Englein, Mord und Christbaumkugel: Kriminelle Weihnachten – Manfred Baumann

AutorManfred Baumann
Verlag Gmeiner-Verlag
Erscheinungsdatum 7. Oktober 2020
FormatTaschenbuch
Seiten252 Seiten
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3839227114

„Ich bin garantiert nicht als ständig einsatzbereiter Kripochef hier, versuchte er sich zu beruhigen. Offenbar will das Kind in mir sich von diesem Zauber ringsum berühren lassen.“ (Zitat Pos. 95)

Inhalt

Es sind drei Geschichten aus dem weihnachtlichen Salzburg und Umgebung und sie haben eines gemeinsam: die schöne, fröhliche Weihnachtsstimmung wird durch eine sehr böse Tat gestört. Im Mittelpunkt steht jeweils ein Mitglied des Ermittlungsteams von Kommissar Merana: den ersten Fall untersucht Kommissar Merana, den zweiten Fall bearbeitet Chefinspektorin Carola Salman und für den dritten Fall ist Abteilungsinspektor Otmar Braunberger zuständig.

Thema und Genre

Dieser weihnachtliche Kriminalroman mit Regionalbezug spielt in Stadt und Land Salzburg. Stimmungsvolle Schilderungen von Weihnachtsmärkten und interessantes Wissen über die traditionellen Bräuche wie Glöckler, Herbergsuche und Krippenspiele ergänzen die mörderischen Ereignisse.

Handlung und Schreibstil

Süßer die Glocken nie bimmeln

Durch die Fenster der Orangerie des Schlosses Hellbrunn leuchtet der weihnachtlich geschmückte Park. Doch der Mann, der in der Mitte des Raumes liegt, kann sich daran nicht mehr erfreuen und mitten im stimmungsvollen Glöcklerlauf ertönt ein schriller Schrei. Gerade noch hatte Kommissar Merana entspannt Weihnachtslieder mitgesummt, doch nun ist er im Dienst.  

„Eine wenigstens halbwegs erfolgversprechende Spur sah anders aus. Eine solche war bisher weit und breit nicht auszumachen. (Zitat Pos. 451)

Englein, Mord und Christbaumkugel

Notburga Englein ist Privatdetektivin und als ihr die Stelle als Warenhausdetektivin im mega-spleshigen Einkaufszentrum angeboten wird, sagt sie sofort zu. Dem freundlichen Manager ist ihr Name aufgefallen und er ist überzeugt, sie passt gut in das vorweihnachtliche Team. Doch plötzlich ist Englein die Hauptverdächtige in einem Mordfall und Chefinspektorin Carola ermittelt.

„Es war auch zu absurd. Vor nicht einmal einer Stunde hatte sie mit ihrer Tochter Weihnachtslieder geträllert und entzückende Zeichnungen in einem Bilderbuch bewundert – und jetzt stand sie einer Verdächtigen gegenüber, die ausgerechnet Englein hieß.“ (Zitat Pos. 1283)

Wer klopfet an?

Eine kleine Nachtschwalbe, die sich eigentlich im Herbst auf den Weg nach Afrika hätte machen sollen, wird durch eine Gruppe Anglöckler aufgestört. Singend machen sie in den Abendstunden dieses ersten Anglöckler-Donnerstags die Runde zu den einzelnen Höfen. Doch in einem der Anwesen werden sie nicht so erwartet, wie es üblich war. Hier hatte bereits jemand angeklopft, doch es wurde kein Herbergslied gesungen.

„Allerorts eine festliche, friedliche Stimmung. Freude auf allen Seiten. Nur er muss sich mit einem brutalen Mord beschäftigen. (Zitat Pos. 1941)

Fazit

Dieses Buch mit drei weihnachtlichen Kriminalfällen, die in der schönen Stadt Salzburg und Umgebung spielen, führte mich zurück in meine Kindheit in Salzburg und sofort habe ich mich an die beschriebenen Bräuche erinnert und die Lieder kenne ich immer noch. Ein sympathisches Ermittlerteam und treffend und humorvoll geschilderte Hauptfiguren ergänzen die Kriminalfälle und ihre Hintergründe zu einem unterhaltsamen, angenehmen vorweihnachtlichen Leseerlebnis.

Todesfalter – B.C. Schiller (David Stein 7)

AutorB.C. Schiller
Verlag Edition M
Erscheinungsdatum 20. Oktober 2020
FormatTaschenbuch
Seiten267 Seiten
SpracheDeutsch
ISBN-13978-2496703832

„Die Vergangenheit holt mich immer wieder ein, dachte David und spürte mit einem Mal die aufputschende Wirkung des Adrenalins, die er so lange verleugnet hatte.“ (Zitat Pos. 210)

Inhalt

Der Hundeflüsterer David Stein lebt mit Leyla Khan auf Mallorca und hat mit seinen Einsätzen als ehemaliger BND Agent abgeschlossen. Doch dann bittet ihn Hanna Svenson, die Schwester seiner vor zehn Jahren bei einem Attentat ums Leben gekommenen ersten Frau Jana verzweifelt um Hilfe. Maja, ihre Tochter, arbeitet für Safe World, eine internationale Umweltorganisation, und hat zusammen mit ihrem Freund Jonas brisante Beweise gegen das Unternehmen FuturX in Riga gesammelt. FuturX entwickelt Nuklearbatterien für Elektroautos, unter Verwendung von hoch radioaktiven Brennstäben. Nun ist Jonas tot, ermordet, und Maja auf der Flucht vor Geheimdiensten und noch weit gefährlicheren Gegnern. In wenigen Tagen soll die EU-Zulassung für die Elektrofahrzeuge von FuturX erfolgen und nur Maja kann dies noch verhindern. Doch dazu muss David sie erst sicher und rechtzeitig aus Riga nach Les Deux Alpes bringen.

Thema und Genre

In diesem Thriller, dem Band 7 um den Ex-BND Agenten David Stein, geht es um das große Geschäft unter dem Deckmantel des Umweltgedankens, um Forschung, Umweltschutz, Politik und Geheimdienste.  

Charaktere

David Stein und Leyla Khan freuen sich auf ihr erstes Baby, und doch kann er sich ein dauerhaft ruhiges Leben als Hundeflüsterer noch nicht wirklich vorstellen. Er sagt sofort zu, Maja zu helfen. Maja ist eine sehr mutige, entschlossene junge Frau, die diesen gigantischen Umweltskandal auch unter Einsatz ihres Lebens an die Öffentlichkeit bringen will. Auch die weiteren Protagonisten wie Leyla, Robyn, die IT Spezialistin des BND, die David von früher kennt, sowie der geheimnisvolle „Nachtfalter“, sind mit ihrer persönlichen Geschichte, ihren Eigenheiten und Handlungsweisen sehr gut und stimmig entwickelt.

Handlung und Schreibstil

Der straffe Zeitrahmen sorgt durchgehende Spannung, die unterschiedlichen Orte der Handlung von Riga über Berlin und Genf bis in die französischen Alpen machen, wie auch das brisante, aktuelle Thema, die Geschichte sehr interessant. Zusätzliche Spannungsmomente bringen die Ereignisse rund um den Besuch von Leyla in Beirut, der parallel zu Davids Einsatz stattfindet. Die Sprache ist so rasant und packend zu lesen, wie man es sich in diesem Genre erhofft.

Fazit

Ein brisantes, aktuelles Thema, ein Thriller mit einer sehr spannenden, aber realistischen und glaubhaften Handlung, dazu sympathische Charaktere: dies ergibt in der Summe ein sehr packendes, überzeugendes Lesevergnügen.

Zorn und Stille – Sandra Gugić

AutorSandra Gugić
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 5. August 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3455009767

„Wenn du mittendrin in einer Geschichte steckst, ist es noch keine Geschichte, mehr ein Getöse, ein Rauschen. Es beginnt erst eine Geschichte zu werden, wenn du sie jemandem erzählst. (Zitat Pos. 49)

Inhalt

Biljana Banadinović, Künstlername Billy Bana, ist vierzig Jahre alt und eine bekannte Fotografin. Im Grunde hasst sie das Reisen, hält es jedoch nie lange an einem Ort aus. Als Kind einer Gastarbeiterfamilie wächst sie in Wien auf. Schon seit sie siebzehn Jahre alt ist, führt sie ihr eigenes Leben und hat wenig Kontakt zu ihrer Familie. Nun ist der Vater verstorben und seine Anordnungen sind klar: er will in seinem alten Heimat in Serbien begraben werden. Die Reise nach Belgrad wird für Billy eine Erinnerungsreise in die Vergangenheit, denn ihr jüngerer Bruder Jonas Neven ist 2003 während einer Reise durch die neuen Länder Jugoslawiens spurlos verschwunden.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um Heimat, Herkunft, Identität, Kindheitserinnerungen, um die Problematik, in mehreren Ländern zu Hause und gerade deshalb nicht wirklich zu Hause zu sein, um Verlust, Trauer, um Familie und Beziehungen und um die Suche nach dem eigenen Platz in diesem Gefüge. Themen sind auch die Situation der frühen Gastarbeiterfamilien und der Zerfall des ehemaligen Staates Jugoslawien.

Charaktere

Als der Vater Billy seine Leica schenkt, weiß sie, dass sie Fotografin werden will. Sie sieht Momente und Situationen immer in Bildern, nicht alle fotografiert sie, sondern speichert sie in ihren Erinnerungen. In einer lockeren Beziehung mit der Galeristin Ira Goldfarb, ist Billy eine rastlos Reisende, die nie sesshaft wurde und von sich selbst vermutet, immer gerade dort glücklich zu sein, wo sie nicht ist. Eine gerade wegen ihrer Ecken und Kanten sehr sympathische Hauptfigur.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in vier großen Abschnitten erzählt, wobei Billy in Teil I und IV die Ich-Erzählerin ist, während in Teil II ihre Mutter Azra im Mittelpunkt steht und in Teil III ihr Vater Sima. Die jeweils aktuellen Handlungsstränge umfassen unterschiedliche Zeitpunkte, Billy 2016 und 2018, Azra 2008 und Sima 1999 und werden nochmals von Erinnerungen unterbrochen und durch Rückblicke ergänzt. Der Prolog am Anfang des Buches schließt den Kreis in die Jetztzeit. Durch diese Schreibweise ergibt sich eine interessante, abwechslungsreiche und vielschichtige Familiengeschichte, die man gespannt miterlebt. Die in diesen Jahren wichtigen Ereignisse und die politischen Hintergründe ergänzen die Handlung. Die Sprache beschreibt lebhaft, schildert einfühlsam, die Bilder vor Billys Augen haben auch wir beim Lesen sofort vor Augen.

Fazit

Ein intensiver, großartig erzählter Roman einer Familie, der die wichtigen Fragen der heutigen Zeit aufgreift, die Träume jeder Generation und die Suche nach dem eigenen Platz im Leben. Ein beeindruckendes Leseerlebnis, das mich begeistert hat.

Mäuseköttel: … und andere durchaus ernsthafte Erzählungen – Maria Charlotte Wulff

AutorMaria Charlotte Wulff
Verlag Mövenort Verlag
Erscheinungsdatum 15. März 2020
FormatTaschenbuch
Seiten192
SpracheDeutsch
ISBN-13ISBN-13: 978-3981895544

„Dass das gute Stück eines Tages, ohne sein granadarotes Dach, als Blumenkübel im Vorgarten eines Einfamilienhauses im Rostocker Speckgürtel landen würde, dieser Anblick blieb der langjährigen Besitzerin erspart. Er hätte geschmerzt. Verrückte Zeiten!“ (Zitat aus CVM – Claudias Volks-Mercedes, Seite 97)

Inhalt und Thema

Dieser Erzählband umfasst sechzehn Geschichten, die zwischen 1979 und 2019 spielen, immer irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern, oder mit einem Bezug dazu. Es geht um Ost, West und um den Übergang in ein gemeinsames Deutschland, um Verlust und Neubeginn. Vor allem jedoch geht es um die Menschen und manchmal steht auch ein legendäres Auto im Mittelpunkt. Ansprechende, mit leichter Hand skizzierte Illustrationen ergänzen die Texte und stammen, wie auch das Cover, von der Rostocker Innenarchitektin und Designerin Peggy Kastl.

Handlung und Schreibstil

Es sind Alltagsgeschichten, die hier erzählt werden. In der DDR hofft im Dezember 1979 eine Mutter auf Apfelsinen, die jedes Jahr auf den bunten Weihnachtsteller gehören. Im Dezember 2019 reist die Autorin mit ihrem Ehemann nach Potsdam, beobachtet und beschreibt das Heute, verknüpft es mit den Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend in Schwerin und besucht dann zum ersten Mal die russische Kolonie Alexandrowka, die so ganz anders ist, als sie es sich früher vorgestellt hatte. Eine Geschichte führt zurück in das Jahr 1991, die Währungsumstellung und ihre Folgen, die Treuhandgesellschaften und westliche Firmen auf Einkaufstour. Den Titel erhält dieses Buch von der Geschichte einer alten Dame, Kunsthistorikerin, die mit ihrem Testament das künstlerische Gesamtwerk ihres verstorbenen Ehemannes, eines bekannten Malers, erhalten will und die ehrwürdige Villa seit Jahrzehnten mit hartnäckigen Mitbewohnern teilt. In „Westreise“ besucht im  September 1987 eine junge Frau aus Schwerin ihren alten Onkel im Westen und muss feststellen, dass auch im Westen nicht alles Gold ist, was glänzt. In der nachfolgenden, vorletzten, Erzählung unternimmt ein älteres Ehepaar aus einem Dorf in Mecklenburg, in dem er, wie vermerkt wird, als Wessie trotz seiner Ostfrau nie dazugehören eine Kurzreise nach London – im März 2019, wenige Tage vor dem Brexit-Termin.

Die kurze letzte Geschichte bringt es auf den Punkt, vereint die beiden Welten vom 4. November 1989 und 4. November 2019, als in einer Radiosendung ein Kind nach dem ‚Warum‘ fragt, ‚warum war die DDR gemein zu den Menschen‘ und von der Journalistin keine Antwort erhält, weil die Sendezeit beinahe zu Ende war. Die Autorin hätte eine Antwort  gewusst. „Vier Minuten hätten also ausgereicht, um zu differenzieren.“ (Zitat Seite 184)

Fazit

Es sind vielschichtige Geschichten, die einfühlsam, ernst oder heiter, mit einem feinen Humor, die genauen Beobachtungen der Menschen in den Jahren zwischen damals und heute widerspiegeln. Ein Buch für angenehme Lesestunden zum Nachdenken, Erinnern, oder, für Zugezogene wie mich, eine Wienerin auf Rügen, eine interessante Möglichkeit, Mecklenburg-Vorpommern und seine Menschen besser zu verstehen.

Die Knochennadel – Andreas Gruber, Peter Hogart ermittelt 3

AutorAndreas Gruber
Verlag Goldmann Verlag
Erscheinungsdatum 14. September 2020
FormatTaschenbuch
Seiten608
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442490714

„Du hast dich soeben einer geplanten Festnahme widersetzt und bist mit einer nicht registrierten Waffe abgehauen. Und das im Ausland.“ (Zitat Seite 236)

Inhalt

Der Versicherungsdetektiv Peter Hogart ist privat in Paris. Zusammen mit seiner Nichte Tatjana, 19 Jahre alt, begleitet er seine Lebensgefährtin, die Kunsthistorikerin Elisabeth Domenik. Diese leitet als Auktionatorin in der Opéra Garnier eine exklusive, nicht öffentliche Auktion einer höchst wertvollen mittelalterlichen Knochennadel aus Privatbesitz. Zur Versteigerung selbst wird aus Sicherheitsgründen nur eine Kopie gezeigt. Anschließend holt Elisabeth das Original aus dem Tresor. Doch einen Augenblick später ist sie spurlos verschwunden und mit ihr der wertvolle Kunstgegenstand. Hogart beginnt sofort mit der Suche nach Elisabeth, recherchiert die Hintergründe, forscht nach Zusammenhängen. Doch jemand ist ihm immer einen Schritt voraus und statt auf Gesprächspartner trifft er auf Tatorte …

Thema und Genre

In diesem Thriller und dritten Fall für den Wiener Privatdetektiv Peter Hogart geht es um den internationalen Kunstmarkt und wertvolle Antiquitäten. Auch psychologische Hintergründe spielen eine Rolle.  

Charaktere

Peter Hogart muss unter extremem Zeitdruck einen Fall lösen, der zunächst mehr Rätsel als Antworten bietet. Gleichzeitig muss er auch seine Nichte Tatjana beschützen. Bald steht er selbst unter Verdacht, doch aufgeben kommt für ihn nicht in Frage. Tatjana spielt Bass in einer Mädchen-Punkband, macht gerade an der Polizeischule Wien ihre Ausbildung und besteht darauf, bei ihrem Onkel in Paris zu bleiben, um ihn bei seinen Recherchen zu unterstützen. Der Autor nimmt sich Zeit für die einzelnen Charaktere, jede seiner Figuren ist speziell und sehr treffend entwickelt.

Handlung und Schreibstil

Die facettenreiche, packende Handlung spielt in Frankreich und zwar in Paris, Versailles, Le Havre, an der Cote D’Azur und in Monaco. Der extrem knappe Zeitrahmen zwischen 14. und 19. September ergibt sich aus den Ereignissen und strafft die dichte Handlung, welche dadurch noch spannender wird. Parallel zum aktuellen Geschehen verläuft eine zweite Geschichte, welche fünfzehn Jahre vorher beginnt und ebenfalls chronologisch erzählt wird. Auch wenn man beim Lesen Zusammenhänge vermutet, halten überraschende Wendungen die Spannung aufrecht. Die genauen Beschreibungen der Handlungsorte führen uns beim Lesen direkt nach Paris und in die Kunst- und Antiquitätenszene. Diese Ausführlichkeit behält der Autor auch bei den Schilderungen der Tathergänge bei, hier merkt man, dass er auch im klassischen Gothic-Genre zu Hause ist.

Fazit

Ein interessanter, dichter und intensiver Thriller. Eine überzeugende, glaubhafte Geschichte, mit einigen sehr realistischen, heftigen Details, aber auch mit einer guten Prise lockerem Humor packend erzählt.

Hotel der Schlaflosen – Ralf Rothmann

AutorRalf Rothmann
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 12. Oktober 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten200
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518429600

„Aber am besten verstehen wir es, feine Klingen zu machen, schön graviert. Manche Messer, die man im Ärmel trägt, sind schmal wie Bleistifte und so unglaublich spitz und scharf: Man spürt sie erst kaum, hat nur ein kleines unbehagliches Gefühl.“ (Zitat aus „Der Dicke Schmitt“, Seite 88)

Inhalt und Thema

Dieser Erzählband umfasst elf Geschichten, in denen es um Menschen und jenen kleinen Augenblick geht, in dem eine Entscheidung gefällt wird. Diesem Moment ordnen sich alle nachfolgenden Ereignisse unter. Es sind gefährliche Situationen, plötzliche Ereignisse, in denen das Handeln Mut erfordert, oder scheinbar ausweglose Momente, und immer besteht eine Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten.

Handlung und Schreibstil

Der Autor lässt in einer klaren, verständlichen, aber niemals überflüssig erklärenden Sprache seinen Figuren immer die freie Wahl der Entscheidung und des Handelns. Einige der Geschichten sind beklemmend und düster, doch auch hier gibt es mehrere Möglichkeiten, selbst ein Kind nach einer harten Kindheit im Elend könnte es im Erwachsenenleben anders machen und ein Genosse Major kann umdenken, auch wenn er riskiert, dann vom Täter selbst zum Opfer zu werden. Es sind Erzählungen über mutiges und weniger mutiges Verhalten und darüber, sich bietende Chancen zu ergreifen. Eine Geigerin vor dem Konzert, deren Problem nicht nur eine gerissene Seite und die Ersatzseiten im Hotel sind, fragt sich bei der Fahrt durch die Gegend, wo sie aufgewachsen ist „Wie viele Erinnerungen haben zwischen zwei Herzschlägen Platz?“ (Seite 16) und in der letzten Geschichte stellt der Protagonist mit Erstaunen fest, dass die Erinnerungen im Alter zu einer eigenen, völlig neuen Realität werden können.

Fazit

Elf Erzählungen, elf Situationen und elf Entscheidungen, die uns beim Lesen nachdenklich stimmen, noch lange nachklingen mit der Frage, was wir in einem ähnlichen Fall tun würden oder vielleicht getan hätten.

NEBEL – Ragnar Jónasson, Die HULDA Trilogie, Band 3

AutorRagnar Jónasson
ÜbersetzerAndreas Jäger
Verlag btb Verlag
Erscheinungsdatum 21. September 2020
FormatBroschiert
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442758623

„Immerhin, jeder kleine Sieg verschaffte ihr eine gewisse Befriedigung. Wenigstens konnte sie selbst stolz darauf sein, gute Arbeit geleistet zu haben, auch wenn es sonst niemand erwähnenswert fand.“ (Zitat Seite 329)

Inhalt

Dieses Weihnachten 1987 im kalten, tief verschneiten Island verändert das Leben von Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, unwiderruflich. Doch es ist ihr wichtig, nach einem Sonderurlaub rasch in ihren Beruf zurückzukehren. Ihr Chef betreut sie mit einem sehr speziellen neuen Fall. Die Bewohner eines einsamen Bauernhauses im abgelegenen Osten Islands, ein altes Ehepaar, wurden tot aufgefunden. Sie waren nicht friedlich verstorben und es musste bereits während der Weihnachtstage passiert sein. Gleichzeitig lässt Hulda das nach wie vor ungeklärte, spurlose Verschwinden einer jungen Frau während der Sommermonate keine Ruhe.

Thema und Genre

In diesem Thriller, dem dritten und letzten Band der Serie um die Ermittlerin Hulda geht es um Familie, Verlust, Schuld und Verantwortung. Auch psychologische Elemente spielen eine wichtige Rolle.

Charaktere

Hulda muss mit einem persönlichen Schicksalsschlag fertig werden, für den sie sich mitverantwortlich fühlt. Teilweise sind ihre Gedanken dadurch abgelenkt, gerade deshalb übernimmt sie diesen neuen Fall bewusst und vertieft sich in die Ermittlungen. Sie ist eine sehr genaue, erfolgreiche Kriminalbeamtin, doch sie weiß auch, dass sie mit ihren vierzig Jahren beruflich wesentlich weiter wäre, wäre sie in Mann. Umso mehr ist sie entschlossen, immer einfach ihr Bestes zu geben.

Handlung und Schreibstil

Die Ereignisse werden in zwei paralellen Geschichten geschildert, die in den Weihnachtstagen 1987 und Februar 1988 spielen. Ein ergänzender dritter Handlungsstrang führt zurück in den Sommer 1987. Der Winter in Island ist düster und kalt und gerade deshalb sind die Traditionen des Weihnachtsfestes für die Menschen so wichtig. Doch in diesen gemütlichen Beschreibungen über das typische Festessen und Bücher, die als Geschenk unbedingt zu einem isländischen Weihnachtsfest gehören und die man auch sofort mit Vorfreude zu lesen beginnt, schwingen rasch Beklemmung und Ängste mit. Vermutungen ergeben sofort einen besonderen Sog in diese packende Geschichte und überraschende Wendungen sorgen für zusätzliche Spannung. Der Autor spielt mit der Sprache und fängt die unterschiedlichen Stimmungen eindrücklich ein und versetzt uns beim Lesen sofort in das einsame winterliche Island.

Fazit

Weihnachten im kalten, tief verschneiten Island wird besonders gemütlich und traditionell gefeiert, doch manchmal trügt der Schein und was zuerst in der Dunkelheit nur mitschwingt, tritt immer deutlicher hervor. Ein vielschichtiger, sehr spannender Nordic Noir Thriller, ein gelungener Höhepunkt zum Abschluss dieser Serie. Auch die gewählte Form, diese Trilogie im Zeitablauf rückwärts zu erzählen ist ebenso ungewöhnlich wie genial und packend, ich würde, obwohl nun ja alle drei Bände erschienen sind, genau die vom Autor gewollte Reihenfolge DUNKEL – INSEL – NEBEL einhalten.

Ich an meiner Seite – Birgit Birnbacher

AutorBirgit Birnbacher
Verlag Paul Zsolnay Verlag
Erscheinungsdatum 9. März 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3552059887

„Er braucht einen schönen, gerade Lebenslauf. Nicht übertrieben ausgeschmückt, darum geht es nicht, aber etwas, das ihn auf den normalen Weg führt.“ (Zitat Pos. 1746)

Inhalt

Arthur Galleij ist zweiundzwanzig Jahre alt, als der die JVA Gerlitz als freier Mann verlässt. Er wusste, dass ihn niemand erwarten würde, doch da irrte er. Grazetta, eine alte Dame mit einem bewegten Leben, die er in der Palliativresidenz seiner Mutter in Spanien kennengelernt hatte, ist nun hier in Wien, um auf ihn aufzupassen. Dies will auch der Therapeut Doktor Konstantin Vogel, genannt Börd, der Gesellschaftswissenschaften studiert hatte, auf Grund seiner eigenwilligen Arbeitsweise jedoch arbeitslos wurde. Bettina Bergner hat ihn, ihren ehemaligen Professor, als Mitarbeiter in ihr Projekt geholt, eine neue Form der Therapie für Haftentlassene. Einen vorübergehenden Platz in einer speziellen WG hat Arthur, doch er braucht dringend einen Job. Rasch erkennt er, dass er dazu einen etwas korrigierten Lebenslauf benötigen würde.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Träume, Verluste, Ereignisse, die Menschen aus der Bahn werfen können, um die reale Härte im Strafvollzug, Bewährungshilfe, Resozialisierung, Vorurteile und mögliche neue Chancen. Auch der schöne Schein des angepassten, daher perfekten Menschen, der in unserer modernen Gesellschaft so wichtig ist, ist ein Thema.

Charaktere

Arthur ist ein intelligenter, aber sehr ruhiger junger Mann. Er beobachtet und versucht, das gesellschaftliche System zu verstehen. Im Grunde sollte es für einen Menschen wie ihn nicht schwierig sein, Arbeit zu finden, doch nicht als Haftentlassener. Er erkennt, dass keine gesellschaftliche Beschönigung ihm helfen kann, sondern „einzig und allein ich an meiner Seite.“

Handlung und Schreibstil

Nach einer kurzen Einleitung, ein Morgen in der Jetztzeit, beschreibt die aktuelle Handlung die Ereignisse zwischen Juni 2010 und Juni 2011. Parallel dazu wird in Rückblicken Arthurs Kindheit und Jugend erzählt, ergänzt durch Arthurs eigene Erinnerungen. Das Schicksal dieser Hauptfigur, die untypisch in diese Lage geschlittert ist, wird lebendig, einfühlsam, aber auch unverklärt und realistisch geschildert. Obwohl Arthur jung ist, scheint er, ebenso wie Börg und Grazetta, etwas aus der Zeit gefallen, und man schließt diese Figuren mit allen ihren Schrullen und speziellen Eigenheiten rasch ins Herz. Die Sprache erzählt klar, gerade und eindrücklich.

Fazit

Ein ernster, nachdenklicher und gleichzeitig humorvoller Roman. Diese Geschichte über die Realität eines Alltags mit einem Gefängnisaufenthalt im Lebenslauf überzeugt auch durch die einnehmende Hauptfigur.

Wintermeer und Dünenzauber – Tanja Janz

AutorTanja Janz
Verlag HarperCollins
Erscheinungsdatum 22. September 2020
FormatTaschenbuch
Seiten320
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3959675512

„Vorsichtig schwenkte sie das Glasgefäß hin und her und roch nach einer Weile an der Mischung. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. So rochen Agatha-Christie-Bücher für sie.“ (Zitat Pos. 2060)

Inhalt

Nach drei Jahren Gran Canaria kehrt Jana im November die Nordsee zurück. In ihrem Heimatort St. Peter-Ording eröffnet sie gemeinsam mit ihrer Freundin Pütti einen Wohlfühlladen. Pütti ist für das Backen von speziellen Kuchen, Keksen und für die köstlichen wärmenden Getränke zuständig. Jana mischt wie schon in Spanien ganz besondere Düfte, wohltuende Kräuteröle und erzeugt auch die entsprechenden Seifen und Duftkerzen. Auf der anderen Straßenseite liegt der Bücherladen „Bookbantje Truels“ von Ayk Truels, in den sie in der Schulzeit heimlich verliebt war. Bücher und Düfte – passt das zusammen?

Thema und Genre

In diesem Wohlfühlroman geht es um Freundschaft, Familie, Kräuterwissen, die raue Schönheit der Nordsee im Winter und natürlich um die Liebe.

Charaktere

Jana und Pütti sind schon seit der Kindheit beste Freundinnen und so unterschiedlich sie sind, eines haben sie gemeinsam: sie wissen, was sie wollen, sind zielstrebig, kreativ und können zupacken. Probleme sind dazu da, um gelöst zu werden.

Handlung und Schreibstil

Die gemütliche Geschichte spielt im Winter an der Nordsee. Die Ereignisse, in deren Mittelpunkt die beiden Hauptfiguren und ihr neuer Laden stehen, werden durch Janas Erinnerungen an ihre Oma ergänzt. Beim Lesen träumen wir uns in das romantische St. Peter-Ording zur Weihnachtszeit. Die lebhaften Schilderungen der Handlungsorte und Landschaften und die treffend beschriebenen Personen zaubern uns rasch die entsprechenden Bilder in die Gedanken. Die Sprache ist flüssig und angenehm zu lesen und entspricht dem Genre.

Fazit

Ein lockerer, gemütlicher Wohlfühlroman, der uns bei Tee und Kerzenschein zum Lächeln bringt. Perfekt für kuschelige Lesestunden in der Vorweihnachtszeit.  

Aus der Zuckerfabrik – Dorothee Elmiger

AutorDorothee Elmiger
Verlag Carl Hanser Verlag
Erscheinungsdatum 17. August 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3446267503

 „Wenn ich meine Hefte und Kopien durchblättere, die Abbildungen, Schemata und Fotografien, wenn ich die im Verlauf der vergangenen Monate erstellten Dateien öffne, sehe ich keinen Pfad, keine sich an den Rändern überlagernden, aufeinander hinweisenden Bilder, Illuminationen, sondern einen Platz, einen Punkt, von dem ich vor vier oder fünf Jahren ausgegangen bin; seither habe ich alles, was mir in die Hände fiel, alles, was ich so sah, das in einem Zusammenhang mit diesem ersten Ort zu stehen schien, dorthin zurückgetragen und vorläufig abgestellt auf diesem weitläufigen Platz.“ (Zitat Pos. 45)

Inhalt

Eine Ich-Figur, Schriftstellerin, sieht einen Dokumentarfilm über den ersten Schweizer Lottomillionär Werner Bruni und eine Szene, eine Versteigerung, ist einer der Auslöser für viele Fragen, die sich daraus ergeben. Der symbolische Gang durch ein Gestrüpp, am Beginn und am Ende des Buches steht für die immer neuen Verästelungen und Themen, die in Fragmenten auftauchen, durch neue Gedankenverbindungen unterbrochen und dann später irgendwann weitergeführt werden. Daraus ergibt sich ein vielfältiges Mosaik aus Themen und Fragen unserer Gesellschaft und Zeit.

Thema und Genre

An einer Stelle des Buches stellt die Ich-Figur fest, ihr Buch sei kein Roman, sondern ein Recherchebericht. Es geht um Zucker, als Metapher für Gier, Ausbeutung aus wirtschaftlichen Gründen, Geldgier, aber auch für Gier im Sinne von Begierde, die Sehnsucht nach Süßem, nach Liebe.

Handlung und Schreibstil

Es sind Fragmente, Geschichten, die zwischen den Jahrhunderten pendeln, Szenen und Auszüge aus Biografien, aus bekannten literarischen Werken, teilweise neu gedeutet und neu verknüpft. Von der Schweiz an die amerikanische Ostküste, mit Max Frisch nach Montauk, nach Port-au-Prince, zu den Sklaven auf den Zuckerplantagen auf Haiti, führt die Reise kreuz und quer, dokumentiert durch Notizen der Recherchen in Bibliotheken, dazwischen Tagebucheinträge, manchmal nur in Stichworten, Textauszüge und Originalzitate in mehreren Sprachen, die sich immer wieder neu um den Grundbegriff „Zucker“ ergeben, ohne Ordnung und dennoch irgendwie geordnet. „Jetzt alles noch einmal revidieren: Zu allen Dingen ein letztes Mal zurückkehren, sie ins Licht halten, befragen.“ (Zitat Pos. 2690)

Eine literarische Achterbahnfahrt, manchmal episch schildernd, langsam sich steigernd, dann atemlos rasch, Satzteile, Ereignisse über Zeilen aneinandergereiht, weil ja auch in der Realität viele Dinge immer gleichzeitig geschehen, dazu kommen noch die sich dazu aufdrängenden Überlegungen und genau so will die Ich-Figur es auch erzählen. Das Ende? „Aber wenn du glaubst, es gebe ein Ende, dann täuschst du dich.“ (Zitat Pos. 2529)

Fazit

Ein ungewöhnliches Buch, das eine der Facetten der aktuellen Gegenwartsliteratur zeigt, komplexe Themen, kritische Fragen unserer Zeit in eine neue Form des Erzählens gebracht. Keine leichte Lektüre, aber gerade wegen dieser sprunghaften Gedankenläufe, der unvorhersehbaren, breit gefächerten Geschichtenfragmente interessant und packend und nach einem ersten erstaunten, etwas verwirrten Innehalten las ich mit neugieriger Begeisterung weiter, gespannt, wohin mich die nächste Seite führen würde.

Über allem und nichts – Gunther Neumann

AutorGunther Neumann
Verlag Residenz Verlag
Erscheinungsdatum 18. Februar 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3701717262

„Alte Kreise öffnen sich, mit der Zirkelspitze am Staffelsee. Sri Lanka. Ozean., kein See. All die Jahre hatte sie die Kreise immer weiter gezogen, der Kern der hart gewordenen Erinnerung hatte dabei festgesteckt.“ (Zitat Pos. 2714)

Inhalt

Clara Fink, bald siebenunddreißig Jahre alt, träumte schon als Kind von fernen Ländern, grenzenloser Freiheit und vom Fliegen. Heute ist sie Berufspilotin bei einer spanischen Billigfluglinie, als Copilotin für Maschinen wie die Boing 777 ist sie ehrgeizig und zielorientiert auf dem Weg zur Beförderung zum Flugkapitän. Die knappen Stunden zwischen den Flügen reichen nicht aus, um irgendwo innezuhalten und so wie zwischen den unterschiedlichen Destinationen rund um den Globus, pendelt sie auch im Privatleben ruhelos zwischen zwei Männern: Matthias, Anwalt in München, der sie umsorgt und sich mehr gemeinsame Zeit wünscht, wodurch sie sich eingeengt fühlt, und dem dominanten, manipulativen Gabrio Estevez in Madrid, ihrem ehemaligen Fluglehrer. Als sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit kommt, nimmt sie zwei Wochen Urlaub, findet ein günstiges Ticket nach Colombo, packt ihre Sachen in Motorrad-Satteltaschen und fliegt auf die Insel, die sie seit elf Jahren gemieden hat. Diese Reise durch das noch immer vom Bürgerkrieg gezeichnete Sri Lanka wird für sie eine Reise durch ihr bisheriges Leben, Zeit, sich ihren verdrängten Erinnerungen zu stellen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um prägende Erfahrungen und das Schweigen darüber, Familie, Beziehungen. Wichtige Themen sind die Situation von erfolgreichen Frauen in männerdominierten Berufen und Sri Lanka als Beispiel steht für globale Konfliktsituationen, Bürgerkriege als Gegenpol zu großartiger Natur.

Charaktere

Das Leben der Pilotin Clara ist von moderner Rastlosigkeit geprägt. Von der Großmutter hat sie gelernt, dass man über schlimme Erlebnisse nicht spricht, dieses Schweigen bestimmt Claras Leben. Sie wird Pilotin, weil sie die Welt sehen will, aber im intensiven Berufsalltag sieht sie nur mehr die austauschbaren Flughäfen. Erst als ihre Erinnerungen ihr bis ins Cockpit folgen, erkennt sie, dass sie sich der Vergangenheit stellen muss.

Handlung und Schreibstil

Der Roman beginnt mit ihrem Flug nach Sri Lanka am Anfang ihres vierzehntägigen Urlaubs. Vor elf Jahren war Sri Lanka ihre erste Tropendestination als Flugbegleiterin gewesen. Damals war der Tamile Surya, eigentlich Lehrer, ihr Fahrer gewesen, der ihr die Insel gezeigt und über dieses Land erzählt hatte. Jetzt mietet sie nach der Landung in Colombo ein Motorrad und beginnt ihre Reise über die Insel. Die chronologisch erzählte Jetztzeit mit Schilderungen der Landschaft und der Menschen, die Clara begegnen, wird durch Erinnerungen unterbrochen. Es sind Bruchstücke ihres Lebens, die ungeordnet auftauchen, dazwischen Träume, Sehnsüchte, Gedankenkreise, die Männer in ihrem Leben. Ihre stillen Beobachtungen der tropischen Natur enden in Parallelen zu ihrer Kindheit, ihre Familie, Sommer am Staffelsee. Blumen führen ihre Gedanken zu Gabrio, zu Matthias, verbunden damit ihr erfolgreicher beruflicher Werdegang. Sie verlängert den Urlaub um einige Tage, doch die Hoffnung auf einen Neubeginn endet bei den Vorsätzen.

Die eindrückliche Sprache wechselt zwischen poetischen Schilderungen und rasant-kurzen Momentaufnahmen, man spürt die atemlose Getriebenheit der Hauptfigur. Diese Mischung zieht uns Leser rasch in den Sog dieser Geschichte einer starken, im Beruf zielorientierten Frau, die im realen Leben eine Suchende, eine rastlose Nomadin bleibt.

Fazit

Es ist beeindruckend, wie es auch diesem Autor der modernen Gegenwartsliteratur gelingt, eine kraftvolle, lebendige, absolut authentische Frauenfigur zu schaffen und ihre Geschichte einfühlsam, intensiv, packend und glaubhaft zu erzählen, verbunden mit einer bildgewaltigen Reise und Sprache.

Final Control – Veit Etzold

AutorVeit Etzold
Verlag Droemer TB
Erscheinungsdatum 1. Oktober 2020
FormatTaschenbuch
Seiten480
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3426307090

„Es gibt kein richtiges Handeln im falschen.“ (Zitat Seite 257)

Inhalt

Die zweite Heimat des Mediziners Tom Bayne ist Shenzhen, Sonderwirtschaftszone, Sitz bedeutender ausländischer Investoren. Seine Firma CUMO arbeitet im Bereich medizinischer Start-ups und er braucht dringend einen Investor. Die Chinesen sind sehr an seiner innovativen Cure-Mobile App in Kombination mit einem Chip interessiert, doch Tom entscheidet sich für den Milliardär Dairon Arakis, der ihn als persönlichen Betreuer engagiert. Dann überschlagen sich die Ereignisse, Toms App zeigt eigenartige Werte in Verbindung mit Fake News, in der Schweiz gibt es ein Seebeben, die italienischen Banken stehen vor dem Zusammenbruch und drohen die gesamte Eurozone mitzureißen. Die NSA macht Tom ein Angebot, das er nicht ablehnen kann.

Thema und Genre

In diesem Polit-Thriller geht es um modernste technische Lösungen für die umfassende Überwachung, nicht nur der virtuellen Daten, sondern auch des realen Lebens der Menschen. Themen sind die aufstrebende Weltwirtschaftsmacht China und das uneinige, zögerliche Europa, sowie weltweite Finanztransaktionen.

Charaktere

Tom Bayne ist in Deutschland und China zu Hause, ein deutscher Vater und eine englische Mutter machen ihn zu einem international denkenden Menschen. Auf der Suche nach einem Investor für seine innovative App im Bereich Medical Big Data und der Wahl zwischen der höchst interessierten chinesischen Regierung und einem privaten Global Player, Milliardär und Investor, steht er plötzlich im Zentrum einer brisanten Mischung aus internationaler Hochfinanz und internationaler Politik mit durchaus unterschiedlichen Interessen, deren Spielball Europa ist.

Handlung und Schreibstil

Dieser packende Thriller spielt in einer straffen Zeitspanne. Die unterschiedlichen Handlungsorte liegen in China, Amerika, Deutschland, Großbritannien, Italien, Schweiz, in Büros in modernsten Hochhaustürmen, Banken, Luxushotels, im Vatikan und auch in einer kleinen italienischen Trattoria. Die Geschichte selbst ist sehr genau recherchiert und zeigt das Fachwissen des Autors in den Bereichen neueste Forschung, Unternehmensstrategien, Wirtschaftsmacht China, Politik der Großmächte und internationale Finanzmärkte. Manche Entwicklungen im Bereich Digitalisierung und umfassende Überwachung sind vielleicht in dieser Form noch nicht umgesetzt, aber durchaus reale, nahe Zukunft. Trotz dieser komplexen Themen sind die Zusammenhänge klar, verständlich und nachvollziehbar geschildert, wobei der Schwerpunkt durchgehend auf der spannenden Handlung und bei den agierenden Figuren liegt. Die Sprache beschreibt, wo es um Situationen, Orte, Stimmungen und Zusammenhänge geht, und zieht rasant vorwärts, wo es um Einsatz und Action mit dem entsprechenden Zeitdruck geht.

Fazit

Ein packender Wirtschafts- und Politthriller, interessant, informativ und sehr spannend.

Die Erfindung des Countdowns – Daniel Mellem

AutorDaniel Mellem
Verlag dtv Verlagsgesellschaft
Erscheinungsdatum 15. September 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3423282383

 „Bei allem Respekt, Professor, aber das nimmt niemand ernst. Sie sind der beste Theoretiker, den ich kenne, und wir haben ihnen viel zu verdanken – aber wir wussten auch, mit Ihnen wird es schwierig, ein so großes Unternehmen zu leiten.“ (Zitat Seite 201)

Inhalt

Hermann Oberth wächst in Schäßburg, Siebenbürgen, als ältester Sohn eines angesehenen Arztes auf. Er ist ein begabtes, technisch sehr interessiertes Kind, liest begeistert Jules Verne und sieht seine Zukunft buchstäblich in der Zukunft, er wird eine Rakete entwickeln, die bis zum Mond fliegt. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs heiratet er Tilla und beginnt gleichzeitig in Göttingen zu studieren. Als seine fertige Dissertation abgelehnt wird, bringt diese erfolgreich als Buch heraus. Ein Angebot der Sowjetunion lehnt er ab, doch 1941 holt ihn Wernher von Braun nach Peenemünde und aus der erträumten Rakete zum Mond wird eine moderne Waffe.

Thema und Genre

In diesem Roman mit biografisch-historischem Hintergrund geht es um die Pioniere der modernen Astronautik und Raketentechnik, um Wissenschaft und Forschung. Damit verbunden sind die Problematik der Entwicklung von Raketenwaffen in der NS-Zeit und die Frage nach Verantwortung und Forschungsethik.

Charaktere

Hermann Oberth ist ein Visionär und arbeitet intensiv an seinen Berechnungen, Konzepten und Konstruktionsentwürfen, bis er sicher sein kann, dass sie auch funktionieren. Für seine Ehefrau Tilla und seine vier Kinder bleibt kaum Zeit und so wiederholt er, ohne dass es ihm bewusst ist, die Fehler seines Vaters, seine Kinder bleiben ihm fremd. Als Siebenbürger Deutscher fühlt er sich Zeit seines Lebens als Deutscher und niemals als Rumäne.

Handlung und Schreibstil

Der Autor schildert das Leben des Raketenforschers und Menschen Hermann Oberth chronologisch, von seiner Kindheit in Schäßburg, Siebenbürgen, bis zum Start von Apollo 11 am 16. Juli 1969. Die nummerierten Kapitel entsprechen einem Countdown und beginnen bei Zehn, um mit dem Kapitel Null zu enden. Dies erinnert an eine Episode im Leben von Hermann Oberth, als Fritz Lang ihn 1929 als technischen Berater für seinen Stummfilm „Frau im Mond“ ins Team holt und wo der Regisseur tatsächlich die Idee mit dem Rückwärtszählen hat, um Spannung zu erzeugen. Dem Physiker und Raketenpionier Hermann Oberth und seinen visionären Entwicklungen stellt der Autor literarisch den Menschen gegenüber, den meistens abwesenden Familienvater, dessen Gedanken seine Ehefrau Tilla immer mit Formeln und Berechnungen teilen muss. Auch die Frage nach der eigenen Verantwortung in den Jahren seiner Tätigkeit für die Nationalsozialisten fließt in die Ereignisse in diesem Roman ein, jedoch nicht anklagend, sondern berichtend, fragend. Die Sprache erzählt und schildert eindrücklich und spannend.

Fazit

Ein Roman, der sich in literarischer Form mit der wenig bekannten Biografie des Visionärs und Wegbereiters der modernen Raumfahrt, Hermann Oberth, beschäftigt und sowohl den Wissenschaftler, als auch den Menschen als Resultat seiner Träume und seines Schicksals in einer bewegten Zeit zeigt.

Das Tartarus-Projekt – Gerd Schilddorfer

AutorGerd Schilddorfer
Verlag Carl Ueberreuter Verlag
Erscheinungsdatum 30. September 2020
FormatBroschiert
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3800090013

„Da war etwas, das im Hintergrund blieb, sich versteckte, wie unter einem Tarnmäntelchen, und sich ins Fäustchen lachte. Und Landorff hatte keine Ahnung, was es war.“ (Zitat Seite 84)

Inhalt

Natürlich geht der Journalist und Autor Michael Landorff auf die exklusive Party des erfolgreichen Unternehmers und Milliardärs Gregory Winter, auch wenn er keine Ahnung hat, warum er auf der Einladungsliste steht. Schon des großartigen Buffets wegen, denn obwohl seine Thriller die Leser begeistern, fehlt ihm noch immer ein Verlag. Dies will seine langjährige Bekannte Melissa Warttemberg ändern, die mit ihrer Agentur professionelle Kampagnen für bekannte internationale Großkonzerne durchführt. Als Gregory Winter am Morgen nach der Party grausam ermordet aufgefunden wird, sieht Melissa für Landorff als erfahrenen Journalisten eine einmalige Chance: er muss sofort mit der Suche nach dem Mörder beginnen, den Fall vor der Polizei aufklären und gleichzeitig darüber ein Buch schreiben. Bei der Durchsicht der Gästeliste trifft er auf Alexandra Buschmann, eine professionelle Pokerspielerin, die ebenfalls eingeladen war, ohne Gregory Winter zu kennen. Gemeinsam beginnen sie zu recherchieren, und dies wird binnen kürzester Zeit lebensgefährlich. Umgeben von Geheimdiensten mit unterschiedlichen Interessen und skrupellosen Gegnern, finden sie heraus, worum es eigentlich geht: um ein brisantes Forschungsprojekt mit dem Namen „Tartarus“, das die Welt verändern wird.

Thema und Genre

In diesem packenden Wissenschafts- und Politthriller geht es um die Forschungsbereiche KI, Drohnen als Kampfroboter, modernste Steuerungstechnik, Geheimdienste, Politik und internationale Wirtschaftsinteressen.

Charaktere

Michael Landorff ist Autor, doch er ist auch ein erfahrener Journalist mit einem entsprechenden Netzwerk. Die ersten Recherchen zeigen, dass wesentlich mehr hinter diesem Mordfall steckt, als zunächst angenommen. Jede Antwort wirft neue Fragen auf, doch er gibt nicht auf, obwohl er rasch erkennt, dass sein Einsatz sein Leben ist, denn bald weiß er zu viel. Alexandra Buschmann, studierte Mathematikerin und Wirtschaftswissenschaftlerin, recherchiert mit ihm, denn plötzlich erkennt sie ihre Verbindung zum Unternehmen des Ermordeten.

Handlung und Schreibstil

Ein Journalist und eine Pokerspielerin: die spannende Recherche führt die beiden Hauptfiguren von München aus durch Bayern bis nach Wien, und über Umwege wieder zurück, mit Gegnern aus aller Welt, die ihren Spuren folgen. Die Handlung wird in einer straffen Zeitspanne geschildert, Rückblenden ergänzen mit Details.

Man erkennt die genaue Recherche und das Fachwissen des Autors, die Geschichte ist realistisch und nachvollziehbar. Seine Geburtsstadt Wien schildert Gerd Schilddorfer, eingebunden in spannende, gefährliche Situationen, mit Charme und Schmäh abseits der Touristenrouten – wer Wien kennt, liest dies mit einem Lächeln, Wien-Neulinge finden hier ganz sicher Ideen für den nächsten Wienbesuch. Die Sprache passt perfekt zum Genre, spannend, mit einer guten Prise Humor. Die  wissenschaftlichen Erklärungen sind gekonnt in lockere Dialoge eingebaut, sodass sie verständlich und interessant zu lesen sind.

Fazit

Ein packender Thriller mit brisanten Themen und unvorhersehbaren Wendungen. Wem können wir überhaupt noch trauen?, fragen sich nicht nur die beiden sympathischen Hauptfiguren, sondern auch wir Leser*innen, denn es gibt immer wieder Überraschungen. Ein spannender Pageturner, der vergnügte Lesestunden bietet.

Sam ist weg – Sophie Bienvenu

AutorSophie Bienvenu
ÜbersetzerSonja Finck
Verlag Claassen
Erscheinungsdatum 28. September 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten176
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3546100175

„Vielleicht hat sie sich gesagt, wir treffen uns an unserem Schlafplatz, und sie hätte auch gern eine Nachricht hinterlassen, aber so was machen Hunde nicht. Sie ergreifen eher selten die Initiative, deshalb haben sie nie gelernt, wie man Bescheid sagt.“ (Zitat Pos. 394)

Inhalt

Das Leben von Mathieu war nie einfach gewesen, doch der letzte  Schicksalsschlag wirft ihn endgültig aus der Bahn und er landet er auf der Straße. Seine Hündin Sam, die ihm aus seinem früheren Leben geblieben ist, begleitet ihn auch jetzt mit ihrem stillen Vertrauen und in den Nächten wärmen sie einander, denn der Winter hat begonnen.  Doch sie haben Glück, ein Bekannter verreist über den Winter, seine leerstehende Wohnung überlässt er seiner Cousine Gabrielle und diese ist bereit, die beiden vorübergehend aufzunehmen. Da ist Sam plötzlich verschwunden. Mathieu hatte sie nur kurz vor einem Laden angebunden, in dem er öfter einkauft. Mathieu macht sich sofort auf die Suche und Gabrielle hilft ihm dabei, doch Montreal ist eine Großstadt und Sam kann überall sein.

Thema und Genre

Es geht um anonyme Schicksale in einer Großstadt, um Menschen, die durch besondere Umstände plötzlich aus ihrem Leben geworfen werden und versuchen, auf der Straße irgendwie über die Runden zu kommen. Themen sind Erinnerungen, Trauer, Verzweiflung und neue Hoffnung, Mut, und die Liebe.

Charaktere

Mathieus Kindheit ist von seiner dominanten Mutter und einem schweigsamen Vater geprägt. Sehr jung verliebt er sich in Karine, die Frau seines Lebens, die ihn und die gemeinsame Tochter Lila jedoch verlässt. Manchmal will Mathieu einfach aufgeben, doch er kann es nicht, irgendwie macht er immer weiter, gefangen in seinen Erinnerungen. Sam ist ein wichtiger Teil des früheren Lebens und darum muss er sie wiederfinden, er gibt nicht auf, folgt jeder Idee, wo er suchen könnte.

Handlung und Schreibstil

Der obdachlose Mathieu erzählt seine Geschichte selbst. Die aktuelle Handlung, die Stunden und Tage der Suche nach seiner Hündin Sam, wird in kurzen Abschnitten erzählt, die immer wieder durch seine Erinnerungen durchbrochen werden. So erfahren wir die wichtigsten Ereignisse aus seinem Leben, allerdings nicht chronologisch, sondern bruchstückhaft, kurze Geschichten und Situationen, die sich schließlich zu einem Gesamtbild über das bisherige Leben von Mathieu zusammenfügen. Die Hündin Sam ist das Bindeglied zu seinem früheren Leben und die Suche nach seiner Hündin wird für ihn auch zum Versuch, mit der Vergangenheit weiterzuleben. Die Frage, ob es ihm gelingen wird, Sam in der Metropole Montreal wiederzufinden, sorgt für Spannung und wir bangen und hoffen mit Mathieu. Die Sprache ist einfühlsam und gibt in teilweise einfachen, sehr persönlichen Sätzen nicht nur die aktuelle Situation und die Erinnerungen, sondern auch die Gedanken und Gefühle der Hauptfigur packend und glaubhaft wieder, führt uns direkt in sein Leben.

Fazit

Ein einfühlsamer, leiser, nachdenklicher Roman über die Hintergründe, die dazu führen können, einen Menschen völlig aus der Bahn zu werfen. Gleichzeitig ist es jedoch eine poetische Geschichte über das Leben, die Kraft der Liebe und den Mut, dass es irgendwie weitergeht.

Das Meer der Libellen – Yvonne Adhiambo Owuor

AutorYvonne Adhiambo Owuor
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 22. September 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten608
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832181147

„Frag dich immer: Wo will ich hin? Und wenn du es weißt, mach dich auf den Weg.“ (Zitat Pos. 882)

Inhalt

Die Insel Pate gehört zum Lamu Archipel an der Nordküste Kenias. Dort wächst Ayaana mit ihrer Mutter Munira auf. Ayaana hat viele Fragen an das Meer und als der weitgereiste, alternde Seemann Muhidin, der nun ein kleines Buchgeschäft besitzt, ihr zuhört und auf manche Fragen auch Antworten kennt, hat sie endlich einen Vater gefunden. Denn ihre Mutter Munira schweigt darüber, wer ihr richtiger Vater ist. Sie ist beinahe einundzwanzig Jahre alt, als sie als Nachfahrin einer sechshundert Jahre alten Geschichte eine Einladung nach China und ein Studienstipendium erhält. Doch die Sehnsucht nach ihrer Heimat und dem Meer bleibt und noch immer hat sie keine Antwort auf die Frage: Nhi shi shei -Wer bist du?

Thema und Genre

In diesem Coming-of-Age-Roman, der in Afrika und China spielt, geht es um die Frage, wer man ist, um Heimat, Wurzeln, Sehnsucht, menschliche Schicksale, Gewalt, Trauer, Verlust, Familie und die Liebe in vielen Facetten. Doch es geht auch um die Geschichte eines kleinen Insel-Archipels als Spielball der Mächtigen und den Kampf um die Unabhängigkeit, um den Erhalt der Natur und der eigenen Freiheit.

Charaktere

Es sind die vielschichtigen Charaktere, alle auf ihrer eigenen, unterschiedlichen Suche nach einem Platz im Leben, die diese intensive Geschichte prägen. Ayaana ist ein unabhängiges, wissbegieriges Mädchen mit vielen Fragen an die Menschen und an die Natur, die sie umgibt. Da sie keinen Vater hat, sucht sie sich selbst einen aus. Später, als junge Frau in China, bleibt sie trotz Heimweh stark und mutig, setzt Schritte, geht ihren Weg, der sie, immer noch auf der Suche, zurück nach Pate führt.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman ist fiktiv, so wie auch die Hauptfigur, Ayaana Abeerah Mlingoti. Dennoch gibt es das „China Girl“ und die Fakten dazu wirklich und daraus, sowie dem realen historischen Hintergrund, entstand diese Geschichte.

Die Handlung beschreibt das Leben von Ayaana beginnend in ihrer Kindheit, bis sie eine erwachsene junge Frau ist. Damit verbunden sind die Geschichten der Menschen, die sie auf diesem Weg begleiten oder ihren Weg kreuzen, aktuell und in Rückblenden. Die politischen Ereignisse sorgen für Spannung und unvorhersehbare Wendungen, welche die aktuelle Handlung beeinflussen. Es ist eine vielschichtige, interessante und lebendige Geschichte, welche das packende Geschehen und Schicksale der Hauptfiguren verknüpft.

Die Sprache ist eindrücklich und sehr poetisch, die Beschreibungen malen Bilder aus einer phantastisch bunten Farbpalette.

Fazit

Ein intensiver, packender Roman, farbenprächtig, lebensbejahend und gleichzeitig stürmisch und dunkel vor Trauer und Verlust, wie das Leben. Eine großartige Geschichte und ein spannender Einblick in die moderne afrikanische Literatur.

Das Haus an der Keizersgracht – Rinske Hillen

AutorRinske Hillen
Verlag Schöffling & Co.
Erscheinungsdatum 21. Juli 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3895613678

„Die Zeit, in der sie dachte, sie könnte mit einer komfortablen Lüge besser leben als mit der schmerzlichen Wahrheit, war vorbei.“ (Zitat Seite 130)

Inhalt

Der Naturphilosoph Bram Wenksterman wird fünfundfünfzig Jahre alt, doch ein Geburtstagsfest ohne ihre Mutter kann sich seine Tochter Amber, gerade nach dem Abbruch ihres Studiums wieder nach Hause zurückgekehrt, nicht vorstellen. Ihre schwer depressive Mutter lebt zur Zeit in einer psychiatrischen Klinik. Außerdem will Ambers introvertierter Vater keine Party, er sucht die Ruhe in den Dingen und in der Natur, für die er sich begeistert. Doch Ella, die Cousine ihrer Mutter, sieht dies anders, bereit, in dem alten, gefährlich baufälligen Haus der Familie den Platz als Frau an der Seite von Ambers Vater einzunehmen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Trauer, nie bewältigte Schuldgefühle und die Auswirkungen des Schweigens auf alle Mitglieder der Familie. Ein gefährlich baufälliges Haus als Symbol einer entsprechend zerrütteten Familie.

Charaktere

Es sind keine Figuren, die man ins Herz schließt, die Beziehungen untereinander sind durch offene Fragen, Missverständnisse und Schweigen gekennzeichnet. Was wir über sie wissen, ergibt sich aus immer wieder in den Text eingeworfenen Details, doch die Fragmente schließen sich nicht zu einem Ganzen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung, ergänzt durch Rückblenden und Erinnerungen, spielt innerhalb von wenigen Tagen, im Mittelpunkt steht das Geburtstagsfest von Bram Wenksterman. Immer neue Konflikte und Problematiken kommen neben den Kernthemen an die Oberfläche, aber die Figuren haben nicht die Ruhe, sich damit auseinanderzusetzen. Auch die Sprache wirkt eigenartig gehetzt, die Autorin findet keine Zeit, bei einer Schilderung zu verweilen, den Lesenden Zeit für Gedanken zu geben, die Sätze fliegen vielmehr zwischen den Beobachtungen und Befindlichkeiten hin und her, treiben die Fragmente aus Handlung und Ereignissen aus der Vergangenheit voran.

Fazit

Ein Roman, der eine Vielfalt an Konflikten und Themen anspricht, sich aber nicht die Zeit nimmt, sie genauer zu betrachten. Der straffe Zeitrahmen schafft Augenblickssituationen und lässt den Figuren wenig Raum, nach möglichen Lösungen zu suchen. Eine Fülle, der es an Tiefe fehlt.

Das Geburtstagsfest – Judith W. Taschler

AutorJudith W. Taschler
Verlag Droemer TB
Erscheinungsdatum 1. September 2020
FormatTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3426306468

„Als ihm bewusst wurde, dass es Tevi sein musste, da sie den Kopf etwas zur Seite neigte, stand er da wie angewurzelt. Ines sah in den Augen ihres Sohnes Triumph, in den Augen ihres Mannes bestürzte Hilflosigkeit und beides rührte sie so sehr, dass auch ihr die Tränen kamen.“ (Zitat Seite 27)

Inhalt

Kim Mey, Architekt, will seinen fünfzigsten Geburtstag nicht besonders feiern, doch seine Frau Ines sieht das anders. Ende 1978 war Kim vierzehn Jahre alt und Tevi zwölf, als sie auf abenteuerlichen Wegen als Flüchtlinge aus Kambodscha über Thailand nach Österreich kamen, wo sie von Ines‘ Mutter aufgenommen worden waren. Seit dreiundzwanzig Jahren haben sie sich nicht mehr gesehen, doch Jonas, der zwölfjährige Sohn von Kim findet Tevi und lädt sie als besonderen Überraschungsgast zum Geburtstagsfest ein. Seine beiden älteren Geschwister helfen ihm dabei – es ist das Geburtstagsgeschenk der Kinder an ihren Vater und sie sind voll Vorfreude.

Thema und Genre

Kernthema ist die Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha, Schuld und der Preis des Überlebens, Flucht, Kindheitstraumata, Liebe, Familie und ein Familiengeheimnis, das alles verändert.

Charaktere

Kim ist ein erfolgreicher Architekt. Seine Ehe mit Ines wurde mit den Jahren mühsam, da er ihre Erwartungen nicht immer erfüllen kann. Er war zwar noch ein Mal in Kambodscha, 1993, aber er schweigt über die Vergangenheit. Tevi dagegen spricht auf Vortragsreisen über ihre Kindheit in Kambodscha und erzählt auch Kims Kindern von dieser Zeit. Sie verbringt drei bis vier Monate des Jahres dort und ist ehrenamtlich tätig.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in mehreren Handlungssträngen auf unterschiedlichen Zeitebenen erzählt.  Die Jetztzeit in Österreich betrifft die Tage um Kims Geburtstagsfest zwischen 17. und 19. Juni 2016 und wird durch Abschnitte unterbrochen, die in der Vergangenheit spielen, deren zeitliche Abfolge jedoch immer in sich chronologisch bleibt. Die Zeit in Kambodscha, Siebzigerjahre, Familie Mey, wird von einem Ich-Erzähler geschildert, Kambodscha Siebzigerjahre, Familie Chhang dagegen in einer personalen Erzählform, in deren Mittelpunkt Tevi steht. Dazwischen erfahren wir auch  mehr über die Kindheit von Ines, die gemeinsame Zeit von Kim, Tevi und Ines und über die Ehejahre von Kim und Ines.

Judith Taschler ist eine großartige Erzählerin, sicher, einfühlsam und stimmig entwickelt sie ihre Geschichte aus diesen einzelnen Erzählsträngen, bis sich langsam Vergangenheit und Gegenwart zu einem Ganzen verbinden. Doch nicht immer sind die Dinge so, wie sie scheinen.

Fazit

Ein sehr vielschichtiger, spannender Roman um das Schicksal Kambodschas unter der Herrschaft der Roten Khmer. Parallel dazu wird das Leben von zwei inzwischen längst erwachsenen Menschen erzählt, die damals als Kinder alles verloren haben und deren Geheimnisse und Entscheidungen ihr Leben geprägt haben. Eine sehr intensive, packende Geschichte mit überraschenden Wendungen, die lange nachklingt.

Die Herrin: Eine schaurige Novelle aus böser, alter Zeit – Helmut Barz und Raquel Erdtmann

AutorHelmut Barz
IllustratorinRaquel Erdtmann
Verlag Edition Coeurart
Erscheinungsdatum 17. April 2015
FormatTaschenbuch
Seiten279
SpracheDeutsch
ISBN-13978-1511744065

„Ich habe da eine Theorie, die den Fluch der Stadt erklären würde: Es gibt hier einen Vampyr.“ (Zitat Seite 140)

Inhalt

Jonathan Hansen, ein junger Staatsanwalt in Berlin, freut sich auf eine Tätigkeit als Amtsrichter in der kleinen, beschaulichen Stadt Broiversum an der Nordsee. Seine Ehefrau Katharina ist weniger begeistert, sie rechnet mit einem langweiligen Kleinstadtleben, auch wenn sie die Zeit für das Schreiben ihrer Doktorarbeit nützen will. Daher freut sie sich über die Einladung einer gebildeten und interessanten alte Dame, sie zu besuchen. Von allen Menschen nur „Herrin“ genannt, ist diese Philanthropin seit vielen Jahren die Wohltäterin von Broiversum. Warum aber werden gerade hier am Strand immer wieder tote junge Frauen gefunden, die offensichtlich aus einer ausweglosen, persönlichen Notlage den Freitod im Meer gewählt haben? Ist der berüchtigte Puntendreher, der hier gebrannte Schnaps, wirklich das einzige Gefährliche in Broiversum? Der Arzt Mies van Helsing, Jonathans bester Freund, sieht dies völlig anders, als er zu Besuch kommt.

Thema und Genre

Diese Geschichte ist ein Vampirroman im Sinne der klassischen Schauerliteratur. Es muss nicht unbedingt der düstere Borgopass in Rumänien sein, die dunkle Seite Londons oder ein einsames Schloss in der Steiermark im späten 19. Jahrhundert, es können auch die Zwanzigerjahre nach dem Ende des ersten Weltkrieges sein und die stürmische Nordsee. Auch Faust’sche Elemente spielen eine Rolle, es muss nicht immer der Teufel sein, dem wir unsere Seele verkaufen, und es muss nicht immer die Seele sein, die wir in den Handel einbringen.

Charaktere

Dass Jonathan Hansen und Mies van Helsing an Bram Stokers Figuren erinnern, ist Absicht. Für den Familiennamen „van Helsing“ hat der Autor eine durchaus originelle Erklärung. Auch in dieser Geschichte ist Jonathan diplomatisch, etwas vorsichtig und realitätsgebunden, während Mies als großer Freund von Schauergeschichten auch in der Realität die deutlichen Zeichen erkennt: in Broiversum lebt ein Vampyr.

Handlung und Schreibstil

Die Sprache nimmt Anleihe an den klassischen Vorbildern und passt in die Ausdrucksweise der frühen Zwanzigerjahre, jedoch in einer modernen, sehr angenehm zu lesenden Interpretation.

Die Ereignisse finden im Jahr 1921 statt. Tagebucheinträge des Vampyrs ergänzen die Handlung durch Details, die niemand sonst wissen kann.

Obwohl bereits auf dem Buchrücken bestätigt wird, dass zu den in ihrer Art sehr treffend geschilderten Einwohnern von Broiversum auch ein Vampyr gehört, ist es eine spannende Geschichte, denn die Hintergründe, die sich erst nach und nach zeigen, sind überraschend anders, als erwartet.

Fazit

Ein spannender, unterhaltsamer Schauerroman mit einer neuen Interpretation eines Vampyrwesens, das schon vor sehr langer Zeit einen gegenseitigen Pakt mit den Menschen eingegangen ist.

Österreichischer Buchpreis – Longlist 2020 und Shortlist Debüt 2020

Autor 13 Autorinnen und Autoren
VerlagHauptverband
Erscheinungsdatum 3. September 2020
FormatKindle und Broschüre
Seitenca. 120
SpracheDeutsch

Originalzitat aus dem Vorwort der hier vorgestellten Broschüre: „Literatur braucht Öffentlichkeit, Bücher benötigen Leserinnen und Leser, und Autorinnen und Autoren ein Publikum – nur so können neue Sprachwelten und frische Ideen ihre volle Wirkung entfalten.“

Inhalt

Das Lesebuch „Österreichischer Buchpreis und Debütpreis 2020“ umfasst etwa 120 Seiten und stellt die zehn nominierten Titel der Longlist 2020 und die drei Titel der Shortlist Debüt 2020 vor.

In Buchhandlungen erhält man die Broschüre in gedruckter Form kostenlos, doch NetGalley Deutschland stellt diese in elektronischer Form ebenfalls kostenlos zum Download bereit. Zwar sind die Titelseite mit ihren Abbildungen in der Kindle-Version nicht zu sehen, was jedoch kein Problem ist.

Die insgesamt dreizehn Autorinnen und Autoren werden in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt, mit Foto, kurzem Lebenslauf und künstlerischem Werdegang. Daran schließt eine ausführliche Leseprobe an. Ein Bild der Titelseite mit den Angaben über Verlag, Erscheinungsdatum, Seitenzahl und Preis schließt die jeweilige Präsentation ab.

Fazit

Eine perfekte Alternative zur gedruckten Broschüre, die nicht in allen Buchhandlungen erhältlich und auch dort rasch vergriffen ist. Ein interessanter Überblick über die nominierten Romane mit ausführlichen Leseproben.  Auf die Angaben zum Inhalt der einzelnen Romane wurde verzichtet, doch diese sind auf der Homepage des Österreichischen Buchpreises und natürlich auf den Seiten der Verlage zu finden und sind, zusammen mit der Leseprobe, sicher wichtig die Entscheidung, welche dieser Bücher auf die persönliche Liste für den nächsten Buchkauf kommen. Mein persönlicher Favorit, den ich mit Freude auf der Longlist 2020 gefunden habe, steht allerdings schon gelesen im Regal: „Fremdes Licht“ von Michael Stavarič.

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