicherte, Herkunft viele Jahre lang für selbstverständlich. Ihre naive, gedankenlose Ziellosigkeit macht sie als Figur nicht immer sympathisch, erst in den Jahren nach dem Krieg findet sie bewusst zu einem Leben, das sich für sie richtig anfühlt. Peg, Olive, Edna und Marjorie sind großartige Frauenfiguren, facettenreich und immer authentisch.

Handlung und Schreibstil

Es ist Vivian selbst, die 2010 rückblickend ihre Lebensgeschichte in einem Brief erzählt. Sie schreibt ihre Erinnerungen chronologisch nieder, ergänzt durch Details, die sie nicht wissen konnte, aber durch Gespräche mit Beteiligten erfahren hat. Die Handlung ist spannend und interessant. Das Leben im New York der Vierzigerjahre und später in der Nachkriegszeit ist sehr lebendig und wirklichkeitsnah geschildert, besonders auch die Situation der kleinen Theater. Die Seele der Geschichte jedoch sind die tiefen, ehrlichen Frauenfreundschaften und die Lebensfreude, die sich durch die gesamte Handlung zieht. Die Sprache ist humorvoll, beschwingt und angenehm zu lesen.

Fazit

Ein einfühlsam erzählter, charmanter Roman über Frauen, Männer, die Liebe und das Leben, in dem Dinge einfach so passieren, denn „Die Welt folgt keinem Plan“ (Zitat Pos. 6642).

Die Freibeuterin: Das Leben der Natalia Ginzburg – Sandra Petrignani

AutorSandra Petrignani
Verlag btb Verlag
Erscheinungsdatum 16. März 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten640
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442758630

„Sie will keine Erwachsene werden, die lügt. Sie wird die Wahrheit zu ihrem Lebens- und Schreibstil erheben.“ (Zitat Seite 27)

Thema und Inhalt

Schon die Jugendjahre der 1952 geborenen Autorin und Journalistin Sandra Petrignani wurden vom legendären Einaudi-Verlag nachhaltig geprägt, dem von Giulio Einaudi und Leone Ginzburg am 15. November 1933 gegründeten Verlag, der untrennbar auch mit Natalia Ginzburg verbunden ist. In den 1980er Jahren sendet sie daher das Manuskript ihres Romans „Navigazioni di Circe“ an Natalia Ginzburg mit der Bitte um ihre Meinung. Obwohl Natalia ihr erklärt, das Buch nicht verstanden zu haben und daher auch kein Urteil darüber abgeben zu können, bleiben sie in Kontakt.

Die Tatsache, die legendäre Natalia Ginzburg persönlich gekannt zu haben, gibt der nun vorliegenden Biografie einen schwer in Worte zu fassenden Zauber und Tiefe, man spürt die Begeisterung von Sandra Petrignani für diese einzigartige Schriftstellerin und für die bedeutende Zeit der großen Namen der italienischen Nachkriegsliteratur und Ära eines neuen Verlagswesens, das von intellektuellen Persönlichkeiten geprägt war, die nicht nur Verleger und Lektoren waren, sondern auch Schriftsteller, und so mit Begeisterung und Überzeugung ihrer Tätigkeit nachgingen.

Umsetzung

In einer kurzen Einleitung erzählt die Verfasserin dieses Buches, wie sie Natalia Ginzburg kennengelernt hat. Dann beginnt die Biografie mit der Kindheit von Natalia und schildert ihr Leben und diese trotz schwierigster politischer Bedingungen sehr kreative, intensive und kulturell bedeutende Epoche der italienischen Literaturgeschichte im Zeitablauf chronologisch. Sie endet mit dem Tod von Natalia Ginzburg und einem Auszug besonders prägender Aussagen von Freunden und Weggefährten dieser einmaligen Künstlerpersönlichkeit, die sie in Zuge der Recherchen zu dieser Biografie treffen konnte und über persönliche Erinnerungen befragen. Im Anhang findet sich ein chronologischer Überblick mit allen wichtigen Informationen und Daten, eine umfangreiche Bibliografie, Namensverzeichnis und Glossar.

Sandra Petrignani geht in den Wohnungen, im Leben und in den Werken von Natalia Ginzburg buchstäblich ein und aus. In den Zitaten und Hinweisen, wo sie spätere Zusammenhänge auf reale Ereignisse und Wurzeln der Person Natalia findet, bricht sie mit der Chronologie und bewegt sich kreuz und quer durch das Werk der Schriftstellerin, vergleicht die Figuren, die später in den Erzählungen, Romanen und Theaterstücken auftreten, mit den echten Vorbildern in Natalias Leben. Einer dieser wiederkehrenden Eckpfeiler der Recherchen ist das „Lessico famigliare“ (Familienlexikon), der 1963 erschienene, autobiografische Roman von Natalia Ginzburg.

So öffnet Sandra Petrignani neugierig jeweils eine von vielen Türen, sieht sich genau um und beschreibt dann ihre Beobachtungen. Dazwischen nimmt sie sich Zeit für Episoden aus ihren Recherchen, in denen sie Neues erfährt, das ihre Arbeit unterstützt. Dies alles in einer erzählenden Sprache, wie man Natalias Leben einer aufmerksam zuhörenden Freundin schildern würde, was diese Biografie so gut und spannend zu lesen macht.

Fazit

Eine mitreißende Biografie, die lebt und atmet und die Leserschaft direkt in die Räume des Einaudi Verlages führt, wo man Natalia Ginzburgs literarischen Streitgesprächen folgt.  In den Briefen und Dokumenten findet man beim Lesen die verständnisvolle Warmherzigkeit und Lebenserfahrung einer nach außen hin ernsten Frau, von der man sich wünscht, sie persönlich kennengelernt zu haben. So aber macht man sich zumindest auf die Suche nach einigen der in der Bibliografie aufgelisteten Bücher, um damit den Besuch in der Zeit der italienischen Nachkriegsliteratur ausklingen zu lassen.

Jedes Wort ein Fenster / Cada palabra una ventana – Francisco Cienfuegos

AutorFrancisco Cienfuegos
Verlag Klingenberg
Erscheinungsdatum 1. Mai 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten168
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3903284050

„Und es kann nur weitergehen / wenn sich der Fluß, der in dir fließt / in ein Fenster verwandelt“
„Y sólo puede continuar / si el rìo que fluye en ti / en ventana se convierte”
(Gedicht, Seite 69)

Inhalt

Der Autor nennt diesen Gedichtband “Transformaciones – Verwandlungen“. Er schickt uns damit auf eine Reise durch die Sprache und ihre Veränderungen, zu den Eindrücken und Gedanken, zu Bildern, die seine Worte immer wieder neu malen, zu uns selbst.

„Es kann nur / mit dir beginnen – Sólo poede / cominzar contigo“ (Gedicht, Seite 0), mit diesem Satz fängt unsere Reise an, um uns am Buchende mit den Worten „Hemos llegado a la desembocadura de lo invisible, / a partir de aquí sigues tú solo … Wir sind an der Mündung / des Unsichtbaren angekommen, / ab hier gehst du alleine weiter …“ wieder zu entlassen, mit dem Bild des Fensters „y cada / ventana / abierta / un mar – jedes Wort ein Fenster / und jedes / geöffnete / Fenster / ein Meer“ (Gedicht, Seite 1 am Buchende).

Zwischen Beginn und Mündung liegen zweiundzwanzig Gedichte, Spanisch und Deutsch, dazwischen einige Schwarzweißfotografien, welche die Stimmung der Texte aufnehmen. Ein Epílogo in spanischer und ein Nachwort in deutscher Sprache schließen den Gedichtband ab.  

Thema und Sprache

Der Autor spielt mit der Sprache, aus seinen Worten komponiert er Melodien und Bilder. Das Besondere an den deutschsprachigen Gedichten ist, dass der Autor selbst sie geschrieben hat, nicht nur übersetzt, manchmal die Worte umgereiht, wodurch sich auch hier der perfekte Fluss der Sprache, ihre Melodie ergibt, ohne jedoch die einzelnen Aussagen und den Inhalt zu verändern. Bewusst ist der Gedichtband so gestaltet, dass jedes Gedicht auf zwei gegenüberliegende Seiten gedruckt wurde, sodass man beide Versionen direkt vergleichen kann. Ich habe einen kleinen Vorteil, denn durch meine Italienischkenntnisse kann ich auch die spanischen Gedichte gut verstehen, aber die Grundidee hinter dieser zweisprachigen Ausgabe ist es, die Worte und die spanische Sprache zu lesen, auf sich wirken und nachklingen zu lassen, und durch das gegenüberliegende deutsche Gedicht gleichzeitig den Sinn zu erfassen

Themen sind Liebe, Verlust, Einsamkeit, Heimat, Erinnerung, Gefühle, verbunden mit entsprechenden Stimmungen und Vergleichen aus der Natur. 

Fazit

Gedichte zum Nachspüren und Nachdenken, für die man sich Zeit nimmt, sie wirken lässt. Eine Sprache, die beeindruckende Bilder malt, frei, beweglich, in keinen Reim gezwängt. Etwas Besonderes ist diese zweisprachige Ausgabe, da der Autor selbst die Gedichte in beiden Sprachen geschrieben hat, es sich also um keine Übersetzung handelt, sondern es seine Worte sind, die uns anregen, immer wieder Neues zu entdecken.

Labyrinth – Burhan Sönmez

AutorBurhan Sönmez
Verlag btb Verlag
Erscheinungsdatum 2. März 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442758388

„Die Vergangenheit ist wie ein Zug, der in der Dunkelheit verschwindet. Entsinnst du dich nicht, wohin du mit ihm unterwegs warst, an welcher Station du ausgestiegen bist, weißt du auch nicht, wer du bist.“ (Zitat Seite 30)

Inhalt

Nach einem Sprung von der Bosporusbrücke erwacht Boratin Bey im Krankenhaus. Er hat eine gebrochene Rippe und er hat sein Gedächtnis verloren. Er erfährt seinen Namen und seine Adresse, denn er hatte einen Ausweis bei sich. In seiner Wohnung stehen Gitarren, an der Wand hängen Plattencover. Boratin ist Bluessänger, Songwriter und Gitarrist mit einer eigenen Band. Doch er hat auch seine Musik verloren. Sein bester Freund Bek begleitet ihn auf Spaziergängen durch Istanbul, zu seinen früheren Lieblingsplätzen. Auch alleine erkundet Boratin vorsichtig die Stadt, immer auf der Suche nach sich selbst. Nicht wer, sondern was ist dieser im fremde Mensch im Spiegel?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Frage, wie wichtig die Kenntnis um die eigene Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft ist. Themen sind Erinnerung, Freundschaft, Musik und die Stadt Istanbul, die Boratin wie ein Fremder neu erkundet.

Charaktere

Boratin, der der seine Geschichte selbst erzählt, ist achtundzwanzig Jahre alt. Er ist ein beliebter Musiker und die Songs für seine Band Denizalti hat er selbst geschrieben. Nach dem Gedächtnisverlust ist er sich selbst fremd, ohne Vergangenheit hat er auch keine eigene Geschichte. Dadurch hat seinen Mut und Begeisterungsfähigkeit verloren. Er zweifelt an sich, doch stellt sich trotzdem jedem neuen Tag.

Handlung und Schreibstil

Der Autor lässt Boratin, die Hauptfigur, als Ich-Erzähler seine Geschichte selbst schildern. Wir wissen als Leser*innen nicht mehr als Boratin, und folgen ihm chronologisch durch die ersten Tage und Wochen nach dem Aufwachen im Krankenhaus. Durch die Erinnerungen seiner Freunde und Bekannten, besonders seines besten Freundes Bek, erfährt Boratin, was er für ein Mensch war. Nur die wichtige Frage nach dem Warum kann niemand für ihn beantworten. Die Handlung gleicht Momentaufnahmen, der Autor führt uns zu unbekannten Plätzen Istanbuls, zeigt das Leben der Menschen in den Beobachtungen und Gedanken seiner erzählenden Figur. Denn Boratin sieht Istanbul unvoreingenommen, mit neuen Augen, so wie er auch sich selbst jeden Morgen neu betrachtet, ein unbekanntes Gesicht im Spiegel. Seinen Kaffee trinkt er jetzt schwarz, vielleicht mochte er früher Zucker im Kaffee, es ist egal, denn jetzt will er ihn so.

Fazit

Sprachlich beeindruckend schön, ist es eine melancholische Geschichte, aus welcher der Autor uns und seine Figur nachdenklich und mit vielen offenen Fragen entlässt. Vielleicht ist der leise Regen, der eines Abends nach einer langen Zeit der Trockenheit einsetzt, eine Metapher für eine positive Zukunft für Boratin, ein Ausweg aus diesem Labyrinth der Suche nach sich selbst, wir wissen es nicht.

Weltengeher: Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens – David Candeago:

AutorDavid Candeago
Verlag GEOVIS Media
Erscheinungsdatum 22. November 2019
FormatTaschenbuch
Seiten720
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3964434029

„Auf ihre Fähigkeit, aus vertrackten Situationen das Beste zu machen, darauf hatte sie sich immer verlassen können. Auf ihrer Tour rund um die Welt hatte sie mehr als genug solcher Situationen gehabt und sich immer retten können.“ (Zitat Pos. 3258)

Inhalt

Sie heißt Caroline, ist Journalistin und hat vor zwei Jahren eine Auszeit für eine Weltreise genommen, auf der Suche nach echten Erfahrungen und Begegnungen. Sie hat großartige und furchtbare Orte gesehen, viele Gefahren gemeistert, doch jetzt ist sie auf der Flucht. An einem kühlen Abend im März landet sie auf dem Mönchsberg in Salzburg, wo sie mit Blick über die Stadt und den Sternenhimmel übernachten will. Plötzlich bemerkt sie, dass sie hier nicht alleine ist. Josh ist Wahlfranzose, auf dem Weg in sein Haus in Frankreich, während sie zurück nach Hamburg will. Ihre Verfolger spüren Caroline immer wieder auf, und immer wieder taucht Josh auf und hilft ihr. Gemeinsam suchen sie einen Ausweg, die Zeit drängt und Josh bereitet sie auf eine mögliche Konfrontation mit ihrer Vergangenheit vor, aber vollkommen anders, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Doch wer ist dieser geheimnisvolle Josh, kann sie ihm trauen, hat ihre beginnende Liebe eine Chance?

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine ungewöhnliche Mischung aus spannendem Wirtschaftsthriller und einer spirituellen Reise in unterschiedliche philosophische Denkschulen, verbunden durch eine Liebesgeschichte. Thema sind international tätige, mächtige Konzernstrukturen, Philosophie, meditative Sinnsuche, Eigenverantwortung, Mystik und Magie.

Handlung und Schreibstil

„Im Osten begannen die ersten Sterne zu funkeln und erklärten still den Abend für angebrochen.“ (Zitat Pos. 80) Mit diesem einfachen Satz hat der Autor schon auf der zweiten Seite seines Romans meine volle Aufmerksamkeit erreicht.

David Candeago nimmt uns mit auf eine gedankliche Weltreise zu besonderen Orten und bei den lebhaften, anschaulichen Beschreibungen der Natur und der damit verbundenen Stimmungen spürt man sofort, dass er selbst dort gewesen ist.

Die Handlung ist in drei übergeordnete Teile und einzelne Kapitel eingeteilt und wird in zwei Parallelsträngen geschildert. Einerseits führt sie durch die Vielfalt der Philosophie bis zu ihren antiken Wurzeln, deren Fragenstellungen auch heute noch zeitlos aktuell sind. Wir finden alchemistische Elemente, Transzendenz, Meditation, Tarot, Mystik, Magie, ungewöhnlich neu verbunden und interpretiert. Das Verhältnis von Josh und Caroline entspricht in manchen Szenen den Grundgedanken der Transaktionsanalyse. Hier lässt die Handlung während des Lesens Zeit, um kurz innezuhalten, nachzudenken. Doch im zweiten Erzählstrang, einem spannenden Wirtschaftsthriller, entwickeln die Ereignisse einen packenden Sog, der die Handlung wieder vorandrängt und von der ersten bis zur letzten Seite anhält. Die Antwort auf die Frage, wie das alles zusammenhängt, hält eine Reihe von Überraschungen bereit.

Fazit

Dieses Buch ist eine auch in der breiten Vielfalt der Literatur ungewöhnliche Mischung, die neugierig macht und Leser*innen, die sich darauf einlassen, werden nicht enttäuscht. Man verbringt die Zeit nicht nur mit einem spannenden Thriller, sondern erhält gleichzeitig Einblick in die vielschichtige Welt der philosophischen Lehren. Dies regt zum Nach- und Weiterdenken an, lädt ein, Ideen davon für die Erweiterung des eigenen Standpunktes aufzugreifen und schon deshalb wird man dieses Buch noch öfter zur Hand nehmen wollen.

Zwei Wochen im Juni – Anne Müller

AutorAnne Müller
Verlag Penguin Verlag
Erscheinungsdatum 27. April 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3328601098

„Ada betrachtete sich im Spiegel. Der Pullover war an den Ärmeln zu kurz, er passte nicht wirklich. Und irgendwie fühlte sich ihr Leben im Moment genauso an.“ (Zitat Seite 61)

Inhalt

Ada Hoffmann, dreiundvierzig Jahre alt, hat vor vierundzwanzig Jahren das Elternhaus in Gragaard an der Ostsee verlassen, um Kunst zu studieren und lebt jetzt in Hamburg. Toni, ihre drei Jahre ältere Schwester, Studienrätin, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in der kleinen Stadt Ratzeburg. Vor sechs Wochen hatte sich ihre Mutter Nora wie immer abends vor den Fernseher gesetzt, war eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Nun kommen die beiden Schwestern ein letztes Mal nach Gragaard, in das alten Haus am Meer mit dem wunderbaren Garten. Das Haus muss geräumt werden, denn es wird verkauft. Jedes Stück trägt besondere Erinnerungen in sich, die sie nochmals durchleben. Dabei beginnen sie, auch über ihr aktuelles Leben nachzudenken.

Thema und Genre

In diesem Frauen- und Familienroman geht es um Kindheit, Erinnerungen, Familiengeschichte und um die Liebe in allen Facetten. Plötzlich ist nicht nur die Vergangenheit ein Thema, sondern auch mögliche Veränderungen und neue Wege.

Charaktere

In diesem Roman begegnen wir starken Frauen, die, völlig unterschiedlich, doch immer füreinander da sind. Nora, die Mutter, die ihre Karriere als Pianistin beendet hat, als Toni auf die Welt kam, ist die Seele des Hauses in Gragaard, klug, einfühlsam und mit einer großen Liebe zu ihren Töchtern und zu ihrem Garten. Toni schreibt Listen, seit sie schreiben kann, will alles perfekt machen, was dazu führt, dass sie zwischen Job und Familie manchmal auf die Lebensfreude und auf sich selbst vergisst. Ada ist nicht nur optisch das genaue Gegenteil. Sie ist eine kreative Künstlerin, die schon als Kind gemalt hat und lange Zeit das Gefühl hatte, im Schatten ihrer selbstbewussten Schwester zu stehen.

Handlung und Schreibstil

Besonders Ada hängt sehr an diesem Haus, doch auch ihre gestresste Schwester Toni spürt den alten Zauber der Kindheit und Jugend, als sie sich doch Zeit nimmt, die Gegenstände durchzusehen, zu sortieren und auch Unbekanntes über ihre Mutter zu entdecken. Die Geschichte spielt, wie der Titel sagt, innerhalb von zwei Wochen, allerdings unterbrochen durch Rückblenden, die langsam die gesamte Familiengeschichte bis zu diesen Tagen im Juni ergänzen. Die Sprache erzählt einfühlsam, mit feinem Humor und schildert lebendige Bilder in einer positiven Grundstimmung, die aber niemals übertrieben wirkt.

Fazit

Ein poetischer, leiser Roman, der Mut macht, der die Kraft der Erinnerung und den Trost im liebevollen Abschied über die Trauer eines Verlustes stellt. Eine nachdenkliche, aber immer positive Geschichte, die uns ihre sympathischen Figuren und das alte Haus mit seiner Seele und dem wunderbaren Bauerngarten am Meer sofort nahebringt.

Der Konsumkompass – Katarina Schickling: Was Sie wirklich über Plastikverpackungen, Neuseelandäpfel & Co. wissen müssen

AutorKatarina Schickling
Verlag Mosaik
Erscheinungsdatum 27. April 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442178667

„Wir Kunden haben mit unseren Kaufentscheidungen viel mehr Macht, als uns oft bewusst ist. Diese Macht sollten wir nutzen!“ (Zitat Seite 319)

Thema und Inhalt

Dieses Sachbuch beschäftigt sich mit den aktuellen Fragen zur Nachhaltigkeit in allen Konsumbereichen des täglichen Lebens. Die Autorin ist Journalistin und Dokumentarfilmerin und untersucht  seit Jahren die Kernfragen im Zusammenhang mit einem möglichst umweltbewussten Leben. Die einzelnen Hauptthemen sind: Müll, Verkehrsmittel, Energie, Ernährung, Bewusster Konsum.

Umsetzung

Das Buch wird selbstverständlich ohne Schutzfolie geliefert und wurde klimaneutral produziert. Auf dem vorderen inneren Umschlagdeckel befindet sich ein übersichtlich gestalteter Saisonkalender Obst, auf dem rückwärtigen inneren Umschlagdeckel der entsprechende Saisonkalender Gemüse.

Positiv fällt bei diesem Sachbuch auf, dass das Glossar am Anfang des Buches steht.

Jedes Thema ist in einzelne Artikel unterteilt, die sich mit allen wichtigen Fragen und Diskussionen in der Praxis beschäftigen. Forschungsergebnisse werden nicht einseitig erfasst, sondern es werden unterschiedliche Sichtweisen und Studien dargestellt. Alle Zitate werden durch einen Beleglink in der Fußzeile der jeweiligen Seite ergänzt, sodass man sofort sieht, wo vertiefend nachgelesen und nachgesehen werden kann.

Jede Themengruppe schließt mit einer kurzen Zusammenfassung der wichtigsten Fakten ab und ermöglicht so auch ein gezieltes, rasches Nachschlagen zu einem bestimmten Thema.

Dieses Sachbuch gibt einen umfassenden Überblick über Fragen, die sich im normalen Alltag immer dann stellen, wenn man zwischen mehreren Möglichkeiten abwägen muss und überlegt, wie man möglichst nachhaltig konsumiert. So fand ich für mich endlich eine fundierte Gegenüberstellung zur Frage, warum ich auf Rügen Äpfel aus Neuseeland kaufen sollte, oder besser doch nicht.

Das letzte Kapitel stellt die Rolle des Einzelnen eindrücklich den großen, wichtigen Aufgaben der Politik gegenüber: „Dass wir einerseits verstanden haben, dass zur Rettung der Erde auch Verzicht gehören wird und dass wir bereit sind, diesen Beitrag zu leisten. Aber dass wir von unseren gewählten Volksvertretern im Gegenzug erwarten, dass sie die drängenden Probleme angehen. Jetzt.“ (Zitat Seite 317)

Am Buchende sind nochmals die „10 goldenen Regeln für ein nachhaltiges Leben“ zusammengefasst, gefolgt von einer Aufstellung mit weiterführender Literatur.

Fazit

Dieses Sachbuch ist nicht nur interessant und vielseitig, sondern auch angenehm zu lesen, denn die Tipps und Anregungen werden niemals mit erhobenem Zeigefinger gegeben und Alltagssituationen, die wir alle auch schon erlebt haben, schildert die Autorin mit Humor, Verständnis und im lockeren Plauderton. In diesem Konsum-Kompass werden genau recherchierte und geprüfte Fakten, verbunden mit persönlichen Erfahrungen, auch für Laien sehr gut verständlich und nachvollziehbar präsentiert und regen zum Nachdenken und Umdenken an.

Margos Töchter – Cora Stephan

AutorCora Stephan
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 7. Mai 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462052275

„Jeder Mensch hat eine Mutter. Jana Seliger hatte zwei. Eine war ihr nah, obwohl sie fern war, von der anderen wusste sie nur, dass sie von zweifelhaftem Charakter sein musste.“ (Zitat Pos. 32)

Inhalt

Jana Seliger ist erst dreizehn Jahre alt, als ihre Ziehmutter Leonore bei einem Autounfall stirbt. Leonore war erst zweiundvierzig Jahre alt und an den angeblichen Selbstmord kann Jana nicht glauben, bis heute nicht. Inzwischen ist Jana erwachsen und selbst Mutter von Zwillingen. Sie weiß inzwischen, dass sie zwei Mütter hat, Leonore und ihre leibliche Mutter, die sie als Kleinkind bei Leonores Eltern Margo und Henri zurückgelassen hat. Im Herbst 2011 wird ihr Antrag auf Einsicht in die Unterlagen des MfS nach neun Jahren überraschend bewilligt. Obwohl Max, ihr Ehemann, ihr rät, die Vergangenheit ruhen zu lassen, will sie endlich wissen, wer ihre wahren Eltern waren und warum ihre Mutter sie damals im Stich gelassen hat, auch wenn Leonore für sie immer die echte Mutter bleiben wird.

Thema und Genre

Dieser zeitgeschichtliche Familien- und Generationenroman beginnt mit Leonores Jugend in der Aufbruchsstimmung der sechziger Jahre und führt den Leser durch die Zeit des geteilten Deutschland und endet im Jahr 2012. Es geht um Republikflucht und um politische Überzeugungen auf beiden Seiten der Mauer, die auch nach dem Mauerfall fortbestehen. Es geht um Opfer, Familiengeheimnisse und um die Liebe.

Charaktere

Die Frauen der Familie Seliger, Margo, Leonore und Jana sind starke Frauen, doch die unangepasste Leonore, rebellisch und neugierig, prägt die Geschichte der Familie besonders. Auf einem Jugendlager in der DDR trifft sie die selbstbewusste Clara, von der sie sich verstanden fühlt. Längst erwachsen, stehen die beiden Frauen einander wieder gegenüber und Leonore trifft eine Entscheidung, die ihr Leben völlig verändert. Alle Romanfiguren bleiben stimmig und ihre Beweggründe sind nachvollziehbar.

Handlung und Schreibstil

Die Autorin beschreibt die Zeit eindrücklich, in lebendigen Farben, und macht so das Buch zu einer auch zeitgeschichtlich interessanten, spannenden Lektüre, sei es, weil man diese Zeit selbst erlebt hat, aber sicher auch für jüngere Lesergruppen, die hier in Romanform einen vielschichtigen Einblick in das Leben einzelner Menschen in diesen prägenden Jahren erhalten.

Die Handlung wird in mehreren Erzählsträngen abwechselnd erzählt. In Teil I stehen abwechselnd Jana in der Jetztzeit im Mittelpunkt und Leonore in den Jahren 1964 bis 1991, in Teil II wird Claras Geschichte erzählt und Teil III verbindet alle Schicksale. Rückblenden ergänzen die Geschehnisse und bieten auch einige Überraschungen. Ein Personenverzeichnis am Ende des Buches erleichtert den Überblick. Die Sprache schildert einfühlsam und intensiv.

Fazit

Ein zeitgeschichtlicher Generationenroman, ein fesselndes, lebendiges Bild der prägenden Jahre des Aufbruchs, aber auch des Spannungsfeldes zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland. Die vielschichtige, spannende Familiengeschichte mit starken, beeindruckenden Charakteren garantiert Lesevergnügen, das nachhallt.

Was bleibt – Christa Wolf

AutorChrista Wolf
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 1. Oktober 2007
FormatTaschenbuch
Seiten92
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518459164

„Woran mochte es liegen, daß seit einiger Zeit eine jede Wahl, vor die ich mich gestellt sah, nur eine Wahl zwischen schlimm und schlimmer war? Lernte man einfach schärfer sehen mit den jungen Herren vor der Tür?“ (Zitat Seite 57)

Inhalt

Auch an diesem Morgen im März schaut die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin, hinter den Gardinen verborgen, aus dem Fenster ihrer Wohnung in Berlin, Friedrichstraße. Sie rechnet damit, ein Auto zu sehen, doch es ist nicht da. Um Mitternacht war es doch noch da, sie denkt nach, frühstückt und einige Minuten nach neun Uhr, sie spürt es förmlich, sind sie wieder da. Wie würde sie in zehn, zwanzig Jahren an diesen Tag zurückdenken?

Thema und Genre

Geschrieben 1979, überarbeitet 1989, erschienen erst 1990, führte diese Erzählung zu einem heftigen Literaturstreit.

Die Autorin beschreibt an einem Beispiel den Alltag jener Menschen in der DDR, die jahrelang rund um die Uhr von der Stasi überwacht wurden, da sie zu den verdächtigen Personen zählten. Wie geht man mit diesem permanenten Druck um, dessen Kernfrage lautet: „Was wollt ihr eigentlich?“ Wie lebt man damit, Freunde auf der Straße nicht mehr anzusprechen, um sie nicht ebenfalls in Gefahr zu bringen, oder aber von alten Bekannten ohnedies geschnitten zu werden.

Handlung und Schreibstil

Die Ich-Erzählerin ist Schriftstellerin, sie beobachtet, wird beobachtet und führt in dieser Situation intensive Zwiegespräche mit ihrer inneren Stimme, ihrem inneren Begleiter, das Jetzt füllt sich mit kontroversen Gedankendiskussionen. Die Erzählung schildert einen Tag in ihrem Leben, der mit dem Aufstehen beginnt und mit einer Lesung am Abend und zwei Telefonaten nach Mitternacht endet. Ergänzt wird der Ablauf durch Rückblenden in Form von Erinnerungen und Bemerkungen über die sich abwechselnden, nur in der Farbe unterschiedlichen, Bewacherfahrzeuge.

Fazit

Christa Wolf zeigt in dieser intensiven Erzählung die physischen und psychischen Auswirkungen einer permanenten Überwachung auf, die einem Verlust jeglicher Privatsphäre gleichkommt. Ihre gedanklichen Diskussionen mit den Facetten ihres Ich zeigen eindrücklich ihre Zerrissenheit, sowohl dem, was aus der sozialistischen Grundidee in dieser DDR geworden ist, als auch ihrer persönlichen Situation und dem eigenen Verhalten gegenüber. Kernstück ist eine Lesung am Abend des geschilderten Tages und ein Blick auf junge Menschen, die Fragen stellen und Hoffnung für die Zukunft geben. Eine verhältnismäßig kurze Erzählung, die in ihrer vielfältigen Eindrücklichkeit ein zeitlos lebendiges, klares Bild dieser Zeit zeigt.  

Nordlicht – Die Spur des Mörders – Anette Hinrichs

AutorAnette Hinrichs
Verlag Blanvalet Taschenbuch
Erscheinungsdatum 13. April 2020
FormatTaschenbuch
Seiten480
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3734107238

„Es war nur ein winzig kleiner Ausschnitt des Archivs, trotzdem hatte Rasmus das Gefühl, dass der Fall gerade größere Dimensionen annahm als erwartet.“ (Zitat Seite 162)

Inhalt

Ein Toter liegt vor dem bekannten deutsch-dänischen Denkmal beim Alten Friedhof in Flensburg: Karl Bentien, 73 Jahre alt, Pensionist, früher hatte er am Gymnasium Dänisch und Geschichte unterrichtet. Die extreme Brutalität, mit der das Opfer zu Tode getreten worden war, spricht gegen einen einfachen Raubmord und als die ersten Spuren in die Vergangenheit führen, ist klar, dass es sich nicht um ein zufälliges Opfer handelt. Karl Bentien war in Oksbøl, Dänemark geboren, somit ist dies ein neuer Fall für die deutsch-dänische Sondereinheit in Padborn.

Thema und Genre

Dieses Buch ist der zweite Band der Serie „Boisen & Nyborg ermitteln“, ein Kriminalroman aus dem deutsch-dänischen Grenzgebiet. Es geht um Flüchtlinge und Vertriebene, besonders um das Schicksal der Kinder. Ein Thema sind die deutsch-dänischen Beziehungen vom Ende des WKII bis heute, und die Problematik der deutschen Minderheiten in Dänemark.

Charaktere

Die deutsche Ermittlerin Vibeke Boisen arbeitet sehr genau und gewissenhaft, ist pedantisch beim Einhalten der Vorschriften, was ihr manchmal den nötigen Weitblick nimmt. Ihr dänischer Kollege Rasmus Nyborg ist das genau Gegenteil, eigenwillig, unangepasst, verlässt er sich auf sein Gefühl, sucht nach Zusammenhängen und umgeht Vorschriften, wenn sie seine Arbeit blockieren. Gerade diese Unterschiede gestalten die Zusammenarbeit interessant, wenn auch nicht frei von Spannungen.

Handlung und Schreibstil

Der Ablauf der Handlung findet in einem straffen Zeitrahmen statt, was die Ermittlungen nachvollziehbar macht und die Geschichte spannend. Rasmus und Vibeke stehen abwechselnd im Mittelpunkt der einzelnen Kapitel, welche als Überschrift den jeweiligen Handlungsort anzeigen. Einige Rückblicke geben weitere Informationen. Sehr gut beschrieben sind die einzelnen Mitglieder dieses gemischten Ermittlerteams, die unterschiedliche Mentalität, Lebens- und Arbeitsweisen der Dänen und der Deutschen. Der zeitgeschichtliche Hintergrund, der im Zuge der Ereignisse deutlich wird, ist sehr gut recherchiert und ergänzt die Handlung mit interessanten, realen Details. Die flüssig zu lesende Sprache entspricht dem Genre Kriminalroman.

Fazit

Dieser zweite Fall des deutsch-dänischen Ermittlerteams Boisen & Nyborg kann durchaus auch gelesen werden, ohne den ersten Band zu kennen. Eine spannender Kriminalroman mit unvorhersehbaren Wendungen, einem sympathischen Ermittlerteam und einem interessanten, zeitgeschichtlichen Hintergrund.

American Dirt – Jeanine Cummins

AutorJeanine Cummins
Verlag Rowohlt Taschenbuch
Erscheinungsdatum 21. April 2020
FormatTaschenbuch
Seiten560
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3499276828

„Was auch immer geschieht, niemand anders in ihrem Leben wird je die Qualen dieser Pilgerreise verstehen, die Menschen, die sie kennengelernt haben, die Angst, die immer mit ihnen reist, die Trauer und die Müdigkeit, die an ihnen nagen.“ (Pos. 3828)

Inhalt

Sebastián Pérez Delgado ist Journalist und seit zehn Jahren mit der Buchhändlerin Lydia verheiratet. Mit ihrem achtjährigen Sohn Luca führen sie ein glückliches Leben in Acapulco. Bis Sebastián in einem Artikel umfassend über Javier Crespo Fuentes berichtet, einem charmanten, belesenen Mann, der gleichzeitig als Boss des mächtigen Drogenkartells Los Jardineros für unzählige, grausame Morde verantwortlich ist. Was folgt, ist ein Blutbad bei einem großen Fest von Sebastiáns Familie, nur Lydia und Luca können entkommen. Lydia weiß, dass sie so rasch wie möglich so viele Tausende Kilometer wie möglich zwischen sich und Javier bringen muss. Ihre einzige Chance ist der Norden, die US-Mexikanische Grenze.

Thema und Genre

Ausgehend von der Schilderung des mexikanischen Alltags im Schatten der mächtigen Drogenkartelle, ist das Hauptthema dieser Mischung aus Roman und Thriller mit realem Hintergrund die Situation der Migranten aus Zentralamerika. Beschrieben werden die Ursachen und die extrem gefährliche Reise durch Mexiko auf dem berüchtigten Güterzug La Bestia bis zur beinahe unmöglichen illegalen Überschreitung der amerikanischen Grenze. Doch gleichzeitig geht es auch um Menschlichkeit, Hoffnung, Freundschaft und Liebe.

Charaktere

Lydia war glücklich mit ihrem Leben und ihrer gemütlichen Buchhandlung, doch als sie sich der neuen Situation stellen muss, ist sie mutig, erfinderisch, selbstlos und bereit, das Leben ihres Sohnes um jeden Preis zu schützen. Die Flucht lässt dem kleinen Luce keine Zeit, das Erlebte irgendwie zu verarbeiten, dennoch bleibt er auch Kind, lebhaft, hilfsbereit, neugierig, andererseits fühlt er sich als tapferer Beschützer seiner Mutter. Alle Personen der Handlung sind, obwohl fiktiv, glaubwürdig und realistisch beschrieben. In einzelnen Erlebnissen zeigen sich beide Seiten, Menschen in den Dörfern und Städten auf der Route die helfen, und Menschen, die auch auf diesem Weg nicht vor Verbrechen zurückschrecken.  

Handlung und Schreibstil

Das Buch ist ein spannender Roman und Thriller, eine authentische Schilderung der gefährlichen, oft tödlichen Reise der Migranten, die hoffen, auf den Waggondächern von Güterzügen nach el Norte zu kommen, um von dort aus auf ebenso lebensgefährlichen Schleichwegen nach Amerika zu gelangen. Die Geschichte wird in einer personalen Erzählform geschildert, aus der Sicht von Lydia oder auch aus der Sicht von Luca. Die Zeit drängt, dieser straffe Zeitrahmen der Flucht macht die Handlung intensiv, dicht und packend. Die Sprache ist auch in der Übersetzung beeindruckend zu lesen.

Fazit

Die Flucht von Lydia und Luca ist das Kernstück für eine weit größere Geschichte, die verzweifelte, beinahe aussichtslose Reise von Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat verlassen und auf ein besseres, sicheres Leben in Amerika hoffen, ein Land, das gerade Menschen wie sie nicht haben will. Ein intensiv recherchierter, packender, eindrücklicher und einfühlsamer Roman zwischen Angst, Brutalität, Willkür und Freundschaft, Menschlichkeit, Liebe.

Der Wert des Kois – Daniela M. Fiebig

AutorDaniela M. Fiebig
Verlag epubli
Erscheinungsdatum 24. April 2020
FormatTaschenbuch
Seiten324
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3752943986

„Aber so läuft das nicht. Tatsächlich vermischen sich in unseren Erinnerungen reale Ereignisse mit kreativer Eigenleistung.“ (Zitat Seite 223)

Inhalt

Johanna Leisinger ist dreiunddreißig Jahre alt, arbeitet als Illustratorin für ein Unternehmen der Werbebranche, aber ihr Ziel ist es, diese Tätigkeit selbstständig ausführen zu können. Gerade arbeitet sie an einem Auftrag für ein Kinderbuch, „Nanu, der kleine Koi“. Doch der Tod ihrer Mutter, die vor nunmehr sechzehn Jahren bei einem Autounfall gestorben war, blockiert noch immer ihre eigene Entfaltung. Mit Dennis, dem jüngeren Bruder ihres Ex-Freundes Felix, verbindet sie eine tiefe Freundschaft. Als Dennis plötzlich Selbstmord begeht, werfen ihre Selbstvorwürfe und Schuldgefühle sie völlig aus der Bahn. Sie muss unbedingt herausfinden, warum er es getan hat. Doch welchen Preis hat die Wahrheit?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um einschneidende Erlebnisse und die Erinnerungen daran, um Familiengeheimnisse und Verdrängung, um psychologische Hintergründe und um die Frage, wie sehr das Festhalten an der Vergangenheit auch die Gegenwart und Zukunft beeinflusst.

Charaktere

Johanna hat Pläne und Träume für ihr Leben als künstlerisch tätige, unabhängige Illustratorin. Doch ihre Trauer um die Mutter, die sie so früh verloren hat, beeinflusst noch immer ihr Leben. Nach dem Suizid ihres besten Freundes macht sie die Suche nach dem „Warum“ zum Lebensmittelpunkt und sucht verbissen und hartnäckig nach Antworten. Die Figuren dieser Geschichte sind facettenreich und realistisch charakterisiert und handeln nachvollziehbar.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird zeitnah erzählt und durch Rückblenden in Form von Erinnerungen und Gedanken ergänzt. Johanna schildert die Ereignisse in der „Ich-Form. Diese Erzählform wechselt in einzelnen Kapiteln in die personale Erzählform und zeigt Situationen aus der Sicht von Felix oder Sebastian, dem Psychiater. Diese wechselnde Erzählperspektive verleiht dem Text eine zusätzliche Tiefe und Lebendigkeit. Auch eine mögliche neue Liebe fehlt nicht, doch es steht nicht die Romantik im Mittelpunkt, sondern die Suche nach der Wahrheit einer erinnerten Vergangenheit. Die sich gleich Puzzleteilen langsam ergebenden Antworten auf Johannas Fragen, die plötzlich auch ihre eigene Geschichte durch völlig neue Erkenntnisse verändern, machen diesen Roman packend und bringen neue Überraschungsmomente.

Fazit

Ernste Themen und vielschichtige Charaktere, fügen sind hier zu einem spannenden Roman mit Tiefgang für ein intensives Leserlebnis.

Fremdes Licht – Michael Stavarič

AutorMichael Stavarič
Verlag Luchterhand Literaturverlag
Erscheinungsdatum 9. März 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten512
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630875514

„Du bist eine ganze Vergangenheit und eine ganze Zukunft, Elaine, lass es dir niemals nehmen, deine Geschichte zu erzählen, wie sie wirklich passiert ist.“ (Zitat Seite 8)

Inhalt

Im 24. Jahrhundert wird die Erde durch einen Kometeneinschlag vollkommen zerstört. Ein modernes Flugschiff, schneller als die Lichtgeschwindigkeit, ist mit Überlebenden unterwegs zu einem neuen Planeten, mit an Bord die Genforscherin Elaine Duval. Doch die Landung misslingt und Elaine erwacht als offenbar einzige Überlebende in einem Umfeld aus extremer Kälte, grauer Dunkelheit, Schnee und Eis. Doch sie liebt Schnee, Eis und eine Linie ihrer Vorfahren waren Inuit, die in Grönland lebten. Sie gibt dem unbekannten Planeten den Namen Winterthur, nach ihrem letzten Aufenthaltsort in der Schweiz und beginnt, ihn zu erkunden. Plötzlich sieht sie eines Tages Inuit-Zeichen im Schnee. Was ist Einbildung, was ist real?

Thema und Genre

Dieser Roman verbindet die Genre Abenteuer, Science Fiction, Generationengeschichte, Kriminalroman, Biografie und Historischer Roman zu einem stimmigen, fesselnden Ganzen. Themen sind die mögliche Zukunft, Genforschung, unsere Wurzeln durch Erinnerungen an die Vorfahren, Überleben im Eis, Grönlandforscher, Inuit, die Weisheit der Naturvölker, Tradition, die Weltausstellung in Chicago 1893.

Charaktere

Elaine Duval und ihre Vorfahrin Uki „Elaine“ haben vieles gemeinsam: sie haben gelernt, in Kälte und Eis zu leben und überleben und schöpfen aus ihrer Geschichte, den damit verbundenen Erinnerungen und ihren Vorfahren die Kraft, zu kämpfen und nicht aufzugeben. Die Genforscherin Elaine, geboren 2345, wird durch ihren Großvater geprägt, der sie mit dem Wissen und Traditionen der Inuit vertraut macht und dadurch auf ihr Überleben in der eisigen, unglaublichen Kälte und Einsamkeit des neuen Planeten vorbereitet. Uki „Elaine“ im 19. Jahrhundert wird durch die Älteren und die Schamanen ihres Stammes im Überleben unter extremen Bedingungen geschult und durch neues Wissen, als der norwegische Forscher Fridtjof Nansen „Vogelmann“ auf seiner Grönland-Expedition in ihrer Bucht landet.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman besteht aus zwei großen Teilen: Teil I Winterthur und das Ende der Welt, Teil II Grönland und die Weiße Stadt.

In Teil I erzählt die Genforscherin Elaine von den ersten Tagen auf dem neuen Planeten, ist in der Erinnerung wieder mit ihrem Großvater unterwegs, denkt an ihre Kindheit und an ihre Zeit in Grönland, schöpft neue Kraft durch das Wissen und die Traditionen der Inuit. Die Erkundung des fremden Planeten wird zu einer Reise in die Vergangenheit, zur tiefen Verbindung mit ihren Vorfahren. Kälte erinnert an Kälte, Eis an Eis, und das Überleben folgt ähnlichen Kriterien.

Teil II spielt im 19. Jahrhundert und besteht aus zwei Erzählsträngen, dem chronologisch geführten Tagebuch des Forschers Fridtjof Nansen und der Ich-Erzählung von Uki während der Weltausstellung in Chicago, ihre Gedanken und Erinnerungen.

Ergänzt wird die Handlung durch sprachlich beeindruckend intensive Schilderungen, sehr lebendig lesen sich sind die Eindrücke von den Attraktionen der berühmten Weltausstellung aus Sicht einer Inuk.

Fazit

Als einzige Überlebende auf einem fernen, unbekannten Planeten bekommen Elaines Überlegungen zum Universum und zum Ende des Universums eine packende Eigendynamik, die auf den Leser übergeht. Eine großartiger Roman, der sich in seiner Vielschichtigkeit nur schwer beschreiben lässt – ein dichtes, sehr intensives und  spannendes Leseerlebnis.

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