„Er verfolgt das Ziel, die Qualität und die Eigenständigkeit der österreichischen Literatur zu würdigen und ihr im deutschsprachigen Raum erhöhte Aufmerksamkeit zu verschaffen.“ (Zitat Pos. 1055, über den Österreichischen Buchpreis)
Thema und Inhalt
Der Österreichische Buchpreis wurde 2016 zum ersten Mal vergeben. 2024 wurden für den Österreichischen Buchpreis von 56 Verlagen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz 84 Titel eingereicht, für den Debütpreis waren es 21 Verlage mit 26 Titeln. Es sind Werke aus den Bereichen Belletristik, Lyrik, Drama und Essay mit einem Erscheinungsdatum zwischen 11. Oktober 2023 und 9. Oktober 2024. Die Longlist umfasst 20 Titel, die Shortlist Debüt 3 Titel.
Umsetzung
Die Broschüre, die ich in der elektronischen Ausgabe auf dem Kindle lesen konnte, beginnt mit umfangreichen Leseproben aus allen nominierten Büchern. Es folgen ab Seite 114 Informationen über die Nominierten, die Jury, und ab Seite 130 die Coverabbildungen der Bücher mit nochmaliger Angabe von Autorin oder Autor, Titel, Verlag, Seitenzahl und Preis. Die jeweilige Einteilung erfolgt in alphabetischer Reihenfolge der Namen der Nominierten, beginnt immer mit der Longlist, daran schließt jeweils die Shortlist Debüt an.
Fazit
Auch 2024 ist es wieder eine interessante, spannende Mischung, die Leseproben machen neugierig auf die nominierten Bücher.
„Wir waren das letzte Volk auf dieser Erde, das seine Häuser verlassen würde, um die entdeckten Kontinente neu zu entdecken und die bekannten Städte und Wälder neu kennenzulernen.“ (Zitat Seite 223)
Inhalt
Nach fünfunddreißig Jahren in Bagdad kehrt Fikrat Guldantschi in die Stadt seiner Jugend im kurdischen Norden des Landes zurück, da er ahnt, dass mit Saddam Hussein ein furchtbarer Krieg droht und er besonders seine jüngste Tochter Sausan schützen will. Doch schon nach wenigen Tagen fühlt sich Sausan in dieser ihr fremden Stadt wie im Exil. Von Geburt an zart und von schwacher Gesundheit, verbringt Sausan ihre Tage in der Bibliothek ihres Vaters und durch die Bücher lernt sie die beeindruckenden Wunder einer Welt kennen, die sie nie selbst wird bereisen können. Als sich zur gleichen Zeit drei Männer in ihre zarte Schönheit verlieben und um ihre Hand anhalten, schickt Sausan alle drei auf eine weite Reise. Sie haben acht Jahre Zeit, die Welt zu bereisen, ihr einhundert seltene Vögel aus verschiedenen Ländern mitzubringen und ihr von den Reiseerlebnissen in den fernen Ländern zu berichten. Einige Menschen der Stadt, besonders die Frauen, halten Sausan für eingebildet und hochnäsig, doch Sausan weiß genau, warum sie ihren drei Verehrern diese Aufgabe stellt.
Thema und Genre
In diesem poetischen Roman mit märchenhaften und magischen Elementen geht es um die Kraft der Bücher, um die Träume und Sehnsüchte der Menschen, um Heimat, HeimaFamilie und die Liebe, um die Schönheit der Natur, um die Freiheit des Reisens, um fremde Länder, aber auch um die Zeit der brutalen Kriege Saddam Husseins gegen die Kurden im Nordirak, um Umstürze, Gewalt, Clanfehden und das damit verbundene Leid.
Erzählform und Sprache
Auch in seinem neuesten Roman verbindet Bachtyar Ali seine wunderbare, lebhafte, magische Erzählkunst mit präzisen, realistischen Schilderungen von Politik, Unterdrückung und Tod. Es ist eine besondere Erzählform, die er für diese Geschichte wählt, die in der nahen Vergangenheit stattgefunden hat, und nun in der Tradition des Geschichtenerzählens geschildert wird, wobei die Beobachtungen der Menschen, die diese Geschichte einer großen Liebe von drei Männern zur selben Frau im nahen Umfeld miterleben und mit großem Interesse durch die Jahre verfolgen, sich in einem „wir“ des Erzählers ausdrückt. Die Sprache ist vielfältig, bunt, bildintensiv und blickt einfühlsam auf die Menschen, ihr Schicksal und ihre Beweggründe.
Fazit
Es gibt Bücher, die uns mit der Geschichte, die sie erzählen, auf eine magische Phantasiereise schicken, uns zum Träumen, aber auch Nachdenken anregen. Dies ist so ein Buch.
„Ein Mosaik aus seinen Farben ergoss sich durch das Zimmer, als wir die Kleidung ausräumten, schließlich der Kalender mit der Gravur 1990 aus der oberen Ablage herunterfiel, jeden Tag des Jahres bis zur letzten Seite mit der Zeichnung seiner Handschrift ausgefüllt, überschrieben mit den Worten: Memoiren, Horea Sava.“ (Zitat Seite 163)
Inhalt
In der Schule sitzt Béla Tambrea neben Rodica, beide sind ehrgeizig, abwechselnd Klassenbeste und beide wollen Violinisten werden. Später, als Ehepaar, kommen sie auf einer gemeinsamen Orchesterreise 1984 in die westdeutsche Stadt Marl. Erstmals spricht Béla es aus, dass er zuhause in Târgu Mureș in Rumänien keine Zukunft sieht und ein Jahr später trifft er während einer Konzerttournee in Frankreich im Juli 1985 eine Entscheidung. Es folgen schwierige Jahre der Trennung, bis am 19. März 1987 Rodica mit dem dreijährigen Sabin „Nuku“ und seiner acht Jahre alten Schwester Ai nach einer Reise über Ungarn und Wien in Köln eintrifft, wo Béla sie abholt und das neue Leben der Familie in Marl, Deutschland, beginnt.
Thema und Genre
Vaterländer ist ein autobiografischer Generationen- und Familienroman, gleichzeitig jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik in Rumänien, eine Schilderung des Alltagslebens der Menschen unter dem Druck und der Willkür der Securitate unter Gheorghiu-Dej, und anschließend im Ceauceșcu-Regime. Ein Thema sind Flucht und die Probleme eines Neubeginns in einem fremden Land, der teilweise Verlust der Heimat und das Leben in einem neuen Kulturraum, wo jedoch die Musik alle Grenzen überwindet. Es ist eine Geschichte über Familie, Mut, Zusammenhalt, Verzweiflung, Hoffnung und die Kraft der Liebe.
Erzählform und Sprache
Sabin Tambrea teilt seinen Roman in drei Abschnitte, im ersten Teil schildert der junge Sabin als Ich-Erzähler seine Kindheit und Jugend ab seiner Ankunft in Deutschland, den zweiten Teil bilden die persönlichen Aufzeichnungen seines Großvaters Horea Sava über die Jahre seiner Inhaftierung durch die Securitate. Der letzte Teil ergänzt den ersten Teil, nun erzählt Sabins Vater Béla die Geschichte der Familie aus seiner Sicht. Alle drei Teile verlaufen in sich chronologisch, um sich am Ende zu treffen und den Kreis zu schließen. Sabin Tambrea schreibt einfühlsam, poetisch, aber gleichzeitig lebhaft, packend und präzise.
Fazit
Ein beeindruckender, authentischer Generationenroman, spannend, interessant zu lesen und auch sprachlich überzeugend.
„Wenn sie an damals zurückdachte, schien ihr eigentlich alles wie ein seltsamer Traum, der auch anders hätte geträumt werden können.“ (Zitat Pos. 2360)
Inhalt
Die Content-Managerin Vanessa Schellmann wohnt im Wedding, doch gerade wurde ihre Wohnung gekündigt, dies bedeutet Wohnungssuche in Berlin. Sie besichtigt auch ein aufstrebendes Neubauprojekt auf dem Areal der ehemaligen Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz. Dort, im ehemaligen Postgebäude, hatte sich 1908 ihre Urgroßmutter eingemietet, die Schriftstellerin Johanna Schellmann, denn sie wollte ein Buch über die Heilstätten Beelik schreiben. Als Vanessas Makler hört, wer sie ist, übergibt er ihr einen alten, mit Schreibmaschine geschriebenen Text, den Johanna Schellmann verfasst hatte, der jedoch nie veröffentlicht wurde. So erfährt Vanessa nicht nur, wer ihre Urgroßmutter war, sondern auch deren besondere Beziehung und von Spiritualität geprägte Verbindung zu der Arbeiterin Anna Brenner, eine Patientin, die Johanna in den Heilstätten kennengelernt hat und die wegen ihrer Hellsichtigkeit und philosophischen Ansichten bewundert, aber auch gefürchtet wird.
Thema und Genre
In diesem Generationenroman geht es um die für den Beginn des 20. Jahrhunderts moderne und besonders unter sozialen Aspekten fortschrittliche Einrichtung Lungenheilstätten Beelitz der Arbeiterwohlfahrt. Wetere Themen sind schreibende Frauen, sowie der zu dieser Zeit im Bürgertum beliebte Okkultismus mit Séancen und Medien. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Frauen auf der Suche nach Selbstbestimmung und ihrem eigenen Weg im Leben.
Erzählform und Sprache
Die Geschichte spielt in Berlin auf drei unterschiedlichen Zeitebenen, die jeweils chronologisch geschildert werden, Johanna und Anna 1907 – 1909, Johanna 1967 und Vanessa 2020. Die Abschnitte, die in den Heilstätten Beelitz spielen, zeigen ein eindrucksvolles, lebendiges Bild dieser weitläufigen sozialen Einrichtung und der damit verbundenen Problematiken. Das Jahr 2020 beschreibt die reale Situation einer modernen Stadtentwicklung und Bebauung von nicht museal genutzten Teilen des Areals. Im gesellschaftspolitischen Mittelpunkt stehen jedoch die Frauen. Durch Generationen getrennt sind Johanna, Anna und Vanessa auf der Suche nach Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Die Sprache schildert ruhig und präzise, die Wechsel zwischen den Zeitebenen unterbrechen teilweise den Erzählfluss, Ortsangabe und Jahreszahl in der Überschrift erleichtern die Zuordnung.
Fazit
Ein interessanter gesellschaftspolitischer Generationenroman, ein anschauliches Bild der Entwicklungen und Bestrebungen jener Zeit. Das Wohlbefinden, Heilung durch Selbstheilung, ist nicht nur der medizinische Ansatz jener Jahre zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern wird durch unterschiedliche Blickwinkel des Erzählens auf die jeweilige Lebenssituation der Hauptfiguren zur Metapher für das Streben der Frauen unterschiedlicher Generationen nach Eigenständigkeit und persönlicher Freiheit.
„In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Auswahl der Jurys immer wieder zielsicher und abseits der ausgetretenen Literatur-Pfade zu Neuerscheinungen geführt, von denen wir noch gar nicht wussten, dass wir sie unbedingt lesen möchten.“ (Zitat Pos. 21, Vorwort von Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels)
Thema und Inhalt
Das Taschenbuch „Deutscher Buchpreis 2024. Die Nominierten“ stellt jene zwanzig Titel vor, die in diesem Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert sind und die Longlist bilden, aus welcher in der Folge die Titel der Shortlist ausgewählt werden, die am 17. September 2024 veröffentlicht wird. Der aus dieser Shortlist ausgewählte Siegertitel wird am 14. Oktober 2024 am Beginn der Frankfurter Buchmesse präsentiert. In diesem Jahr waren 180 Romane von 106 Verlagen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz eingereicht worden.
Gestaltung
Die zwanzig Autoren und Autorinnen werden in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt, beginnend jeweils mit einem Foto, gefolgt von einem kurzen Lebenslauf und dem künstlerischen Werdegang. Daran schließt eine Beschreibung des Themas des jeweiligen Romans an, gefolgt von einer ausführlichen Leseprobe. Ein Bild der Titelseite mit den Angaben über Verlag, Erscheinungsdatum, Seitenzahl und Preis schließt die jeweilige Präsentation ab.
Fazit
In Buchhandlungen liegt die Broschüre in gedruckter Form auf, doch sie ist nicht in allen Buchhandlungen erhältlich und rasch vergriffen. NetGalley Deutschland stellt die Broschüre in elektronische Form, herausgegeben vom „Börsenblatt“, kostenlos zum Download bereit, in dieser Form habe ich sie gelesen. Es ist ein interessanter Überblick über die nominierten Romane. Die Leseproben sind definitiv eine Entscheidungshilfe und man bekommt Lust, das eine oder andere Buch, an das man bisher nicht gedacht hatte, doch zu lesen. Die großartigen „Lichtungen“ von Iris Wolff habe ich bereits gelesen, „Das Wohlbefinden“ von Ulla Lenze lese ich gerade und als nächstes wage ich mich an die eintausend Seiten „Die Projektoren“ von Clemens Meyer. Die deutsche Longlist 2024 umfasst neben der schon vorher vermuteten Titel auch wieder einige Überraschungen.
„Der Wind hat einen Platz in seiner Seele, er glaubt, dass er ihn besser kennt als die Wolken, den Regen und den Schnee.“ (Zitat Pos. 1106)
Inhalt
Ali ist ein verträumter Junge, der Bäume über alles liebt und am liebsten mit dem Wind fliegen würde. Als er neunzehn Jahre alt ist, wird er eines Tages während der Feldarbeit von einer Patrouille aufgegriffen und zur Armee verschleppt. Nach einem Granateneinschlag liegt er in der Nähe eines großen Baumes irgendwo in den Bergen von Latakia und er spürt, dass etwas mit seinem Körper nicht in Ordnung ist. Der Blick auf den Baum führt ihn zurück in die Erinnerungen an seine Kindheit, an seine Mutter, seine Familie und an seinen geliebten Rückzugsort, sein Baumhaus in einer großen Eiche.
Thema und Genre
In dieser Episodengeschichte geht es um die grausame Sinnlosigkeit von Kriegen, und eine Reise durch die Erinnerungen eines jungen Mannes, ein verträumter Außenseiter, der sich nur ein ruhiges Leben gewünscht hatte.
Erzählform und Sprache
Die Geschichte wird in Episoden erzählt und die Handlung ergibt sich aus den Gedanken und Erinnerungen der Hauptfigur. Ali versucht einerseits zu ergründen, was mit ihm geschehen ist, wobei sich mögliche Varianten der Realität mit Phantasievorstellungen mischen. Seine Erinnerungen verlaufen nicht unbedingt chronologisch, ergeben jedoch durch die genauen Schilderungen von vielen prägenden Details und Gefühlen nicht nur ein umfassendes Bild des Protagonisten, sondern zeigen auch das von Angst und Unterdrückung geprägte Leben in einem von Kriegen gespaltenen Land. Die Kraft der poetischen Sprache malt sofort Gedankenbilder und führt mitten in das Geschehen.
Fazit
Eine poetische, leise Geschichte zwischen Gegenwart und Erinnerung, die durch die tief beeindruckende Erzählsprache zu einem in den Gedanken umso lauteren Plädoyer und Aufschrei gegen Kriege und die sinnlose Gewalt und Machtgier wird, die unschuldige Menschenleben zerstört.
„Was der Mensch dem Menschen erläutert, ist immer unvollkommen. Ich habe gelernt, dass der größte Geschichtenerzähler das Leben selber ist.“ (Zitat Seite 137)
Inhalt
Im Jahr 1998 wird der Schriftsteller Ali Sharafiar während seiner Reise nach Kurdistan auf dem Flughafen von Amsterdam von einem jungen Mann angesprochen. Er bittet den Schriftsteller, ein Päckchen mit Notenheften und CDs mitzunehmen, und persönlich der Musikerin Rauschani Mustafa Saqzi zu übergeben. Doch dies ist nur ein erster Kontakt, denn in Wahrheit soll Ali Sharafiar eine Geschichte aufschreiben, es ist die wechselvolle, besondere Geschichte seines Lebens, die ihm der hochbegabte Flötist Dschaladati Kotr persönlich erzählt. „So also begann diese Geschichte. Ihr Ende wird sie an ganz anderem Ort, jenseits der vertrauten Welt und Zeit finden.“ (Zitat Seite 12)
Thema und Genre
Dieser Roman ist ein prächtiges, eindringliches Epos zwischen der unvorstellbaren Grausamkeit der Menschen im Krieg und der alles überdauernden Kraft der Kultur und Kunst, von Malerei, Literatur und Musik. Es geht um die Menschen, ihr Verhalten, ihre Hoffnungen, Gefühle, um die Liebe und um magische Orte, Phantasiewelten, wo alles möglich scheint. Ein wichtiges Thema sind Schuld und Sühne, Vergebung oder Vergeltung.
Erzählform und Sprache
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Dschaladati Kotr, der mit acht Jahren eine weiße Flöte bekommt und sofort wunderbare Melodien darauf spielen kann, bevor ihn Krieg und Flucht zwingen, genau diese musikalische Begabung wieder zu verlernen, um als einfacher Unterhaltungsmusiker zu überleben. Nun, viele Jahre später, wünscht sich Dschaladati, dass alle seine wahre Geschichte erfahren, seine Erinnerungen, sein Leben als Biografie, nicht nur oberflächliche Bilder und flüchtige Sätze. Ali Sharafiar dagegen geht es zunächst um die schriftstellerische Freiheit, um eine romanhafte Handung, um Sprache und Phantasie. Schließlich wird die Geschichte in fünf großen Abschnitten, Büchern, geschildert, jedes Buch in Kapitel unterteilt. Abwechselnd erzählt entweder Ali Sharafiar oder Dschaladati Kotr, oder im Vierten Buch gemeinsam. Dadurch ergibt sich für Bachtyar Ali die Möglichkeit, zwischen Ich-Erzähler und personalen Erzählformen zu wechseln und durch die unterschiedlichen Sichtweisen und sprachliche Umsetzung diese Geschichte nicht nur in der Handlung, sondern auch sprachlich unglaublich vielfältig zu erzählen. Die genauen Schilderungen des Umfeldes, der Städte, der Häuser, der Musik, der Menschen sind eindrücklich, von lebhafter Farbenpracht und facettenreich, die Grenze zwischen Realität, Phantasie und Magie verläuft fließend und wird durch die Ereignisse gleichsam mühelos in alle Richtungen überschritten. Dennoch schweigt Bachtyar Ali nicht über die grausame Realität von Krieg, Unterdrückung und Mord, schreibt mit einer schnörkellosen Klarheit, die uns beim Lesen an die Grenzen unserer Vorstellungskraft bringt.
Fazit
Ein epischer Roman mit einer Handlung zwischen Realität, Phantasie und Magie, schillernd, überbordend, poetisch, philosophisch und von einer besonderen, schwer zu beschreibenden Intensität. Eine Leseerfahrung, die unsere Gedanken und eigenen Überlegungen fordert und noch lange nachhallt.
„Ich hatte das Gefühl, jetzt erst begann die Reise, jetzt geschahen Dinge, die nicht geplant waren, die nicht bedacht, besprochen oder geregelt worden waren.“ (Zitat Seite 115)itat Text
Inhalt
Diese Expeditions-Kreuzfahrt von Grönland nach Alaska unternimmt die Berufsfotografin im Auftrag ihrer Verlegerin, sie soll mit ihren Fotografien, Zeichnungen und Skizzen die Stimmungen in der Arktis einfangen. Doch erst als auf Grund der Witterungsverhältnisse und des Eises das Schiff die Route ändern muss, spürt die Fotografin, dass mit dieser neuen, nicht vorausgeplanten Situation, mit dem neuen Kurs auf Baffin Island und Labrador, die Reise für sie wirklich beginnt.
Thema und Genre
Dieser Roman ist eine Mischung aus Reisebericht, Beobachtungen der Natur, der Mitmenschen, und Gedankenströmen der Ich-Erzählerin. Themen sind neben den unvergleichlichen Eindrücken und der Schönheit der Arktis persönliche Verluste, Trauer, Stillstand im Leben und Aufbruch.
Erzählform und Sprache
Dieser Roman beschreibt die Erlebnisse während einer Kreuzfahrt entlang der Nordwestpassage in Episoden, wobei die Kapitel die Orte der Reise als Überschrift tragen, und nicht das Datum. Für die Ich-Erzählerin, eine Frau Mitte vierzig, allein, aber nicht einsam, ist es eine Möglichkeit, in das Nichts einer unendlichen Weite und Weiße einzutauchen. Genau beobachtend, findet sie auch Zeit, sich mit ihrem bisherigen Leben, mit den immer in ihren Gedanken präsenten Themen zu beschäftigen. Genau und ironisch-kritisch beobachtet sie auch das Verhalten ihrer Mitreisenden, erfährt Schicksale, sehnt sich nach Ruhe, um auf das Meer zu schauen. Sie schildert die Besichtigungen und Entdeckungen während der Landgänge, beschreibt, ohne zu bewerten, aber auch ohne zu romantisieren. Dass die Fotografin ausgerechnet auf einem Kreuzfahrtschiff immer wieder auf der Suche nach einer ruhigen Ecke abseits der Mitreisenden ist, hat mich beim Lesen zum Schmunzeln gebracht.
Fazit
Die Fotografin bevorzugt in ihren Fotografien bewusste Unschärfen, so wie die Nebel über dem Meer an manchen Tagen und diese Unschärfen ziehen sich durch den gesamten Text. Wer Abenteuer, Krisen, einen Spannungsbogen der Handlung erwartet, wird von dieser ruhig fließenden Geschichte enttäuscht sein. „Unentschieden formte das Wasser Messerwellen, Schieferwellen, hier und dort ein bisschen Gischt.“ (Zitat Seite 156) Wer diese poetische Sprache schätzt, wird dieses Buch sehr gerne lesen.
„Ich weiß, es ist seltsam, aber ich fühlte mich wie ein Land, das in unzählige Teile zerrissen war, genau wie Kurdistan.“ (Zitat Seite 13)
Thema und Inhalt
Die Erzählung Lausanne ist eine Metapher auf das Schicksal des kurdischen Volkes, als ihr Land Kurdistan durch den Vertrag von Lausanne am 24. Juli 1923 in vier Teile aufgeteilt wurde, die an vier unterschiedliche Länder gingen.
Der Kurde Kawa studiert an der Sorbonne und ist geprägt von dem Schmerz, der Melancholie und Trauer über die Spaltung seines Landes. So kann aus einer möglichen Liebesgeschichte mit der Schweizer Studentin Lausanne schon auf Grund ihres Namens nur etwas Bitteres, zutiefst Trauriges und Verstörendes werden.
Die Erzählung wird ergänzt durch ein Interview mit dem Sherzad Hassan, seinen Vortrag „Zu Sprache und Person eines Autors“ und einen Beitrag von Sherko Kirmanj über den Vertrag von Lausanne.
Umsetzung
Die Erzählung umfasst 26 Seiten und wurde im Jahr 2000 geschrieben. Im daran anschließenden Interview mit dem Autor, welches im Juli 2023 von Raphael Urweiler, Laura Schuler und Paul Klingenberg geführt wurde, erklärt dieser den politischen, aber auch traumatisierenden psychologischen Hintergrund seiner Erzählung und die Bedeutung seiner Figuren.
Daran schließt ein Beitrag von Prof. Sherko Kirmanj „Der Vertrag von Lausanne und das Los der Kurden“ an. Hier erklärt Sherko Kirmanj die weitreichenden Auswirkungen des Vertrages von Lausanne auf die Kurden. Denn hier wurden die im alten Vertrag von Sèvres festgeschriebenen Artikel 62 – 64 gestrichen, welche die Bildung eines eigenständigen, unabhängigen Kurdistan vorsahen und anderen politischen Zielen, vor allem den Interessen Großbritanniens, geopfert.
Den Abschluss dieses Buches bildet ab Seite 45 die Niederschrift eines Vortrags von Sherzad Hassan, gehalten am 18. Juni 1997 auf einer PEN Literaturkonferenz zum Thema „Zu Sprache und Person eines Autors“.
Fazit
„Es geht nicht um Schwarzmalerei, aber ich gehe davon aus, dass uns im Mittleren Osten in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht das denkbar erbärmlichste Schicksal der nächsten Jahrhunderte ereilen wird.“ (Zitat Seite 48) Dieses Zitat stammt aus dem PEN-Vortrag von Sherzad Hassan vom 18. Juni 1997 und die zeitlos gültige Aktualität und neue erschütternde Brisanz seit 2023 sind mit ein Grund, diese ungewöhnliche Erzählung und auch die interessanten, in ihrer Vielseitigkeit das Thema mit weiterem Wissen vertiefenden Anhänge zu lesen.
„Nichts rechtfertigt das furchtbare Morden am 7. Oktober, aber ich denke, was wir vorher getan haben und auch jetzt noch tun, hilft uns ganz bestimmt nicht, die nächste Katastrophe zu verhindern. Und die Grausamkeit der Hamas am Schwarzen Schabbat rechtfertigt nicht retroaktiv die langen Jahre drakonischer Kontrolle über das Leben der Palästinenser.“ (Zitat Pos. 742)
Thema und Inhalt
Dror Mishani nimmt am 7. Oktober 2023 gerade an einem Krimifestival in Toulouse teil, als seine Ehefrau Martha ihn anruft und ihm die Luftangriffe aus Gaza schildert. Raketen auf Tel Aviv sind nichts Ungewöhnliches, doch diesmal ist es anders und bald ist klar, das ist keiner der üblichen Angriffe, das ist wieder Krieg. Soll Mishani in Frankreich bleiben und Flugtickets für seine Familie besorgen, er überlegt nur kurz, entscheidet sich, nach Israel zurückzukehren. Zu Hause beginnt er, ein Tagebuch zu schreiben, schildert die aktuelle Situation, die Versuche, dennoch den Alltag zu leben. Mishani schreibt über die Gespräche und Diskussionen innerhalb seiner Familie. Einfühlsam, aber teilweise auch ratlos, beschreibt er am Beispiel seiner beiden Kinder, wie Jugendliche versuchen zu vestehen, was gerade passiert und ihre unterschiedliche Art, mit der Situation umzugehen. Er beobachtet, schaut nicht weg, sieht das große Leid auf beiden Seiten. Auch die Spaltung, die durch israelische Gesellschaft geht, ist für ihn ein wichtiges Thema. Gerade von Kulturschaffenden wird erwartet, dass sie nicht nur die Angriffe der Hamas verurteilen, sondern die israelischen Gegenschläge befürworten, eine Meinung, die Dror Mishani nicht teilen kann.
Aus den Berichten über einzelne Schicksale erwachsen in seiner Vorstellung Themen, Figuren und Ideen für neue Artikel und der Stoff für einen neuen Kriminalroman, der während dieses Krieges spielen soll. Er liest, sammelt Artikel, recherchiert. Sein Tagebuch endet mit dem Abgabetermin des Verlages und so ist es eine Geschichte mit einem offenen Ende.
Umsetzung
Das Tagebuch ist in sechs Abschnitte gegliedert, die jeweils mit einer Überschrift und einer Datumsangabe versehen sind. Teil I beginnt am 7.10.2023 und Teil VI endet am 10.03.2024. Die Einträge umfassen neben den jeweiligen Episoden mit persönlichen Erlebnissen auch Gedanken, Notizen und Ausschnitte aus Medienberichten. Am Ende das Buches finden sich ein kurzer Epilog, ein Zitatnachweis und eine kurze Biografie von Dror Mishani.
Fazit
Dror Mishani schreibt authentisch aus dem Alltag in Tel Aviv, der dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 folgt. Er ist ein genauer Beobachter, informiert sich umfassend über das Geschehen auf beiden Seiten und so ist dieses Buch auch ein eindringliches Plädoyer für den Frieden, damit dieses kaum in Worte zu fassende Leid aller Betroffenen ein Ende hat.
„Die Wege der Literatur und des Lebens neigen dazu, sich auf alle möglichen und unmöglichen Arten zu kreuzen. Und die dabei entstehende Reibung fördert vielfach beunruhigende, manchmal auch augenöffnende Wahrheiten zutage.“ (Zitat Seite 127, 128)
Inhalt
Fast dreißig Jahre ist es nun schon her, dass Mario Conde „El Conde“ den Polizeidienst verlassen hat. In diesem Jahr 2016 stehen zwei einmalige Ereignisse unmittelbar bevor: der amerikanische Präsident Barack Obama besucht Kuba, ein Besuch, der mit großen Hoffnungen verbunden ist. Auch die Rolling Stones setzen ein Zeichen und geben ein kostenloses Open-Air-Konzert in Havanna. Die Stadt vibriert vor Vorfreude und Aufregung. Da wird Reynaldo Quevedo, in den 1970ern einer der meistgefürchteten Politiker und bis meistgehassten Männer, ermordet aufgefunden und Mario Condes ehemaliger Kollege bei der Polizei Manuel „Manolo“ Palacios, braucht seine Hilfe bei den Ermittlungen. Gerade in diesen Tagen müssen die Ermittlungen besonders diskret erfolgen und es werden schnelle Resultate verlangt. Mario Conde sagt zu, obwohl er gerade einen Abendjob angenommen hat und mit eigenen Recherchen beschäftigt ist, die ihn in die Jahre 1909 und 1910 in Havanna zurückführen, zu einem jungen Ermittler, zu Morden im Rotlichtmilieu und zu der schillernden, charismatischen Legende Alberto Yarini Ponce de León.
Thema und Genre
In diesem gesellschaftskritischen, literarischen Kriminalroman geht es um die politische und gesellschaftliche Situation Kubas im Jahr 2016 und mehr als einhundert Jahre zuvor. Themen sind Korruption, Machtmissbrauch, kulturelle Diktatur, die Armut der Bevölkerung, unerfüllte Lebensträume, aber auch Freundschaft, Liebe und Lebensfreude. Die wichtigste Frage aller Figuren damals und heute ist die persönliche Definition des Begriffes Anstand und was es bedeutet, ein anständiges Leben zu führen.
Charaktere
Die Lebenseinstellung von Mario Conde wurde mit den Erfahrungen der Jahre und durch die genaue Beobachtung des Alltagslebens in Kuba nicht optimistischer, im Gegenteil. Kritisch verfolgt er die Vorgänge in seinem Heimatland und er lässt sich von der Euphorie im Vorfeld der beiden Großereignisse nicht überzeugen. „Marío Conde, der eingefleischte Pessimist, verfügte womöglich über ein zu umfangreiches historisches Wissen und war, was manche Dinge anging, so oder so von unheilbarem Misstrauen erfüllt, jedenfalls hatte er das Gefühl, sein Land genieße gerade lediglich eine kurze Verschnaufpause, nach deren Ende sich die Härte wiedereinstellen würde.“ (Zitat Seite 229)
Erzählform und Sprache
Padura erzählt auch in diesem Roman zwei Geschichten, die einander abwechseln. Um die Zuordnung einfach zu gestalten, wählt er für die Abschnitte rund um El Condes Ermittlungen im Jahr 2016, die innerhalb von wenigen Tagen stattfinden, nur die fortlaufende Nummerierung als Überschrift. Die Kapitel mit den Geschehnissen in den Jahren 1909, 1910 tragen Überschriften. Den unterschiedlichen Inhalten folgend, wird der aktuelle Handlungsstrang in der dritten Person geschildert, mit Marío Conde im personalen Mittelpunkt. Die historischen Ereignisse dagegen werden als Aufzeichnungen in der ersten Person erzählt. Es ist Paduras besondere Art zu schreiben, die begeistert, mühelos wechselt er zwischen umgangssprachlichen Dialogen, literarischen Schilderungen und philosophischen Gedankenströmen. Havanna im Ausnahmezustand durch Obamas Besuch – für Padura eine Gelegenheit, dies kritisch zu betrachten und durch die Gedanken und Beobachtungen Condes die Realität in Kuba zu beschreiben.
Fazit
Zwei facettenreiche Geschichten, lose vernetzt, ergeben interessante Einblicke in das Leben in Havanna 1910 und mehr als einhundert Jahre später, im wichtigen Jahr 2016 mit den zwei besonderen Großereignissen. Eine spannende, interessante Mischung aus kritischem Gesellschaftsroman, politischem Roman, historischem Roman und Kriminalroman in einer Sprache, die das Lesen zum Erlebnis macht.
„Doch hätte keiner von uns überleben können ohne die Hilfe von Franzosen in jedem Winkel des Landes – Franzosen, deren Menschlichkeit ihnen den Mut gab, diese verbliebenen Fremden aufzunehmen, zu verstecken, zu ernähren.“ (Zitat Seite 108)
Thema und Inhalt
Ihren späteren Ehemann, den Journalisten Hans Fittko, lernt Lisa bereits in Prag kennen, wohin die junge jüdische Widerstandskämpferin 1933 geflohen ist. 1939/1940 werden sie in Frankreich getrennt in Internierungslager gesperrt, sie können entkommen. Auf vielen Umwegen erreichen sie Marseille, ein wichtiger Schritt, um Frankreich schnellstmöglich verlassen zu können. Sie haben die benötigten Papiere, doch es fehlt ihnen, wie vielen anderen Flüchtlingen, das französische Ausreisevisum, das nur in Vichy ausgestellt wird, welches jedoch unter deutscher Kontrolle steht. Daher kommt nur ein illegaler Grenzübertritt in Frage, von Banyuls-sur-Meraus über die Pyrenäen nach Spanien. Walter Benjamin ist der erste von vielen Menschen, den sie über diesen Weg führen. Gerade als sie selbst aufbrechen wollen, tritt Varian Fry vom Emergency Rescue Committee an sie heran. Er benötigt eine erfahrene Anlaufstelle vor Ort. Sie überlegen nur kurz, riskieren es, bleiben, und aus der Route Lister wird die F-Route, Rettung für Tausende von Menschen.
Umsetzung
Unaufgeregt, ohne ihren immer gefährlichen, unermüdlichen Einsatz (oft gehen sie und Hans den Weg drei Mal pro Woche) zu glorifizieren, schildert Lisa Fittko die Ereignisse dieser Zeit. Sie beginnt mir einer kurzen Vorgeschichte, ihre Jugendzeit in Wien und Berlin, dann Prag. Es folgt der Sommer 1940 im berüchtigten Lager Gurs, immer unter der Gefahr, an die Deutschen ausgeliefert zu werden. Die Zeit in Banyuls-sur-Mer 1940/1941 wird in Tagebucheinträgen vom 12. Oktober 1940 bis zum 26. März 1940 geschildert. Daran schließt die endgültige Reise nach Kuba im Herbst 1941 an und eine kurze Zusammenfassung der darauffolgenden vierzig Jahre. Am Buchende findet sich eine Zeittafel, je ein Artikel über die Internierungspraxis in Frankreich, das Emergency Rescue Committee, ein Namensregister mit kurzen Lebensläufen und ein Verzeichnis der französischen Bezeichnungen und Redewendungen.
Die Sprache von Lisa Fittko ist persönlich, lebhaft und interessant. Sie schildert detailgenau und präzise, wie sie die F-Route immer wieder anpassen müssen, neue Möglichkeiten suchen, ein Netzwerk aufbauen, erzählt von hilfsbereiten Menschen auf beiden Seiten der Pyrenäen, aber auch von dem Gegenteil davon. Es ist immer spannend und für alle Beteiligten lebensgefährlich, manche Ereignisse sind besonders problematisch, andere skurril-komisch und hier zeigt sich Lisa Fittkos Humor.
Fazit
Dieses Buch ist eine Mischung aus autobiografischen Erinnerungen und Tagebuch, und ist gleichzeitig ein authentischer Tatsachenbericht dieser Zeit. Es sind zeitlos aktuelle Ereignisse, die hier erzählt werden und die durchgehend packende Spannung lässt zeitweise beinahe vergessen, dass es sich hier um die lebensbedrohliche Realität in einer furchtbaren Zeit handelt. Das vorliegende Buch ist auch eine empfehlenswerte, wichtige Ergänzung zu dem im Februar 2024 erschienenen, ebenso empfehlenswerten Buch „Marseille 1940“ von Uwe Wittstock.
„Ich verließ Amerika, die Taschen vollgestopft mit den Listen der Namen von Männern und Frauen, die ich retten müßte, und den Kopf voller Ideen, wie ich das bewerkstelligen wollte. Es waren mehr als zweihundert Namen, und viele Hundert kamen später dazu.“ (Zitat Seite 11)
Thema und Inhalt
1935 besucht Varian Fry Deutschland und erlebt in Berlin bereits die ersten großen Judenverfolgungen mit. Als daher vergeblich jemand gesucht wird, der die neu gegründete amerikanische Hilfsorganisation Emergency Rescue Committee (ERC) vor Ort leitet, ist es für Varian Fry selbstverständlich, im August 1940 selbst nach Marseille zu reisen. Denn die Zeit drängt und die Gefahr wurde mit dem Waffenstillstandsabkommen vom Juni 1940 zwischen Frankreich und Deutschland besonders für deutsche Emigranten, die auf den Listen der Gestapo standen, täglich größer. Eine Klausel besagt, dass sich die französische Vichy-Regierung verpflichtet, Deutsche auf Verlangen der Gestapo an diese auszuliefern. Auf den Listen stehen die Namen von bekannten jüdischen Intellektuellen, Schriftstellern, bildenden Künstlern, aber auch von Widerstandskämpfern und politischen Flüchtlingen. Aus den geplanten wenigen Wochen werden dreizehn Monate, in denen Fry und sein Team sich immer neuen Situationen und Hindernissen stellen müssen, neue Wege suchen, Länder, die noch bereit waren, Flüchtlinge aufzunehmen, oder zumindest Visa auszustellen. Bald werden auch Fry und das ERC genau beobachtet, bis er im August 1941 unter Zwang nach Amerika zurückkehren muss.
Umsetzung
Chronologisch erzählt der Journalist Varian Fry die Geschichte des Emergency Rescue Committee in Marseille, schildert die Entwicklung von immer neuen kreativen Fluchtwegen, die Probleme mit den Behörden, falsche Hoffnungen, Rückschläge, plötzliche Lichtblicke und erfolgreich durchgeführte Aktionen. Manche Flüchtlinge müssen erst aus französischen Konzentrationslagern befreit werden und immer wieder müssen fehlende Dokumente, Passierscheine, Reisepässe beschafft werden, oder sichere Fälschungen dieser Unterlagen. Doch es geht auch um die Weiterreise, bald gibt es kaum mehr Schiffe und gerade Amerika prüft die politische Gewinnung genau, bevor ein Einreisevisum erteilt wird, stringent bereits bei Mitgliedern von sozialistischen Parteien. Spanien und Portugal dagegen bestehen auf Visa von Übersee-Ländern, aus Sorge, die Flüchtlinge könnten im Land bleiben. Es sind bekannte Namen wie Lion Feuchtwanger, Heinrich und Golo Mann, Franz Werfel und Max Ernst, deren illegale Flucht aus Frankreich Fry, seine engen Mitarbeiter und heimlichen Helfer ermöglicht haben. Fry schildert unaufgeregt, sachlich, ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, dies macht seinen Tatsachenbericht nicht nur von der ersten Seite an extrem packend, sondern auch sehr sympathisch.
Fazit
Ein authentischer, geschichtlich sehr interessanter Bericht, spannend wie ein Thriller und man muss sich selbst beim Lesen in Erinnerung rufen, dass es hier ausschließlich um reale Schicksale, Gefahren und Erlebnisse von Menschen auf der Flucht vor der Ermordung in einem Konzentrationslager handelt. Es sind selbstlose und sehr mutige Menschen, die im ERC unermüdlich und unter Einsatz des eigenen Lebens tätig sind. Ein zeitlos brisantes Buch und eine wichtige Ergänzung zu dem im Februar 2024 erschienenen, ebenfalls großartigen Buch „Marseille 1940“ von Uwe Wittstock.
„In diesen Monaten füllte Kafka seine Notizbücher mit Aufzeichnungen, in denen er sich Rechenschaft ablegt und sein Denken erkundet über Gott und die Welt, über die Kunst, über sich selbst und über seinen bisherigen Lebensweg.“ (Zitat Seite 154)
Thema und Inhalt
Immer wieder ist in den Briefen und Tagebucheintragungen von dem hohen Stellenwert zu lesen, den das Schreiben im Leben von Franz Kafka einnahm und dem er alles andere unterordnete. Das Thema dieser besonderen Biografie ist Franz Kafka als Schriftsteller, seine Probleme und Konflikte, seine Suche, die persönlichen Erfahrungen, die ihn geprägt haben und immer wieder neu prägen, schreibend in Texten zu verarbeiten.
Umsetzung
Rüdiger Safranski schildert das Leben von Franz Kafka in dreizehn Kapiteln zwar chronologisch, doch seine Herangehensweise unterscheidet dieses Buch deutlich von den bekannten Biografien. Safranski ergänzt jeden Abschnitt mit zahlreichen Auszügen aus Kafkas Briefen und Tagebüchern. Gleichzeitig verbinden sich die jeweiligen Ereignisse im Leben von Franz Kafka mit den Texten, die in der entsprechenden Zeit entstehen. Vertiefend sucht Rüdiger Safranski die gedanklichen Verbindungen, die wichtigen Themen, die Franz Kafka immer wieder beschäftigen, und begründet, wie und in welchen seiner Texte Kafka seine Zweifel, tiefe Konflikte, die immer wieder präsent sind, Fragen und Eindrücke verarbeitet. So ergibt sich eine Vielzahl von neuen Blickwinkeln für uns Leser, interessante Facetten und Aspekte, unter denen wir Franz Kafkas Werk neu erlesen und erleben können. Was die Sprache von Rüdiger Safranski auszeichnet, ist ihre trotz der komplexen Themen verständliche Lesbarkeit und Leichtigkeit. Auch der umfangreiche Anhang mit den Quellennachweisen zu den einzelnen zitierten Textstellen und dem Literaturverzeichnis ist klar und übersichtlich strukturiert.
Fazit
„Dieses Buch verfolgt eine einzige Spur im Leben Franz Kafkas, es ist die eigentlich naheliegende: Das Schreiben selbst und sein Kampf darum.“ (Zitat Seite 9, Vorbemerkung) Besser als Rüdiger Safranski selbst kann man nicht auf den Punkt bringen, was dieses interessante Buch zu einem beeindruckenden Leseereignis macht.
„Irgendetwas war mir verlorengegangen, so verloren, dass ich nicht einmal mehr genau wusste, was es gewesen war, dass ich es nach und nach nicht einmal mehr richtig vermisste, so gründlich war es verlorengegangen in all dem Durcheinander.“ (Zitat Seite 43)
Inhalt
In diesem Sommer 1940 begegnen sich in Marseille Menschen auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, und da sich ihre Wege gleichen, von Konsulaten zu französischen Behörden und umgekehrt, treffen sie einander immer wieder. Gerüchte über Schiffe, die noch auslaufen, führen zu neuen Hoffnungen, und alle, die davon hören, begeben sich sofort auf den Wettlauf um die benötigten Papiere, um einen der begehrten Plätze zu erhalten. In dieser Menschenmenge trifft der deutsche Ich-Erzähler Seidler immer wieder auf eine junge Frau, die verzweifelt nach jemandem zu suchen scheint. Spontan verliebt er sich in diese Frau, folgt ihren Spuren, bis er durch einen Zufall erfährt, dass sie Marie heißt und ihren Ehemann sucht, den Schriftsteller Weidel, für den auf dem mexikanischen Konsulat bereits ein Visum bereitliegt. Was sie nicht ahnt ist, wie nahe sie durch den deutschen Ich-Erzähler ihrem Mann gekommen ist. Seidler schweigt, verfolgt seine eigenen Pläne, hilft Freunden und Bekannten, während er darüber nachdenkt, was er wirklich will.
Thema und Genre
In diesem Roman geht es um die Fluchtwege aus der lebensbedrohlichen Umklammerung durch die Nationalsozialisten in Europa, und die beinahe schon geschlossenen Routen nach Übersee. Transit wörtlich als Durchgang, Übergang, Durchreise und metaphorisch für die Entscheidung zwischen Gehen und Bleiben. „Um das zu sehen worauf es ankommt, muss man bleiben wollen. Unmerklich verhüllen sich alle Städte für die, die sie nur zum Durchziehen brauchen.“ (Zitat Seite 289)
Erzählform und Sprache
„Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende.“ (Zitat Seite 6) Der Ich-Erzähler lädt einen Unbekannten zu einem Glas Wein ein und beginnt zu erzählen. Seine Geschichte beginnt mit der Flucht aus einem Arbeitslager in Rouen. Ein unfertiges Manuskript des Schriftstellers Weidel und die damit verbundenen Ereignisse verändern den Ich-Erzähler langsam. Je mehr er in das Leben des Schriftstellers eintaucht, desto mehr lernt er, zuzuhören und Verantwortung zu übernehmen. Daher umfasst eine Geschichte auch die Schicksale der Menschen, die immer wieder seinen Weg kreuzen. So ergibt sich quasi ein Augenzeugenroman dieser Zeit, denn Anna Seghers ist eine genaue Beobachterin und der Stoff für diesen Roman entstand aus ihren eigenen Erlebnisse und Erfahrungen.
Fazit
Ein zeitlos lesenswerter und ebenso zeitlos aktueller Roman, ein einfühlsames Zeitdokument, in dessen Mittelpunkt Menschen auf der Flucht stehen. Angst, Hoffnung, Mut, Verzweiflung, Freundschaft, Liebe, persönliche Entscheidungen, dies alles ist in dem einen Wort Transit vereint.
„Ich hoffte, so viele Aufträge wie möglich zu kriegen. Sie sollten mich zurück in der Realität verankern.“ (Zitat Seite 98)
Inhalt
Sascha Konjovic, achtunddreißig Jahre alt, ist Taxifahrer in Wien, Nachtfahrer für Nachtschichten. Das Warten auf Fahrgäste lässt ihm genug Zeit, um Jazz zu hören und in Kafkas Tagebuchaufzeichnungen zu lesen. An diesem Montag, 2. Februar 2015, kommen gegen 21 Uhr ein älterer Mann mit einem Aktenkoffer und eine deutlich jüngere Frau mit einem Rollkoffer aus dem Westbahnhof und steigen in sein Taxi. Es ist diese Frau, sie heißt Eugenie, wie die Tänzerin in Kafkas Aufzeichnungen, die Sascha nicht mehr aus dem Kopf geht. In seinem Wagen bleiben ein Hauch ihres Parfums zurück und eine lachsfarbene Rose, und er spürt, dass seine Geschichte mit Eugenie noch nicht zu Ende ist.
Thema und Genre
In diesem Roman geht es um unterschiedliche Wahrnehmungen von Wirklichkeit und Scheinwelten, um ein alltägliches Leben, in dem die Grenzen zwischen Realität und Phantasie pendeln, sich vermischen bis zur Auflösung. Die literarische Themenwelt von Franz Kafka in einer modern Version in das heutige Wien transferiert.
Erzählform und Sprache
Schon die Erzählform ist ungewöhnlich, unterstreicht jedoch perfekt diese Geschichte, denn sie ist ausschließlich in der direkten Rede geschrieben, auch alle Ereignisse, die sich zuvor zugetragen haben, werden in Dialogform geschildert. Es ist Sascha, der mit seinen Fahrgästen spricht, aber nicht alle, die sich in Saschas Gedanken drängen und mitreden, leben noch, und dies trifft nicht nur auf Franz Kafka zu. „Irgendwann kannst du nicht mehr entscheiden, wer du bist und wer die anderen sind, wer echt ist, wer nicht.“ (Zitat Seite 8) Die Geschichte selbst umfasst nur zwei Tage und führt uns Leser gekonnt und ganz im Stil von Kafkas Erzählungen mehrmals in die Irre, auch wenn wir bald eigene Vermutungen anstellen, verschwinden auch für uns die Grenzen zwischen der Wirklichkeit und den von Sascha in seinen Gedanken geschaffenen Scheinwelten. Dadurch bleibt die beklemmende Spannung bis zur letzten Seite aufrecht und auch unser Verständnis für die verschrobene, aber sympathische Hauptfigur.
Fazit
Hans Platzgumer gelingt mit diesem Roman eine ungewöhnliche, packende Hommage an Franz Kafka. Ein bizarres, skurriles, verwirrendes, trauriges, beklemmendes, doch gleichzeitig auch positives Leseerlebnis.
„Früher oder später macht beinahe jeder von uns diese süß-bittere Erfahrung mit der unerfüllten Liebe.“ (Zitat Seite 5, Vorwort von Katarina Grgić)
Inhalt
Dieser ansprechend gestaltete Lyrikband enthält 222 Gedichte, verfasst von 222 Personen. Die Gedichte sind alphabetisch nach den Namen der Verfasser und Verfasserinnen geordnet, was eine abwechslungsreiche, vielfältige Mischung ergibt.
Themen und Sprache
Dieser Gedichtband ist aus einem Lyrikwettbewerb entstanden und die hier enthaltenen Texte wurden von einer Jury aus einer Fülle von eingesendeten Texten ausgewählt. Vorgegeben war nur das Thema einer nicht erwiderten, heimlichen oder hoffnungslosen Liebe, weitere Einschränkungen gab es nicht. So finden sich in dieser Sammlung Gedichte, in denen sich zumindest die Wortpaare gefunden haben und sich in unterschiedlichen Reimformen vereinen. Andere wieder spielen mit der Sprache, frei fließend malt sie Bilder und Gefühle in unsere Gedanken. Es sind Alltagsgedichte, die sich mit einer Problematik und Situation im Leben auseinandersetzen, die wohl die meisten von uns kennen und die zeigen, sich mit dieser Enttäuschung auseinanderzusetzen, sich schreibend dem Spiel mit der Vielfalt der Sprache zu nähern, Enttäuschungen, Trauer, Frust in Worte zu fassen, ist ein möglicher Schritt, damit umzugehen.
Fazit
Sonett, Haiku, ein englischer Text, Gereimtes und Ungereimtes, sie alle haben hier etwas gemeinsam: sie setzen sich intensiv mit den Facetten der Liebe auseinander und in diesem Fall einer Liebe ohne Happy End.
„die bienen im hof / vom erblühten löwenzahn / löffeln sie honig“ (aus: Nachtwindsucher, Zitat Seite 67)
Inhalt
Dieser ansprechend gestaltete Band Nr. 1493 der Insel-Bücherei enthält achtunddreißig Gedichte und Prosatexte aus den Jahren 1950 bis 1993 des österreichischen Schriftstellers und Lyrikers H. C. Artmann. Illustrationen ergänzen die Texte, es sind Holzschnitte des Künstlers Christian Thanhäuser, die zu diesen Gedichten entstanden sind.
Themen und Sprache
Das Thema aller hier gesammelten Gedichte und Texte ist, wie schon der Titel erahnen lässt, die Natur in allen ihren Varianten. H. C. Artmann war immer neugierig, hörte nie auf, immer neue Möglichkeiten der Sprache zu suchen, zu probieren, von alten Strophenformen und Mythen bis zu der ihm eigenen, modernen Ausdrucksweise, und in seinen Gedichten anzuwenden. Er lädt zum Nachdenken ein, zum Schmunzeln und laut Auflachen, und überrascht immer wieder mit seinen Wendungen. In einem der Prosatexte lernen wir, was eine Gstättn ist und ein paar Gedichte sind Mundarttexte, die mich vor vielen Jahren abgeschreckt haben. Jetzt habe ich für mich endlich einen Weg gefunden: laut, oft und mit unterschiedlichen Betonungen lesen, dann erschließt sich hier die Wiener Seele.
Unvergleichlich ist Artmanns Version der klassischen, heimatlichen Naturlyrik „die sonn gleißt durch die äste,/es ist ein stiller tag,/die rinder muhn aufs beste/und schafe blöken zag.“ (Aus: ich hör den tosbach rauschen, Zitat Seite 62)
Der bekannte Schriftsteller Clemens J. Setz, ebenfalls ein neugieriger Sprachvirtuose, verfasste im September 2020 das Nachwort zu diesem Buch.
Fazit
Die klugen und vielseitigen Sprachspiele mit ihren oft paradoxen Wendungen, die dennoch vertraut, geerdet bleiben, verzaubern zeitlos. Worte wie „mit himbeer fingern schrieb der abend/seinen Vers“ (Zitat Seite 34) malen immer neue Gedankenbilder – Lesevergnügen.
„Ihr Tinyhouse, nicht breiter als eine Fahrspur, wird sie nicht beengen, davon ist sie überzeugt. Vielmehr ihren Raum ins nahezu Grenzenlose öffnen.“ (Zitat Pos. 47)
Inhalt
Alex, etwas über sechzig Jahre alt, war sechsunddreißig Jahre lang als Lehrerin tätig, nun geht sie in Pension. Für sie ist es ein neugieriger Aufbruch in eine neue Freiheit. Ein Auto und ein Tinyhouse auf Rädern, nach ihren Wünschen geplant und sorgfältig eingerichtet, damit beginnt ihr Abenteuer. Auf der Hochzeit ihrer Lieblingsschülerin Wibke lernt sie auch deren Schwiegervater Johann kennen. Dieser, bald sechsundfünfzig Jahre alt, übergibt das Familienunternehmen, ein Bestattungsunternehmen, an seinen Sohn. Auch Johann braucht eine Auszeit, er will wieder malen. Das von seinem Onkel Renat geerbte, alte Rustico in Ligurien bietet sich dafür an. Als er Alex dorthin einlädt, nimmt sie die Einladung an und bald steht ihr Tinyhouse im Garten des Rusticos. Gemeinsam erkunden sie die Gegend, lauschen dem Gesang der Zikaden und spüren bald, dass dies mehr ist, als nur ein Besuch.
Thema und Genre
In diesem Roman geht es um das Altern als Chance, mit dem Ende des aktiven Berufslebens aus dem bisherigen Alltag aus- und aufzubrechen. Damit verbunden ist eine persönliche Freiheit, etwas völlig Neues zu tun. Weitere Themen sind Familie, Freundschaft und die wilde Schönheit Liguriens.
Erzählform und Sprache
Die Geschichte wird chronologisch erzählt, Erinnerungen und Gespräche ergänzen die Handlung mit vergangenen Ereignissen aus dem Leben der beiden Hauptfiguren Alex und Johann, die im personalen Mittelpunkt stehen. Es sind die kleinen Erlebnisse des Alltags, die in diesem Roman geschildert werden, zwei ältere Menschen auf der Suche danach, wie sie ihr weiteres Leben gestalten wollen. Durch diese Kernthemen dominieren die Gespräche und persönlichen Gedanken die Handlung, die ebenso ruhig fließt, wie die Sprache, in der die Geschichte von Alex und Johann erzählt wird.
Fazit
Ein Roman über das Altern und die Suche nach neuen Möglichkeiten als Ausbruch aus dem Alltagstrott des bisherigen, durch den Beruf geprägten Lebens. Der Handlungsort Ligurien verbreitet südliches Flair und eine Wohlfühlatmosphäre
„Im Schatten dieses Konflikts wurde die Betrachtung des Flüchtlingsproblems von einer Reihe irrelevanter Streitpunkte und gewissermaßen ablenkender langfristiger Ziele überlagert, deren Diskussion sich in endlosen Komplikationen und gegenseitigen Schuldzuweisungen verlor.“ (Zitat Pos. 582)
Thema und Inhalt
Die beiden Texte aus den Jahren 1944 und 1958 stehen in einem direkten Zusammenhang mit der Situation in Israel und Palästina in den jeweiligen Jahren. Der erste Text ist ein Essay von Hannah Arendt, „Amerikanische Außenpolitik und Palästina“. Dieser Essay wurde von Thomas Meyer erst jetzt in einem Archiv entdeckt.
Der zweite Text ist ein Bericht mit dem Titel „Das palästinensische Flüchtlingsproblem“. Dieser umfassende Bericht schildert die Situation der aus Israel vertriebenen und geflüchteten Palästinenser und schlägt Lösungsansätze für deren Rückkehr nach Israel vor. Verfasst wurde dieser zweite Text von einem eigens dafür eingerichteten Gremium zum palästinensischen Flüchtlingsproblem, dem Institute für Mediterranean Affairs. Diesem Gremium aus unterschiedlichen Fachleuten gehörte auch Hannah Arendt an, was Thomas Meyer ebenfalls erst jetzt, während seiner Recherchen, herausgefunden hat.
In beiden Texten geht es um die Situation im Nahen Osten, um Israel, Palästina und die Suche nach einer Lösung. Interessant ist vor allem die Herangehensweise des Expertengremiums, denn der Bericht listet nach einer Einleitung sechs nicht relevante Aspekte auf, die nicht geeignet sind, in dieser emotional extrem kritischen Konfliktsituation diskutiert zu werden. Dies sind vor allem die Fragen nach der Schuld, historischen Ansprüchen und die Frage, wer recht hat. Erst dann folgen die Daten, Statistiken, Fakten, eine kritische Beleuchtung der Problematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln und die Lösungsvorschläge.
Gestaltung
Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Thomas Meyer. Es folgt der Essay von Hannah Arendt. Daran schließen Texte und Kurzfassungen einzelner Gremiumsmitglieder an, dann der gesamte Text „Das Palästinensische Flüchtlingsproblem. Ein neuer Ansatz und ein Plan für eine Lösung“, der auch eine Chronologie der Ereignisse zwischen November 1947 und August 1958 enthält. Beide Texte werden durch Fußnoten mit erklärenden Details, vertiefenden Hinweisen und Anmerkungen des Übersetzers ergänzt. Mit von Thomas Meyer verfassten Kurzbiografien der Gremiumsmitglieder und einem ausführlichen Nachwort, ebenfalls von Thomas Meyer, mit ergänzenden Informationen zu Hannah Arendt und zu den beiden Texten, ebenfalls mit Fußnoten und Anmerkungen, endet das Buch.
Fazit
Diese beiden hochinteressanten Texte haben bis heute nichts von ihrer Brisanz und Aktualität verloren. Sie haben die Situation bereits 1944 und 1958 auf den Punkt gebracht und auch die Lösungsvorschläge sind zeitlos. „Doch auch wenn die Publikation vor über 65 Jahren erfolgte, lohnen die Lektüre und die Reflexion über die Ausführungen unbedingt. Es war noch nie klug, das Wissen und die Hoffnungen früherer Generationen zu ignorieren.“ (Zitat Pos. 4048) So formuliert es Thomas Meyer in seinem Nachwort, und besser kann man es nicht formulieren und begründen, warum dieses Buch gelesen werden sollte.
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