Der große Fehler – Jonathan Lee

AutorJonathan Lee
Verlag Diogenes
Erscheinungsdatum 23. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ÜbersetzungWerner Löcher-Lawrence
ISBN-13978-3257071917

„Ich möchte die Geschichte wichtiger Gesetze verstehen, ihre Entstehung, Entwicklung und was sie bewirken, um so herauszufinden, ob das Geheimnis, wie man einen Fall für einen Klienten gewinnt, manchmal nicht vielleicht in der Vergangenheit liegt.“ (Zitat Seite 253)

Inhalt

Der bekannte New Yorker Visionär, erfolgreiche Anwalt und kreative Stadtplaner Andrew Haswell Green ist tot. An diesem 13. November 1903 vor seinem Haus erschossen. Er hat die aufstrebende Stadt New York in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für immer verändert, indem er Schulen, Museen, die Bibliothek und den grünen Erholungsraum im Herzen der Stadt schuf und alles für alle Bevölkerungsschichten frei zugänglich. Der Täter stellt sich noch am Tatort. Inspector McClusky erhält die Aufgabe, die Hintergründe der Tat zu ermitteln, die Wahrheit zwischen wilden Spekulationen und Vermutungen zu finden.

Thema und Genre

Dieser Roman basiert auf einer wahren Geschichte und realen Personen. Im Mittelpunkt steht der “Father of Greater New York“ Andrew H. Green, eine der Schlüsselfiguren der New Yorker Stadtentwicklung, der nach seiner Ermordung mit den Jahren in Vergessenheit geriet, während die von ihm angeregten und mit seiner Unterstützung umgesetzten Objekte auch heute noch weltweit bekannt und berühmt sind.

Charaktere

Die meisten Personen der Handlung haben wirklich gelebt, der Autor ergänzt mit nur wenigen fiktiven Figuren dort, wo es in den Archiven keine Aufzeichnungen über die realen beteiligten Personen gab. Schmunzeln musste ich über den Text auf der Buchrückseite im Zusammenhang mit den Ermittlungen 1903 „Was wussten … der Präsidentschaftskandidat Tilden …“ denn Tilden ist bekanntlich bereits 1886 verstorben.

Handlung und Schreibstil

Die Idee und der Wunsch des Autors, den beinahe vergessenen „Father of Greater New York“ Andrew H. Green den Menschen wieder in Erinnerung zu rufen, überzeugt mich, auch seine genauen Recherchen, nicht jedoch die Umsetzung. Die Handlung besteht aus Einzelepisoden, welche abwechselnd die Herkunft, Jugend und den Werdegang von Andrew H. Green und seine langjährige Freundschaft mit dem bekannten Rechtsanwalt und Politiker Samuel J. Tilden schildern, und in einem zweiten Erzählstrang die Mordermittlungen von Inspector McClusky. In diesen nicht immer chronologischen Schnipseln aus dem Leben von Andrew H. Green und den bekannten Personen in seinem Umfeld, geht es vor allem um deren Eigenschaften, Gedanken und Gefühle. Greens unermüdlicher Einsatz für Bildung, Kultur und begehbare Freiräume für alle Bevölkerungsschichten kommt zu kurz, der Autor geht nur genauer auf die Errichtung des Central Parks ein. Die Sprache erzählt ruhig, scheint mir an die Ausdrucksweise der Zeit des späten 19. Jahrhunderts angepasst. Sehr gut gefällt mir die Idee, die einzelnen Kapitel mit den Namen der Eingangstore zum Central Park zu betiteln.

Fazit

Ich hatte eine spannende Geschichte in Anlehnung an die bekannten Fakten und wichtigen Ereignisse dieser für die Geschichte und Entwicklung New Yorks so prägenden Zeit erwartet, dieser Roman ist für mich eher eine Zusammenreihung von Szenen und Episoden aus dem Leben der beteiligten Personen. Der innere Klappentext verspricht einen mitreißenden Roman – ich habe ihn gerne gelesen, mich durchaus unterhalten gefühlt, aber er konnte mich nicht mitreißen. Für mich reiht sich dieses Buch in die lange Liste der in den letzten Jahren boomenden Romane ein, die sich fiktiv und romanhaft mit dem Leben von bekannten Persönlichkeiten beschäftigen, oder einem bestimmten Abschnitt aus dem Leben der jeweiligen Künstler, Künstlerinnen, ihrer Partner und Partnerinnen, und findet damit sicher begeisterte Leserinnen und Leser finden.

Die Ahnungslosen – Wolfgang Popp

AutorWolfgang Popp
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 13. September 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten280
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3903005419

„Gewöhnlich trinkst du in so einer Situation den Rest von deinem Bier in einem Zug aus, schüttelst dir den Kopf leer und drehst dich um in Richtung Weiter-Geht´s. In dem Moment schaltete das Schicksal aber auf Weil-ich-schon-dabei-bin-dich-zu-Verunsichern, sagte „hi!“ und borgte sich dafür eine Stimme, die er kannte.“ (Zitat Seite 85)

Inhalt

Raul, vierunddreißig Jahre alt, ist Musiker, singt und spielt Gitarre, seine Songs schreibt er selbst. Nach zehn Jahren Amerika ist er zurück, wählt aus spontaner Neugierde die Telefonnummer seines Geburtsdatums und kurz darauf hat er einen Job im Geschäft von Karoline, Papier und Künstlerbedarf. Auf dem Weg dorthin entdeckt der das Lokal Drei Giraffen und bald darauf hat er dort seinen ersten Auftritt. Mit Karolines Bruder Walt beobachtet er eines Abends einen alten Mann, der mit seiner gelben Gießkanne einen Kastanienbaum gießt und schreibt den Song Trees, mit dem sein Erfolg beginnt, Walt findet seinen Stil als Künstler. Raul macht Christian, den Inhaber der Drei Giraffen, auf Walts Zeichnungen aufmerksam. Christians zweite Frau Lara ist Galeristin. Ebenfalls in den Drei Giraffen wird Kri, Christians erste Frau, Eventmanagerin, die Agentin der aufstrebenden Schauspielerin Zora. Immer wieder sind es die Drei Giraffen, in denen Zufälle neue Verbindungen knüpfen und alte beleben, manchmal auch verändern, neu und anders weiterführen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben in seiner Vielfalt und die Überraschungen, die es bereithält, sobald man bereit ist, sich auf Neues einzulassen, Veränderungen anzunehmen. „Plötzlich ist sie wieder wo – und nicht irgendwo, und so ungewohnt das nach so langer Zeit ist, so großartig fühlt sich das auch an.“ (Zitat Seite 72)

Charaktere

Einfühlsam und mit Humor schickt der Autor seine unterschiedlichen Figuren im Alter zwischen Mitte dreißig, Teenager und demnächst hundert Jahre alt durch ihr Leben mit Alltag, Krisen, Entscheidungen und vor allem Überraschungen. „Walter ist sich sicher, gerade den besten Moment des Abends zu erleben, aber nur weil er nicht weiß, was in den nächsten Stunden alles passiert.“ (Zitat Seite 225)

Handlung und Schreibstil

Der Autor erzählt die Geschichte in kurzen Episoden, wechselt die Erzählperspektiven und  stellt seine Figuren abwechselnd in den Mittelpunkt der einzelnen Kapitel. Zunächst treffen sie sich zufällig, um sich langsam miteinander zu verbinden. Sie rücken einander geschäftlich und privat näher und damit wird Schritt für Schritt, Entscheidung für Entscheidung, schließlich ein Gesamtbild, eine aus vielen Einzelepisoden in sich stimmige, ganze Geschichte. Diese Art des Erzählens ist interessant, unterhaltsam und sehr spannend.

Fazit

„Kürze ist, wenn es kürzer nicht mehr geht, wenn nur noch die richtigen Worte übrig bleiben, und deshalb schneidet und sticht sie auch, die Kürze.“ (Zitat Seite 223). Besser kann man diesen faszinierenden Roman nicht beschreiben, kein Wort zu viel, aber auch kein Wort zu wenig. Atemloses Lesevergnügen, und man schwankt zwischen dem Weiterlesen in jeder freien Minute und einem Innehalten, Genießen, um die Zeit bis zur letzten Seite noch hinauszuzögern.

Die Einsamkeit der Seevögel – Gøhril Gabrielsen

AutorGøhril Gabrielsen
Verlag Insel Verlag
Erscheinungsdatum 14. Dezember 2020
FormatTaschenbuch
Seiten174
SpracheDeutsch
ÜbersetzungHanna Granz
ISBN-13978-3458681212

„Einen Wind, der sich in Stundenkilometern messen lässt, kann ich analysieren und bis zu einem gewissen Punkt verstehen, im Gegensatz zu Gefühlen, die sich jeglicher objektiver Messbarkeit entziehen.“ (Zitat Seite 14)

Inhalt

Seit vier Jahren schreibt die Naturwissenschaftlerin an ihrer Doktorarbeit, mit dieser Studie vor Ort über die Auswirkungen des Klimas auf die Wanderung der Seevögel und auf die Vogelbestände wird sie dann abgeschlossen sein. Anfang Januar kommt sie auf diese abgelegene Halbinsel zwischen den Fjorden in Nord-Norwegen, der nächste Ort ist etwa einhundert Kilometer entfernt, im Winter nur auf dem Seeweg zu erreichen. Hier gibt es nur mehr eine einzige Hütte, in die sie einzieht. Es war geplant, dass ihr Geliebter Jo bald nachkommt und mit ihr hier die Zeit bis zum Mai verbringt, wenn die Seevögel zum Brüten in Scharen auf diese Insel kommen. Doch Jos Ankunft verzögert sich und sie ist in dieser winterlichen Einsamkeit der Natur völlig auf sich gestellt, allein – ist sie wirklich allein?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Beziehungen, Familie, Gefühle, Erinnerungen, aber auch um das Leben in der kargen Einsamkeit des Nordens, die Schönheit der Natur, aber auch die Kraft der Elemente während der kalten, dunklen Wintermonate.

Charaktere

Die Wissenschaftlerin ist noch immer dabei, die teilweise bedrückende Ehe mit dem Vater ihrer nun dreijährigen Tochter Lina zu verarbeiten. Sie hatte damit gerechnet, dass ihr Geliebter Jo rasch nachkommen und sie die Einsamkeit der Hütte mit ihm teilen würde, denn mit der Zeit, die vergeht, macht ihr die Einsamkeit, immer nur von ihren eigenen Gedanken umgeben, zu schaffen. Die stete Veränderung zwischen der Euphorie der Ankunft und den Tagen im Februar wird durch die präzise, dichte Sprache intensiv spürbar. „Der Anblick ist überwältigend. Hier sind wir. Ich und die Elemente der Welt. Vereint.“ (Zitat Seite 15). „Die Frage scheint zu sein: Was ist es, das ich nicht sehe?“ (Zitat Seite 159)

Handlung und Schreibstil

Die Wissenschaftlerin schildert die Ereignisse als Ich-Erzählerin und teilt auch ihre Gedanken, Erinnerungen und Gefühle mit uns Lesenden. Die aktuelle Handlung umfasst einen Zeitrahmen von sieben Wochen, wird unterbrochen von einer zweiten Geschichte, die im Jahr 1870 spielt. Es ist die Geschichte einer Familie, die im 19. Jahrhundert hier an diesem Ort gelebt hat. Die Sprache verbindet die knappen, sachlichen Feststellungen der täglichen meteorologischen Daten mit den einprägsamen, großartigen Schilderungen von Landschaft und Natur. Sehr spannend ist die Gedankenwelt der Ich-Erzählerin beschrieben,  rätselhaft zwischen Realität und Einbildung.

Fazit

Eine packende, beklemmende Geschichte, eindrücklich und großartig in einer unglaublichen Dichte auf verhältnismäßig wenigen Seiten erzählt.

MERIAN live! Reiseführer Hurtigruten. Norwegen mit dem Postschiff – Ralf Schröder

AutorRalf Schröder
Verlag Merian, GRÄFE UND UNZER Verlag
Erscheinungsdatum 8. Juni 2017
FormatTaschenbuch
Seiten128
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3834224972

„Hurtigruten ist in gewisser Weise das letzte Relikt aus der Zeit, als der Wasserweg die natürliche Verbindung von Ort zu Ort war und nicht die Straße. Ein Linienschiff, das man wie eine Fähre nutzen kann, das Fracht und Passagiere mitnimmt, aber auch Touristen einen Platz an Bord bietet.“ (Zitat Seite 5)

Thema und Inhalt

Dieser handliche, kompakte Reiseführer ist die perfekte Ergänzung für die Reise selbst, wenn man sich für eine Norwegen-Reise mit dem Postschiff entscheidet.

Gestaltung

Einem kurzen Einleitungskapitel mit praktischen Informationen zur Reise, zu den Schiffen und Landausflügen folgt die eigentliche Reise. Hier halten sich Merian und der Autor genau an die Route der Postschiffe, beginnend in Bergen und endend in Kirkenes, wobei sowohl die Nordgehende, als auch die Südgehende Route angegeben sind. Von Bergen bis Kirkenes sind es insgesamt vierunddreißig Häfen und zu jedem findet sich ein Eintrag in diesem Reiseführer. Größere Orte und Städte mit längeren Aufenthalten enthalten ausführliche Informationen über Sehenswürdigkeiten, einem Stadtplan, Museen und Öffnungszeiten, Vorschläge für einen der Aufenthaltsdauer entsprechenden Spaziergang, aber auch Übernachtungsmöglichkeiten, Einkaufsadressen und Restaurants. Beschreibungen der von Hurtigruten angebotenen Landausflüge ergänzen die jeweiligen Einträge. Die bekannten MERIAN TopTen stellen zehn Höhepunkte der Reise vor und weitere zehn MERIAN Tipps informieren über weniger bekannte Sehenswürdigkeiten Die bekannten Merian-Tipps geben weitere interessante Hinweise. In der inneren Umschlagklappe finde man eine Karte von Norwegen mit der Postschiffroute. Der Reiseführer enthält auch eine Extra-Karte zum Herausnehmen zum Heraus- und Mitnehmen im Maßstab 1:2.000.000, was interessant ist, wenn man zum Beispiel Teilstücke der Route mit dem Auto zurücklegen will. Den letzten Abschnitt bieten Informationen über Norwegen, Fakten zu Wirtschaft, Bevölkerung, Geschichte Norwegens, eine Liste der wichtigsten Ausdrücke, ein kulinarisches Lexikon und praktische Tipps speziell für diese Reise.

Da die letzte Auflage dieses Reiseführers aus dem Jahr 2017 stammt, stimmen die Ankunfts- und Abfahrtszeiten in einzelnen Häfen nicht mehr, da Hurtigruten den Fahrplan geändert hat. Dies ist jedoch kein Problem, da auf den Schiffen A4-Blätter mit der Route und allen aktuellen Zeiten aufliegen, man findet diese auch auf der Hurtigruten-Seite und kann sie vor der Reise ausdrucken. Ebenfalls auf den Schiffen gibt es umfangreiche, aktuelle Broschüren mit ausführlichen Beschreibungen aller angebotenen Ausflüge und jeweils am Vortag entsprechende Informationsveranstaltungen an Bord.

Fazit

Vor gut einer Woche bin ich von einer Hurtigruten-Reise zurückgekehrt, auf der ich diesen Reiseführer in der Praxis verwenden und testen konnte. Leicht und handlich war er bei jedem Landgang in meinem Rucksack und auch an Bord habe ich damit schon die Route des kommenden Tages „erlesen“. Für mich war dieses MERIAN live! Taschenbuch der perfekte Begleiter.

Doktor Faustus: Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde – Thomas Mann

AutorThomas Mann
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 5. April 2012
FormatTaschenbuch
Seiten752
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3596904037

„Ich möchte seine Einsamkeit einem Abgrund vergleichen, in welchem Gefühle, die man ihm entgegenbrachte, lautlos und spurlos untergingen. Um ihn war Kälte – und wie wird mir zumute, indem ich dies Wort gebrauche, das auch er in einem ungeheuerlichen Zusammenhange einst niederschrieb!“ (Zitat Seite 15)

Inhalt

Dr. phil. Serenus Zeitblom ist sechzig Jahre alt, als er am 27. Mai 1943 beginnt, die Lebensgeschichte seines langjährigen Freundes Adrian Leverkühn niederzuschreiben. Der innovative Komponist ist vor drei Jahren verstorben und hat seinem Freund Serenus alle  persönlichen Aufzeichnungen und Unterlagen hinterlassen. Auf Grund dieser Aufzeichnungen schildert nun der Ich-Erzähler Serenus Zeitblom die Kindheit, Jugend, gemeinsame Studienzeit, aber auch die weiteren Lebenswege, die unterschiedlich verlaufen, sich jedoch immer wieder kreuzen. Teilweise verfasst Zeitblom die Texte zu einzelnen Kompositionen des genialen Musikers Leverkühn und erlebt auch seinen künstlerischen Werdegang schon ab der frühen Schulzeit mit, mit allen Höhen und Tiefen, geprägt von einer manchmal besessenen Hingabe zur Musik und zum Komponieren, der Suche nach neuen musikalischen Strukturen. „Nur einer so dringlich beobachtenden Freundschaft wie der meinen, konnte ein solcher  Bedeutungswechsel der Dinge fühlbar oder ahnbar werden, und Gott sei davor, daß die Wahrheit mir die Freude an Adrians Nähe beeinträchtigt hätte! Was mit ihm vorging, konnte mich erschüttern, mich aber niemals von ihm entfernen.“ (Zitat Seite 322)

Thema und Genre

Den realen Hintergrund dieses biografischen Romans um einen fiktiven Komponisten bildet die Geschichte Deutschlands zwischen 1884 und 1945, die gesellschaftlichen Veränderungen. Das alte Faust-Thema in dieser modernen Version, welche die unerschöpfliche künstlerische Schaffenskraft in den Mittelpunkt des Pakes stellt, steht für das Leben des Adrian Leverkühn, der als Künstler genial und hochbegabt, als Mensch jedoch einsam und unnahbar bis zur Gefühllosigkeit ist. Dieses Buch ist jedoch ebenso ein Gesellschaftsroman, ein zeitgeschichtliches Dokument Deutschlands in diesen wichtigen Jahren, das die Situation des Bildungsbürgertums, die Stellung der Frauen, die kulturellen und künstlerischen Strömungen, besonders in Musik und Sprache, schildert. Es ist eine weit gefasste Suche nach den kulturgeschichtlichen Gründen für die Entstehung des nationalen Gedankengutes, das sich aus dem Verständnis der deutschen Romantik entwickelt hat und mit zum Nationalsozialismus führte. Die Handlungsorte und Personen dieses Romans sind fiktiv, alle haben jedoch reale Vorbilder, dadurch wird dieser Roman auch autobiografisch geprägt.

Fazit

Meine hier notierten Bemerkungen sind keinesfalls als literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Roman von Thomas Mann zu sehen, dafür gibt es qualifizierte Fachliteratur, sondern schildern meine wichtigsten Eindrücke beim Lesen dieses interessanten, ideenreichen, zeitlosen, bis heute noch lebhaft diskutierten Romans des deutschen Literaturnobelpreisträgers.

Am roten Strand (Die Ben-Neven-Krimis Band 2) – Jan Costin Wagner

AutorJan Costin Wagner
Verlag Galiani-Berlin
Erscheinungsdatum 10. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten304
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3869712093

„Während sie einerseits gegen die Täter im „Fallkomplex Jannis“ ermitteln, müsyen sie ab sofort ihr Augenmerk auf die Frage richten, wie sie dieselben Täter schützen können.“ (Zitat Seite 192)

Inhalt

Der Ermittler Ben Neven hat im Einsatz Marko Gerhardt erschossen, der gemeinsam mit Anton Holdner den kleinen Jannis entführt hatte. Doch dies war nur der Anfang gewesen, denn inzwischen sind Ermittler bundesweit mit den Aufdeckungen in diesem „Fallkomplex Jannis“ und einem seit Jahren aktiven Pädophilenring beschäftigt, der vor zwei Jahren aktualisiert und ins Darknet gestellt wurde. Doch plötzlich sterben kurz hintereinander zwei der Hauptverdächtigen und es war kein natürlicher Tod. Nun muss das Ermittlerteam unter der Leitung von Marlene Kramer, Ben Neven und Christian Sandner in zwei sehr unterschiedliche Richtungen ermitteln.

Thema und Genre

Ein brisanter Roman in Anlehnung an bekannte Fakten über im Darknet sehr aktive Kinderpornografie-Gruppen und Missbrauch von Kindern.

Charaktere

Die Stärke dieses Romans liegt in den unterschiedlichen Figuren, ihren jeweiligen sehr realistischen Konflikten und Problemen, deren Komplexität viel Stoff zum Nachdenken bietet.

Handlung und Schreibstil

Die Ereignisse werden in kurzen, rasch wechselnden Szenen geschildert, bei jeweils unterschiedliche Figuren im Fokus stehen. So erhält man als Leser immer mehr Einblicke und weitere Details, ist teilweise im Wissen den Ermittlern einen Schritt voraus, ohne jedoch alle Zusammenhänge zu kennen. Dadurch bleibt das Leseerlebnis packend. Obwohl Band zwei einer Serie, gibt es zu Beginn genügend Hinweise für alle, die den ersten Teil nicht gelesen haben. Der Schreibstil des Autors beobachtet und schildert auch Nuancen der persönlichen Konflikte und Verhaltensweisen seiner Figuren.

Fazit

Ein Roman mit interessanten, facettenreichen Figuren, starken psychologischen Elementen und brisanten, zeitlos aktuellen Themen.

Der Buchhändler – Petra Johann

AutorPetra Johann
Verlag Rütten & Loening
Erscheinungsdatum 14. März 2022
FormatBroschiert
Seiten432
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3352009693

„Die Nachricht wird mir folgen, ich kann mich nicht vor ihr verstecken. Andererseits habe ich Übung darin, mich zu verstecken. Ich mache das seit Jahren, ich bin gut darin.“ (Zitat Pos. 4340)

Inhalt

Ein Wohngebiet am Rande der Kleinstadt Neukirchen, man kennt einander im Ortsteil Schönblick. Ein Buchhändler, Erik Lange, vierunddreißig Jahre alt, hat gerade erst die Buchhandlung mit Wohnung in Neukirchen übernommen. Er fühlt sich wohl hier, nur die Trennung von seiner fünfzehn Jahre alten Tochter Joelle macht ihn traurig. Doch deren Mutter, seine ehemalige Lebensgefährtin Tamara, will nichts mehr von ihm wissen. Als die neunjährige Tessi Brunner eines Morgens im gemütlichen Schönblick nicht am Früstückstisch auftaucht, einfach verschwunden ist und unauffindbar bleibt, beginnen hektische Suchaktionen und polizeiliche Ermittlungen. Als Tamara in den sozialen Medien ein „Geheimnis“ über Erik postet, hat dies gefährliche Folgen.

Thema und Genre

In diesem Thriller geht es um Kinder und ihre Familien, Beziehungen, kleine Dorfgemeinschaften, Nachbarschaft, Ermittlungsarbeit und menschliches Verhalten in Krisensituationen.

Charaktere

Die Autorin stellt uns interessante, sehr unterschiedliche Figuren vor, lebensnah, spannend, mit nachvollziehbaren Konflikten, auch psychologisch stimmig.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt in einem knappen Zeitraum in der Jetztzeit und ihr Ablauf ist chronologisch. Der Fall der verschwundenen Tessi wird durch die Ermittlungen und durch die sich draus ergebenden Geschichten und Probematiken rasch zu einem komplexen, facettenreichen Fall. Die Autorin erzählt packend, schildert eindrücklich und mit einer guten Prise Humor.

Fazit

Ein spannender Thriller mit brisanten Themen und Konflikten und interessanten, vielschichtigen Figuren.

Gezeitenmord: Der erste Fall für Lykke Teit und Rudi Lehmann – Dennis Jürgensen

AutorDennis Jürgensen
Verlag KiWi-Paperback
Erscheinungsdatum 10. März 2022
FormatBroschiert
Seiten336
SpracheDeutsch
ÜbersetzungUlrich Sonnenberg
ISBN-13978-3462002416

„Die SMS war zwei Tage nach dem Tod des Mannes abgeschickt worden. Sie hatte den Notruf einer Leiche erhalten.“ (Pos. 234)

Inhalt

Lasse Espersen, Lehrer aus Melum, ist mit einem seiner Schüler, dem naturbegeisterten Villads Geertsen, im Watt unterwegs, als plötzlich dichter Nebel aufzieht. Als sie versuchen, sich vor der einsetzenden Flut an Land zu retten, entdeckt Villads einen teilweise im Sand vergrabenen Toten. Später wird der Lehrer gerettet, doch der elfjährige Junge ist seither verschwunden. Lykke Teit, seit drei Jahren Kriminalassistentin in Kopenhagen, wird mit dem Fall in Südjütland betraut und da der Fundort der Leiche im Grenzgebet liegt, schickt Deutschland einen eigenen Ermittler, Hauptkommissar Rudolf „Rudi“ Lehmann aus Flensburg. Im Mittelpunkt ihrer Recherchen steht das Dorf Melum, denn es geht nicht nur um den Mordfall, sondern vor allem um das Verschwinden von Villads. Vor eineinhalb Jahren war die damals sechsjährige Rosa Molberg ebenfalls spurlos aus Melum verschwunden, gibt es einen Zusammenhang?

Thema und Genre

Dieser dänische Kriminalroman mit Regionalbezug spielt in Jütland. Im Mittelpunkt stehen verschwundene Kinder, psychologische Tatmotive, sowie die Ermittlungstätigkeit der Kriminalpolizei.

Charaktere

Lykke Teit und Rudi Lehmann sind sympathische Ermittlerfiguren, hartnäckig, kreativ. Der jeweilige persönliche Hintergrund macht sie zu interessanten Charakteren, ebenso die anderen, in diesem Kriminalfall auftretenden Figuren. Sie alle sind bis ins Details glaubhaft und stimmig entwickelt.

Handlung und Schreibstil

Im Mittelpunkt der chronologisch erzählten Handlung, die in der aktuellen Zeit spielt, stehen die Ermittlungen. Parallel dazu erhalten wir auch Einblick in Ereignisse, die gleichzeitig zur Polizeiarbeit des Ermittlerteams stattfinden. Dies gibt uns Lesenden einen Wissensvorsprung, wir wissen teilweise mehr, als die Ermittler, was die Spannung erhöht. Denn Lykke und Rudi folgen vielen Spuren und erst überraschende Wendungen und neue Erkenntnisse lassen Zusammenhänge erkennen. Das Resultat ist eine packende, vielschichtige, aber immer realistische Geschichte, die uns bis zur letzten Seite Raum für eigene Überlegungen lässt.

Fazit

Ein spannender, facettenreicher Pageturner mit sympathischen Ermittlerfiguren. Der überzeugende Beginn einer neuen Serie.

Die Diplomatin – Lucy Fricke

AutorLucy Fricke
Verlag Claassen-Ullstein Buchverlage
Erscheinungsdatum 10. März 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3546100052

„Die Erleichterung darüber, dass ihm nichts passiert war, er jetzt nicht im Keller einer Polizeistation saß, spürte ich kaum, stattdessen die quälende Gewissheit, dass sich eine diplomatische Krise auf meine Bettkante gesetzt hatte, die sich so einfach nicht würde vertreiben lassen.“ (Zitat Seite 152, 153)

Inhalt

Die Endvierzigerin Friederike „Fred“ Andermann ist schon beinahe zwanzig Jahre im Amt. Zuvor war sie in Bagdad gewesen, ihr neuer Posten ist Montevideo, wo sie vor sechs Wochen als deutsche Botschafterin eingetroffen ist. Mitten in den Vorbereitungen für den Tag der deutschen Einheit erreicht sie ein Telefonanruf, Elke Büscher, eine bekannte Zeitungsherausgeberin, vermisst ihre Tochter Tamara, die als Reisejournalistin und Instragrammerin in Uruguay unterwegs ist. Reagiert Fred zu langsam? Nach einem „Heimatjahr“ im  Kriseninterventionszentrum tritt sie ihren Posten als Konsulin in Istanbul an. Nun, ein weiteres Jahr später, taucht sie tief in die Beziehungen der deutschen und türkischen Geheimdienste ein. Man hat Bariş, den Deutschen mit kurdischen Wurzeln, gewarnt, in die Türkei zu reisen, doch seine Mutter Meral, ebenfalls mit deutschem Pass und bekannt für ihre Aktivitäten für kurdische Künstlerinnen und politisch Verfolgte, wartet im Gefängnis von Istanbul auf ihre Verhandlung. Nun darf auch Bariş Istanbul nicht mehr verlassen und Fred und Christoph, der Leiter der Rechtsabteilung, haben nun insgesamt drei brisante, diplomatisch sehr heikle Probleme: Meral, Bariş und den deutschen Journalisten Daniel, der durch seine Recherchen ebenfalls in den Fokus der türkischen Behörden geraten ist. Was kann die deutsche Diplomatie in Istanbul erreichen?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Politik, diplomatische Beziehungen, um Demokratie, Freiheit, Recht, Gerechtigkeit und das Gegenteil davon.

Charaktere

Die Diplomatin Fred Andermann ist eine starke Frau, die für ihre Arbeit lebt. Sie hat sich vor vielen Jahren für die diplomatische Laufbahn entschieden, weil sie etwas bewirken wollte, Dinge verändern, zumindest aber sie verstehen. In den Jahren ist sie selbst, wie sie spürt, zu einer „Festung mit Sicherheitsgräben“ geworden, und während sie sich immer öfter fragt, ob sie zu viel gewollt hat, verliert sie den Glauben an die Kraft der Diplomatie.

Handlung und Schreibstil

Die Diplomatin schildert die Ereignisse in Montevideo und Istanbul als Ich-Erzählerin selbst. Dies sorgt für Intensität, durch ihre Gedanken werden die Konflikte mit und durch ihre Position immer offensichtlicher. Die Handlung verläuft chronologisch, ergänzende Details, die Fred als Ich-Erzählerin nicht wissen kann, ergeben sich aus den Dialogen. Interessante Schilderungen der Örtlichkeiten und der politischen Situation ergänzen die spannende Geschichte. Die klare Sprache zwischen humorvoll, einfühlsam und sehr kritisch liest man mit Vergnügen.

Fazit

Eine spannende, auch sprachlich überzeugende Geschichte, die durch die Ereignisse dieser Tage zusätzliche Brisanz erhält.

Café der Unsichtbaren – Judith Kuckart

AutorJudith Kuckart
Verlag DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsdatum 17. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten208
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832181567

„Jede Situation hat eine Geschichte, die man kennen muss, um das Woher und Wieso zu verstehen, hat sie einmal zusammengefasst, jeder Augenblick hat seine Biografie und jede Biografie ihre Rätsel.“ (Zitat Pos. 906)

Inhalt

Vor vier Jahren hatte die Gruppe gemeinsam die Ausbildung für ihre freiwillige Tätigkeit beim Sorgentelefon e.V. begonnen, heute teilen sie sich den Dienst am Telefon, Tag und Nacht. Rieke, die angehende Theologin, die eigentlich hatte Schauspielerin werden wollen,  träumt von einer Stelle als Pfarrerin in einem Dorf, von einem alten Haus mit Birnbaum und Familie, doch noch studiert sie und findet ihre Geschichten für Übungspredigten im unsichtbaren Alltag der Anrufenden, notiert alles in ihrem rosa Heft. Ihre Einsätze am Sorgentelefon teilt sie mit Wanda, Marianne, Emilia, Matthias, Lorentz und der beinahe achtzig Jahre alten Frau von Schrey, kein Vorname, aber gelbe Klebezettel am Bildschirmrand mit kurzen Notizen über die besonderen Eigenheiten von einigen Daueranrufern. Sie alle vereint Einsamkeit in unterschiedlichen Facetten und ebenso unterschiedliche Träume – und die Geschichten, die der Anrufenden und ihre eigenen.

Thema und Genre

Dieser Roman besteht aus vielen Momentaufnahmen, aus Geschichten aus dem Alltagsleben unserer Zeit, von Menschen zwischen der Mitte und dem Rand der Gesellschaft.

Charaktere

Wir lernen viele unterschiedliche Figuren kennen, ihre Vorgeschichte und ihre Konflikte. Um diese vielen Formen des Mensch-Seins geht es in diesem Buch.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung springt in kurzen Abschnitten zwischen einem Zeitraum vor vier Jahren, ergänzt durch Erinnerungen, und ebenso rasch zwischen den aktuellen Tagen von Gründonnerstag bis Ostermontag. Von Schrey führt als beobachtende Ich-Erzählerin durch einige Episoden, wechselt wiederholt auch in personale Erzählperspektiven. Es sind Fragmente, die kurz auftauchen und wieder verschwinden, und etwa ab der Mitte des Buches wünschte ich mir beim Lesen ruhige Unterbrüche, etwas mehr Ruhe zum gedanklichen Atemholen. Oder einfach eine neue, überraschende Abwechslung in diesem Erzählstil, der teilweise etwas zu gewollt erscheint. Dies mag an den vielen literarischen Vorbildern liegen, welche die Autorin am Ende des Buches als Inspiration für ihre Erzählform nennt, hier wäre vielleicht weniger mehr gewesen.

Fazit

„Wer mag mir folgen, wenn meine Geschichte mit bereits bekannten Momenten noch einmal eingesetzt hat? Denn Erzählen ist ein Labyrinth. Immer wieder kommt man – auf der Suche nach einem guten Ausgang – an Stellen vorbei, die einem bekannt vorkommen, aber doch noch kein Ausgang sind.“ (Zitat Pos. 593 – 599) Besser als die Autorin selbst kann man dieses Buch nicht beschreiben. Ich wäre ihr sehr gerne gefolgt, doch in ihrem Erzähllabyrinth hat sie mich irgendwann verloren – andere Leser:innen werden ihr sicher begeistert folgen.

Die dunklen Jahre – Friederike Manner

AutorFriederike Manner
Verlag Edition Atelier
HerausgeberinEvelyne Polt-Heinzl
Erscheinungsdatum 22. Februar 2021
FormatBroschiert
Seiten424
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990650448

„Und wie oft dachte ich, ich sei erloschen, und dann kam ein neuer Brand und weckte mich zu unerhörter Wachheit. Das eine, glaub ich, hab‘ ich doch verstanden: was Goethe mit seinem „Stirb und Werde“ meinte.“ (Zitat Seite 403)

Inhalt

Der Arzt Ernst und seine Frau Klara, Verlagslektorin, haben gerade beschlossen, die längst gescheiterte Ehe durch Trennung zu beenden, noch überlegen sie, wie sie es den beiden Kindern Stella und Friedel sagen. Doch was 1934 begonnen hat, ist nun, im Frühjahr 1938 Realität geworden, Hitler und der Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich. Ernst ist Jude und für Klara ist es selbstverständlich, nun bei ihrem Ehemann zu bleiben, obwohl ihr wiederholt nahegelegt wird, die Ehe auflösen zu lassen. Vor allem jedoch geht es um die Rettung der beiden Kinder. Die erste Station ist ein strenges Kinderheim in der Schweiz, während Ernst endlich eine Ausreiseerlaubnis erhält und nach Belgrad ausreist. Doch Klara hält es in der Schweiz nicht aus und sie reist mit Stella und Friedel ebenfalls nach Belgrad, mitten in die von den Deutschen besetzte Stadt, in Hunger, Kälte, Gefahr, den täglichen Kampf um das Überleben, Alltag und die kleinen Freuden der frühlingshaft blühenden Natur, Freunde und gegenseitiges Helfen, wo sie, die Deutsche in Belgrad, es nicht erwartet hat. Belgrad wird vorübergehend so etwas wie Heimat für sie. „Voller Bitterkeit stellen wir fest, dass wir allen Grund haben, Hitler dankbar zu sein. Auf diese Weise sehen wir die Welt.“ (Zitat Seite 84)

Thema und Genre

Dieser autobiografische Roman beginnt im Februar 1934 und endet am letzten Tag des Jahres 1945. Themen sind Flucht, Exil, Krieg, Widerstand, Mut, aber auch Familie, Zusammenhalt, Freundschaft.

Charaktere

Klara ist eine starke Frau, die trotz aller Zweifel und Erschöpfung am Leben nicht aufgibt, sie kämpft für das Überleben ihrer beiden Kinder. „Ich mag mich nicht belügen. Lieber will ich verzweifeln – vielleicht ist Verzweiflung die einzige Form der Tapferkeit, die in so dunkler Zeit noch gilt.“ (Zitat Seite 232)

Handlung und Schreibstil

Klara schreibt als Ich-Erzählerin einen tagebuchartigen Bericht dieser Zeit, chronologisch gliedert sie die Handlung in die einzelnen Jahre, berichtet auch über die übergeordneten politischen Ereignisse. Doch vor allem geht es um ihre eigenen Gefühle zwischen Hass, Liebe und Verzweiflung, den Alltag im von den Deutschen besetzten Belgrad. In den Wintern Kälte, Hunger, Sorgen um den kranken Friedel, im Frühling und Sommer beinahe unbeschwerte Stunden in der blühenden Natur, ein gerettetes Katertier als Zeichen der Hoffnung, Momente der gemeinsamen Freude, um das Grauen irgendwie ertragen zu können. Klara schreibt offen, beobachtet genau, berichtet, sie schont niemanden, weder sich selbst, ihre noch ihre Mitmenschen. Immer wieder die Frage, wie es so weit kommen konnte, warum die Menschen in Deutschland und Österreich sich nicht rechtzeitig erhoben und gewehrt haben, denn anders als die Juden hatten sie die Wahl und konnten sich entscheiden. Erstmals ist dieser autobiografische Romanbericht von Friederike Manner 1948 unter dem Pseudonym Martha Florian im Wiener Verlag erschienen, am 22.02.2021 erfolgte diese Neuauflage durch den Wiener Verlag Edition Atelier.

Fazit

Ein zeitlos aktuelles Beispiel von Exil- und Erinnerungsliteratur, das sich eindrücklich und tief in unsere Gedanken prägt und die Vielschichtigkeit des Erlebten in dieser Zeit beleuchtet. Ein Buch, das mich sprachlos macht, man sollte es unbedingt lesen.

Das Bitcoin-Komplott – Andreas Brandhorst

AutorAndreas Brandhorst
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 23. Februar 2022
FormatBroschiert
Seiten608
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3596707195

„Die neue Leitwährung einer neuen Welt. Und wer diese Währung kontrolliert, hat die neue Welt unter seiner Kontrolle.“ (Zitat Seite 241)

Inhalt

Der Journalist und Autor Martin Freeman arbeitet an einem Buch zum Thema Bitcoin. Gleichzeitig sucht er Antworten auf immer noch offene Fragen zum Unfalltod seiner Eltern vor vier Jahren. Von einem ehemaligen Geschäftspartner seines Vaters erhält er eine SD-Speicherkarte, deren Werte auf große, versteckte Sektoren hinweisen. Um diese entschlüsseln zu können, braucht er Hilfe, doch nicht nur er ist an diesen Daten interessiert.

Gleichzeitig treffen sich unter der Leitung des Finanzexperten, Analysten und Inhabers von Amethyst Prognosis einflussreiche, internationale Investoren. Sie nennen sich „die Sieben“ und wollen den totalen Zusammenbruch der weltweiten Finanzmärkte, der unmittelbar bevorsteht, steuern und eine neue Weltwirtschaft mit Bitcoin als einziger Währung aufbauen. Doch mächtige Gegner wollen genau dies verhindern. Im Zentrum der Ereignisse steht der Name Satoshi Nakamoto und dies zieht Martin Freeman mitten in das Geschehen.

Thema und Genre

In diesem Wirtschaftsthriller geht es um die internationalen Finanzmärkte, Kryptowährungen, Politik, Netzwerke und Macht.

Charaktere

Die einzelnen Hauptfiguren handeln nachvollziehbar und ihren sehr gut geschilderten, unterschiedlichen Charakterzügen entsprechend. Sie bewegen sich in allen Schattierungen des breiten Graubereiches zwischen Gut und Böse.

Handlung und Schreibstil

Die spannende Handlung spielt in der nahen Zukunft und wird chronologisch in einzelnen Kapiteln erzählt, die jedoch teilweise zeitgleich an unterschiedlichen Orten spielen. Es stehen jeweils eine oder mehrere der Hauptfiguren im personalen Mittelpunkt. Jedes Kapitel trägt den jeweiligen Namen als Überschrift, was die facettenreiche, vernetzte Handlung übersichtlich macht. Unvorhersehbare Wendungen sorgen für einige Überraschungen. Die Schilderung der Ereignisse wird durch vertiefende Informationen über internationale Finanzmärkte, unterschiedliche Anlagestrategien und Bitcoin ergänzt. Diese Erklärungen erfolgen in Form von Dialogen der einzelnen Protagonisten, unterbrechen daher den Spannungsbogen nicht, machen aber die Handlung, die Ereignisse und Hintergründe nachvollziehbar. Im Anhang am Buchende findet sich als Ergänzung eine alphabetische Aufstellung der Personen der Handlung und ein Interview mit dem Autor zum Thema Bitcoin und Kryptowährungen.

Fazit

Ein packender, rasanter Wirtschaftsthriller, der in der sehr nahen Zukunft spielt und realistisch zeigt, wie einfach sich mit modernen Technologien die heute schon extrem empfindlichen, weltweiten Finanzmärkte beeinflussen und steuern lassen. Ein sehr interessanter, genau recherchierter Pageturner.

Das Mädchen mit dem Drachen – Laetitia Colombani

AutorLaetitia Colombani
Verlag S. FISCHER
Erscheinungsdatum 23. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinClaudia Marquardt
ISBN-13978-3103974904

„Sie kam hierher, weil sie Abgeschiedenheit und Ruhe suchte, und was sie fand, war das genaue Gegenteil. In diesem Dorf bietet ihr das Leben eine zweite Chance.“ (Zitat Seite 198, 199)

Inhalt

Nach einem traumatisierenden Ereignis braucht die Lehrerin Léna Sonne, Licht, Meer und vor allem Abstand von Frankreich. Sie reist nach Indien. Doch eines Morgens unterschätzt sie die Kraft der Meeresströmung und droht zu ertrinken. Sie wird von dem Mädchen Lalita und von Preeti mit ihrer besonderen Frauengruppe gerettet. Dadurch erhält Léna Einblicke in das reale Leben im indischen Kastensystem und als Lehrerin erkennt sie, dass man den jungen Menschen hier nur mit Bildung helfen kann. Eine Schule für die Armen, in der auch Mädchen unterrichtet werden, kann so ein Vorhaben in der traditionellen, patriarchalen Gesellschaftsstruktur des südindischen Ortes Mamallapuram gelingen?

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um traditionelle patriarchale Rollenbilder am Beispiel eines Ortes am Meer im indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Themen sind Bildung für alle, Gleichberechtigung, Verlust, Zusammenhalt und Freundschaft.

Charaktere

Sie kommen aus völlig unterschiedlichen Kulturkreisen, die Inderin Preeti, eine mutige junge Frau, Anführerin der Roten Brigaden, eine Selbsthilfegruppe für Frauen, und die Französin Léna, die schon über zwanzig Jahre lang als Lehrerin unterrichtet, auf Grund der Ereignisse in Frankreich jedoch eine Auszeit nimmt. Doch jede ist auf ihre Art stark und engagiert und plötzlich haben sie ein gemeinsames Ziel. „Das Wesentliche offenbart sich in diesen ineinander verschränkten dunklen und hellen Fingern, die zwar noch keine Freundschaft bedeuten, die Fremdheit jedoch überwunden haben.“ (Zitat Seite 77)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt mit einem kurzen Prolog, setzt dann mit der eigentlichen, chronologischen Handlung fort, die zwei Jahre zuvor beginnt. Einige Rückblenden ergänzen mit Details und ergeben schließlich ein stimmiges Gesamtbild, das mit einem Epilog in der in der Gegenwart abschließt. Die Handlungen der einzelnen Figuren sind nachvollziehbar und die Konflikte und Problematik sorgen für Spannung. Die Sprache ist angenehm zu lesen und ergänzt die Ereignisse mit lebhaften, eindrücklichen Schilderungen.

Fazit

Eine packende, realitätsnahe Geschichte, einfühlsam und positiv, ohne jedoch die bekannten Tatsachen romantisch zu verklären.

Die dritte Quelle – Werner Köhler

AutorWerner Köhler
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 10. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten432
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462001143

„Er hatte eine Idee, einen Wunsch, das Gefühl, etwas zu Ende bringen zu müssen. Er fühlte sich prächtig.“ (Zitat Seite 12)

Inhalt

Das Leben des Bankangestellten Harald Steen aus Hamburg verlief bisher in ruhigen, sehr geordneten Bahnen. Jetzt ist er vierundsechzig Jahre alt und in Frühpension. Die Galapagosinsel Floreana und die geheimnisvollen Ereignisse der 1930er Jahre lassen ihn nicht mehr los, seit er weiß, dass diese auch seine eigene Geschichte betreffen. Doch was damals wirklich passiert ist, kann er nur vor Ort recherchieren. So beginnt seine Reise in die Vergangenheit und gleichzeitig in neue, unbekannte Abenteuer. Bei den misstrauischen Bewohnern von Puerto Velasco Ibarra, der einzigen Ansiedlung auf der kleinen Insel, gibt er sich als Schriftsteller aus und erklärt damit auch seine längeren Ausflüge in die einsame, unwegsame Natur von Floreana. Auf sich allein gestellt, wächst er mit den täglich neuen Herausforderungen, doch wird er auch Antworten auf seine Fragen finden?

Thema und Genre

In diesem Abenteuerroman, in dessen Hintergrund die bekannte „Galapagos-Affäre“ steht, geht es um eine kleine Insel der Galapagos-Inselgruppe, um ungeklärte Ereignisse in der Vergangenheit, um das Leben mit der wilden, einzigartigen Natur, über Auswanderer und die Sehnsucht nach einem Neubeginn.

Charaktere

Harald Steen ist ein Eigenbrötler und Einzelgänger, sein geordnetes Arbeitsleben hat er als Bankangestellter verbracht. Doch die neuen Herausforderungen in der Wildnis von Floreana verändern ihn, er stellt sich den Strapazen und Abenteuern und irgendwo zwischen Kreativität und Traum wird er zu einem anderen Menschen. „Wer von den Kollegen in der Bank hätte ein solches Abenteuer gewagt? Niemand von denen hätte gerade ihm eine solch einschneidende Änderung der Lebensführung zugetraut.“ (Zitat Seite 121)

Handlung und Schreibstil

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Harald Steen, seine Reise auf die Insel Floreana Ende der 1990er Jahre und sein neues Leben auf der kleinen, nur wenig besiedelten Insel. Seine eigenen Erinnerungen und Gedanken teilt er mit einem Hund und später mit Mayra, einer Inselbewohnerin. So erfahren wir beim Lesen abwechselnd zum Erzählstrang der aktuellen Ereignisse auch seine Version der immer noch nicht vollständig aufgeklärten Vorkommnisse im Zusammenhang mit den ersten deutschen Siedlern auf Floreana und der „Galapagos-Affäre“. Eindrückliche Naturschilderungen ergänzen die Handlung.

Fazit

Ein moderner Abenteuerroman voller Geheimnisse, in dem die Grenzen zwischen realer Welt und Scheinwelten teilweise verschwimmen und dessen Handlung daher viel Spielraum für eigene Interpretationen lässt. „Aber denkt man erst einmal über das Ende der Welt nach, stößt man auf das Ende der Dinge und da fängt alles Erzählen an. Das Erzählen endet nie.“ (Zitat Seite 415)

Töchter des Nordlichts – Christine Kabus

AutorChristine Kabus
Verlag Bastei Lübbe
Erscheinungsdatum 14. Februar 2014
FormatKindle-Ausgabe
Seiten558 (Taschenbuch)
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3404168842

„Es beruhigte sie, nicht allein mit ihrer Aufregung zu sein. Für ihre Mutter war es vermutlich viel schwerer, an dieser Tür zu klingeln und in wenigen Augenblicken den Mann zu sehen, der sie einst ohne Abschied verlassen hatte.“ (Zitat Seite 137)

Inhalt

2011: Nora Nybol, Mitte dreißig, lebt in Oslo und ist Erzieherin in einer Kita. Erst jetzt erfährt sie von ihrer Mutter Bente endlich die Wahrheit über ihren Vater, den Sami Ánok Kraik, Bentes große Liebe. Sie überredet ihre Mutter, mit ihr nach Tromsø zu fliegen, denn dort ist ihre Mutter aufgewachsen. Sie will endlich ihren Vater kennenlernen und wissen, was damals wirklich passiert ist. Es ist einfach, vor Ort die Adresse der Arztpraxis von Ánok in Alta zu finden.

1915: Das Sami-Mädchen Áilu ist neun Jahre alt und lebt glücklich ein Leben mit der Natur. Doch es ist die Bestrebung Norwegens, die Kinder der Sami norwegisch zu erziehen und so werden sie im Auftrag der Behörde den Eltern weggenommen und landen in weit entfernten Internaten, wo sie norwegische Namen erhalten. So auch Áilu, nun Helga, die sich von ihrer Familie im Stich gelassen fühlt und lernt, ihre wahre Herkunft zu verleugnen.

Thema und Genre

In diesem Norwegenroman geht es um Familie, Liebe, aber auch um die Unterdrückung der Samen durch die Norweger in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts und das immer noch problematische politische Verhältnis zu den traditionell mit ihren Rentierherden lebenden Samen.

Charaktere

Beinahe einhundert Jahre trennen Áilu und Nora und beides sind auf eine eigene Art selbstbewusste Frauen, die aber noch auf der Suche nach dem Platz in ihrem Leben sind.

Handlung und Schreibstil

Es sind zwei Geschichten, die uns die Autorin in diesem Roman abwechselnd erzählt. In der aktuellen Zeit sucht Nora nach ihren Wurzeln. Sie lernt ein ihr völlig fremdes Leben kennen, denn zu ihrer Herkunft gehört plötzlich auch eine samische Familie. Nicht alle neuen Verwandten empfangen sie mit offenen Armen, es gibt auch Vorurteile und Ablehnung. Áilus Erfahrungen sind genau umgekehrt, sie kommt ein ein neues Leben, wo sie ihre samischen Wurzeln vergessen sollte, sie aber auf jeden Fall geheim halten. Sehr interessant sind auch in diesem Roman die eindrücklichen Schilderungen der Landschaft, der Tiere und Menschen und der 1915 und auch 2011 immer noch brisante politische Hintergrund. Hier zeigt sich die genaue Recherche der Autorin. Die Sprache ist angenehm und flüssig zu lesen.

Fazit

Ein unterhaltsamer, spannender Generationenroman, der in Norwegen spielt.

Auf der Straße heißen wir anders – Laura Cwiertnia

AutorLaura Cwiertnia
Verlag Klett-Cotta
Erscheinungsdatum 19. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608981988

„Seit ihrer Kindheit legte sie ihren Vornamen an der Türschwelle ab wie einen Mantel. Zuhause hieß sie Maryam, draußen, Meryem.“ (Zitat Pos. 2369)

Inhalt

Karlotta wächst in Bremen-Nord als Kind einer deutschen Mutter und eines armenischen Vaters auf. Heute nennt sie sich längst Karla, studiert, schreibt an ihrer Dissertation. Als ihre Großmutter stirbt, hinterlässt sie eine Liste mit genauen Anweisungen über den Ablauf ihres Begräbnisses, sie will eine traditionelle armenische Beerdigung. Die Großmutter hinterlässt Karla Ohrringe, doch in einer Ecke der Kommode finden sie einen Armreif aus Gold mit einem Zettel. „Lilit Kuyumcyan, Yerevan, Armenien. In Karlas Familie wurde nie über die Vergangenheit gesprochen, doch nun reist sie nach Armenien, auf der Suche nach ihren Wurzeln und nach Lilit. Ihr Vater Avi, aufgewachsen in Istanbul, bevor er mit siebzehn Jahren nach Deutschland kam, begleitet sie.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Heimat, Fremde, Familie, Zusammengehörigkeit und die Geschichte der Armenier in der Türkei.

Charaktere

Als Kind gehörte Karla nie dazu, so sehr sie sich auch bemüht, und weiß nicht, warum. Sie und ihr Vater Avi sind die Hauptfiguren, doch es sind die Frauen dieser großen Familie, die Großmütter, Mütter, Töchter, die diese Geschichte mehrerer Generationen tragen.

Handlung und Schreibstil

Die Haupthandlung beginnt mit dem Tod der Großmutter. Im Mittelpunkt steht die Reise durch Armenien und sie wird chronologisch von Karla als Ich-Erzählerin geschildert. Kindheits- und Jugenderinnerungen Karlas an die Zeit, als sie noch Karlotta war, ergänzen diesen Handlungsstrang. Unterbrochen wird die aktuelle Handlung durch die Geschichten von Avi, seiner Mutter Maryam und deren Mutter Armine, Karlas Urgroßmutter. Diese Geschichten werden abwechselnd und in Episoden personal erzählt und ergeben so langsam die Geschichte dieser Familie.

Fazit

Ein einfühlsamer Generationenroman mit auf ihre unterschiedliche Art starken Frauen, der interessante Einblicke in das Leben einer Familie mit armenischen Wurzeln gibt.

Serge – Yasmina Reza

AutorYasmina Reza
Verlag Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsdatum 24. Januar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten208
SpracheDeutsch
ÜbersetzerFrank Heibert
Hinrich Schmidt-Henkel
ISBN-13978-3446272927

„Ich weiß gar nicht, wie wir Geschwister es geschafft haben, diese ursprüngliche Komplizenschaft zu bewahren, wir waren uns nie besonders ähnlich oder besonders nah. Geschwisterbeziehungen zerfasern, leben sich auseinander, hängen nur noch am seidenen Faden von Sentimentalität oder Konvention.“ (Zitat Seite 23)

Inhalt

Bis zuletzt hält Marta Popper die chaotische Familie zusammen, zum sonntäglichen Mittagessen haben sich alle einzufinden, ihre Kinder und Enkelkinder. Serge, sechzig Jahre alt und der älteste Sohn, Jean, immer noch das mittlere Kind und Nana, die Tochter und jüngste der drei Geschwister. Nun ist Marta tot und nach dem Begräbnis teilt Joséphine, Serges Tochter, ihrem Vater mit, dass sie nach Auschwitz fahren will, auf der Suche nach der Geschichte der ungarischen Verwandten, über die Marta nie gesprochen hatte. Serge soll seine Tochter begleiten, Nana will ebenfalls mitfahren und so kommt auch Jean mit.  Doch statt die Geschwister zu einen, brechen auf dieser Reise lang unterdrückte Konflikte auf.

Thema und Genre

In diesem Generationen- und Familienroman geht es um moderne Beziehungsgefüge, Alltagskonflikte unserer Zeit und Kritik an der touristischen Gedenkkultur am Beispiel Auschwitz. Kernthemen sind familiäre Bindungen, Patchworkstrukturen, Alter, Krankheit, Tod.

Charaktere

Jean, Experte für Materialleitfähigkeit, ist das typische mittlere Kind und der Vermittler zwischen Serge und Nana, denn Familie ist für ihn wichtig, obwohl oder gerade weil er keine eigene Familie will. Serge ist der kreative Lebenskünstler und Frauenheld und beide, Serge und Jean, pflegen seit Jahren ihre Vorurteile gegenüber Ramos, Franzose mit spanischen Wurzeln, Nanas Ehemann. Es ist eine weit verzweigte Großfamilie mit eigenwilligen Charakteren, die alle Facetten der menschlichen Eigenheiten zeigen.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman besteht aus Momentaufnahmen, kurzen Episoden in der Gegenwart, unterbrochen von Erinnerungen und Fragmenten. Es sind die Dialoge, welche die Geschichte tragen, denn hier treten die Konflikte auf, zeigt sich die Problematik, die Suche der einzelnen Figuren, ihre Alltag zu bewältigen. Man diskutiert heftig, wirft Sätze, Meinungen und Themen durcheinander und Jean, der Ich-Erzähler, ergänzt mit vielen eigenen Gedanken, Überlegungen und auch Schilderungen des Umfeldes. Die Sprache ist leicht, flüssig zu lesen, die „herzzerreißende Komik“, von der der Klappentext spricht, blieb mir mit Ausnahme einiger skurril-witziger Szenen allerdings verborgen.

Fazit

Eine Mischung aus Familien-, Generationen- und Beziehungsroman, in dem es um Alltagsprobleme und Konflikte unserer Zeit geht.

Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist – Gert Loschütz

AutorGert Loschütz
Verlag Schöffling & Co.
Erscheinungsdatum 1. Februar 2022
FormatGebundene Ausgabe
Seiten208
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3895611582

„Ich habe dir erzählt, daß es das erste Hotel war, in dem ich übernachtet habe, und daß vielleicht alle anderen, die unzähligen, die ihm später gefolgt sind, nur dem einen Zweck gedient haben, dieses erste ungeschehen zu machen, wie auch die Reisen, ja, mein Beruf diesem einen Zweck gedient haben mochten, die erste Reise über die Grenze durch unendliche Wiederholung auszulöschen.“ (Zitat Seite 66)

Inhalt

Karsten Leiser ist zehn Jahre alt, als er an diesem Tag im Mai buchstäblich über Nacht aus seinem gewohnten Umfeld und Landschaft seiner Kindheit gerissen wird. Der Zorn darüber, nicht gefragt worden zu sein, von seinen Eltern nicht auf die geplante Flucht aus der DDR vorbereitet worden zu sein, hindert ihn daran, in Wildenburg im Westen anzukommen. Er wird Reisejournalist, rastlos, getrieben, doch jedes Jahr an genau diesem Tag kommen die Erinnerungen an damals zurück, immer wieder holt ihn die Vergangenheit ein und löst ihn aus seiner Gegenwart, in der er nie wirklich ankommt.

Thema und Genre

Als dieser Roman 1990 zum ersten Mal erschienen ist, trug er den Titel „Flucht“. Es geht um dieses Gefühl des „Entwurzelt-Werdens“, das Unverständnis und die Wut eines Menschen, der plötzlich die vertraute Heimatstadt, seine Freunde und damit seinen Lebensmittelpunkt und seine Wurzeln verliert, als die Familie in den Westen flieht. Ein wichtiges Thema sind auch die Erinnerungen.

Charaktere

Am Tag der Flucht in den Westen ist Karsten zehn Jahre alt. Inzwischen ist er längst erwachsen, doch es ist ihm nicht gelungen, seine Erinnerungen hinter sich zu lassen und sich mit der Vergangenheit zu versöhnen. Alle Ereignisse in seinem späteren Leben bezieht er auf diesen Tag. „Dieses Rückwärtsgucken, dieses Nichtdrüberwegkommenwollen“ (Zitat Seite 192)

Handlung und Schreibstil

Der Ich-Erzähler, Reisejournalist, schildert Episoden aus seinem Leben, prägende Erinnerungen und Erlebnisse mit unterschiedlichen Handlungsorten. Rastlos schweifen seine Gedanken immer wieder ab, gehen zurück in die Vergangenheit, er erzählt über die Landschaft seiner Kindheit in Plothow, die Stunden der Flucht, dann wieder ein Fragment, ein Erlebnis von einer seiner Reisen viele Jahre später. Auch dabei bleibt er bruchstückhaft, wechselt Ort und dort erlebte Geschichte, um im späteren Verlauf irgendwann den Faden wieder aufzunehmen. Genau genommen sind es viele Fäden und manche bleiben auch am Schluss der Geschichte lose, lassen uns mit Fragen und eigenen Versuchen zurück, das Gelesene zu entwirren und zu deuten. Großartig dagegen ist die Erzählsprache des Autors, er brennt Bilder und Gefühle in unsere Gedanken und kommt mit gut zweihundert Seiten für eine intensive, dichte Geschichte aus, wofür andere sechshundert Seiten brauchen.

Fazit

Dieser Roman ist weniger die Geschichte einer Flucht, sondern vielmehr die Schilderung der nachfolgenden Auswirkungen dieser einen Nacht im Mai, dieser Bahnfahrt aus der DDR in den Westen, auf einen damals zehn Jahre alten Jungen und sein ganzes späteres Leben.

Insel der blauen Gletscher – Christine Kabus

AutorChristine Kabus
Verlag Bastei Lübbe
Erscheinungsdatum 5. Januar 2015
FormatTaschenbuch
Seiten624
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3404171545

„Das Licht brach sich tausendfach an den unzähligen Eiszapfen, die von der gewölbten Decke hingen, und ließ die glasklaren Wände glitzern, in denen sie eingeschlossene Luftblasen und Gesteinsbrocken erkannte.“ (Zitat Seite 279)

Inhalt

Ihr jüngerer Bruder Max studiert in Berlin, doch Emilies Eltern haben 1907 kein Verständnis für für den Wunsch ihrer Tochter, die gerade einundzwanzig Jahre alt geworden ist, auf die Kunstakademie zu gehen. Dann erhält Max die einmalige Chance, an einer Forschungsexpedition in das nördliche Polarmeer teilzunehmen, was ihn völlig überfordert. Die perfekte Gelegenheit für seine sportliche, abenteuerlustige Schwester. Als Max reist sie mit der Forschergruppe in die Arktis und meistert mutig und zupackend kritische Situationen. Doch bald erkennt sie, dass Kälte, Eis und Eisbären nicht die größten Gefahren darstellen.

Die Reisejournalistin Hanna Keller ist beinahe fünfundvierzig Jahre alt, als ihr Ehemann Thorsten sie verlässt, um mit der jungen Biggi auf Weltumsegelung zu gehen. Als man Hanna anbietet, nach Spitzbergen zu reisen und einen Bericht über die einzigartige  Landschaft zu verfassen, zögert sie nicht. Der sympathische Polarforscher Kåre Nybol zeigt ihr die großartige arktische Wildnis abseits der Tourismuspfade. Eine Entdeckung in einer Gletscherspalte und die damit verbundenen Recherchen führen Hanna und Kåre zurück in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Arktis, um spannende Abenteuer, aber auch um Gesellschaftsthemen, Gleichberechtigung, Familie und die Liebe.

Charaktere

Emilie und Hanna trennen auf ihrer Reise in die Arktis mehr als einhundert Jahre, doch für beide ist es eine einmalige Chance. Für Emilie als „höhere Tochter“ aus sehr begüterten Verhältnissen ist es eine Gelegenheit, den strengen gesellschaftlichen Zwängen ihrer Zeit zumindest kurz zu entfliehen, für Hanna ein Weg, Abstand zu gewinnen vom Scheitern ihrer langjährigen Ehe.

Handlung und Schreibstil

Die spannende, unterhaltsame Geschichte wird in zwei Handlungssträngen erzählt, die einander abwechseln. Emilies Reise in die Arktis findet 1907 statt, Hannas Reise 2013. Die Figuren sind sympathisch, interessant und jede einzelne Figur hat ihre besonderen Eigenheiten. Die Beschreibungen der einmaligen arktischen Landschaft und des Lebens dort damals und heute sind intensiv und lebendig. In den Schilderungen von Rügen im Jahr 1907 gibt es jedoch gravierende Fehler, so spricht die Autorin zum Beispiel vom Seebad Bergen und dem Sandstrand, nun, die heutige Inselhauptstadt Bergen lag auch 1907 schon mitten auf der Insel, umgeben von Wiesen, Feldern und Hügeln. Die vier Kilometer lange Strecke zwischen Wissower Klinken und Victoriasicht legt Emilie in wenigen Minuten zurück und ärgert sich noch über ihren langen, engen Rock. Bei einer Autorin, die als Lektorin und Drehbuchautorin vom Fach ist, erstaunt mich, dass hier so achtlos recherchiert wurde. Dass man nicht mal einfach so nach Spitzbergen reisen kann, ist klar, aber Rügen ist nun wirklich leicht zu erreichen, um sich den Ort der Handlung anzusehen. Dennoch, es ist kein Reisebericht, sondern ein Unterhaltungsroman, und genau dies tut er auch.

Fazit

Ein unterhaltsamer, abwechslungsreicher Roman, der in der wilden, einsamen arktischen Landschaft spielt. Lesevergnügen mit Fernweh-Faktor.

Flucht – Mike Landin

AutorMike Landin
Verlag Books on Demand
Erscheinungsdatum 28. Januar 2022
FormatKindle-Ausgabe
Seiten301 (Print-Ausgabe)
SpracheDeutsch
ASINB09RGH8389

„Seine Träume waren nie wirklich fort gewesen. Sie hatten sich in seinem Unterbewusstsein versteckt und auf den Tag gewartet, in dem man sie wieder herausließ.“ (Zitat Seite 27)

Inhalt

Mit achtzehn wollten sie aus der DDR flüchten, aber es waren Jugendträume. Heute, 1979, ist der Journalist Martin Wolf einunddreißig Jahre alt, frustriert und desillusioniert.  Für eine Reportage besucht er das Hochsicherheitsgefängnis Bautzen und steht dort plötzlich einige Sekunden lang seinem damaligen Freund gegenüber. Ein paar leise Worte, gefolgt von einem Versprechen. Kurz darauf trifft Martin die angehende Ärztin Paula und sie werden ein Paar, was Martins Leben völlig verändert. Paula, Martin und sein Cousin Claus werden Fluchthelfer. Zehn Jahre später ist es Zeit, das Versprechen einzulösen, doch plötzlich ist nicht nur die Stasi hinter ihnen her, sondern auch ein skrupelloser Gewalttäter, der niemals aufgibt, während die Stasi schon längst Geschichte ist.

Thema und Genre

Natürlich sind auch das Leben in der DDR und der Wunsch nach Freiheit in diesem spannenden Roman wichtige Themen, doch es geht um wesentlich mehr. Es geht um Freundschaft, Liebe, persönliche Überzeugungen, Verantwortung, Mut, aber auch spontane Entscheidungen mit weitreichenden Folgen.

Charaktere

Die einzelnen Charaktere agieren glaubhaft, nachvollziehbar, menschlich und machen Fehler. Dies macht sie sympathisch.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte spielt in den Jahren 1979 bis 2006, wird ergänzt durch erklärende Rückblenden, und ist in eine Rahmenhandlung eingebettet, die im Jahr 2021 stattfindet. Es ist eine packende, facettenreiche Geschichte, deren lose Enden sich tatsächlich erst 2021 schließen. Die Erzählform stellt die Hauptfiguren abwechselnd in den Mittelpunkt der jeweiligen Ereignisse, wechselt zwischen personal und neutral, doch zwischendurch wird der Erzähler auktorial. Diese Perspektivwechsel sorgen für zusätzliche Spannung, man weiß plötzlich mehr, als einzelne Figuren selbst, schüttelt manchmal den Kopf über ihre Entscheidungen und bangt mit ihnen, wenn Gefahr droht. Die Sprache ist sehr angenehm zu lesen. Was mich beeindruckt, ist das hervorragende Lektorat, das gerade für Selbstverleger nicht selbstverständlich ist. Der kleine Tippfehler im Zitat ist einer der ganz wenigen, die auf den insgesamt 301 Seiten übersehen wurden, natürlich habe ich gerade dieses Zitat aus anderen Gründen gewählt, es ist für mich eine wichtige Aussage zur Person Martins.

Fazit

Eine facettenreiche, spannende Geschichte über Verantwortung, Mut und Entscheidungen, die Leben verändern.

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