Abendrot – Kent Haruf

AutorKent Haruf
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 23. Januar 2019
FormatGebundene Ausgabe
Seiten416
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257070453

„Ich will das Gefühl haben, dass ich den nächsten Schritt auch allein kann.“ (Zitat Seite 348)

Inhalt

Mary Wells hat zwei Töchter, Dena und Emma. DJ, elf Jahre alt, hilft ihr bei der Gartenarbeit. Seine Mutter ist vor Jahren gestorben und er lebt bei seinem Großvater, in einem Häuschen im Norden von Holt, Colorado. DJ und Dena schaffen sich in einem alten Schuppen einen Rückzugsort, wo sie lesend ihre Freizeit verbringen. Joy Rae und ihr kleiner Bruder Richie leben mit ihren Eltern in einem Wohnmobil. Rose Tyler vom Sozialamt kümmert sich um die Familie. Victoria Roubideaux zieht mit ihrer kleinen Tochter Katie nach Fort Collins, um dort ihre Ausbildung als Grundschullehrerin abzuschließen. Für die McPheron-Brüder, sie sich in den beiden letzten Jahren wie eine Familie um Victoria gekümmert hatten, ist es nicht einfach, wieder alleine zu sein.

Thema und Genre

Der Roman spielt in der fiktiven Kleinstadt Holt, in der abgeschiedenen Weite Colorados. Es geht um den Alltag von einfachen Menschen, um einzelne Schicksale und darum, einander zu helfen. Thema sind Familienbeziehungen, fehlende Eltern und wie Kinder versuchen, mit der Situation klarzukommen.

Charaktere

Die etwas ruppig wirkenden McPheron Brüder sind liebenswerte Einzelgänger mit einem großen Herzen für die Probleme anderer. Auch Rose Tyler versucht zu helfen, wo sie kann und ist besonders aufmerksam, wenn es um Kinder geht. Kent Haruf versteht es, sich in jede seiner Figuren einzufühlen und er nimmt sich Zeit für Details.

Handlung und Schreibstil

In diesem Roman geht es nicht um Spannungsbögen und Höhepunkte. Der Autor erzählt Geschichten, manchmal leise, manchmal sehr hart und traurig, realistisch, aber nie deprimierend, sondern immer mit einem positiven Ausblick. Irgendwie schaffen es seine Protagonisten, sich in das Leben einzufügen und ihren Platz darin zu finden. Das Kleinstadtleben in Holt besteht aus vielen Einzelschicksalen, doch man kennt sich, die Wege der einzelnen Protagonisten kreuzen sich und man hilft einander.

Die poetische Sprache und in diesem Fall auch die Übersetzung sind wunderbar zu lesen. Ereignisse wechseln ab mit Schilderungen, Gefühle finden sich als Metapher in Beschreibungen der Natur wieder.

Fazit

Der Autor erzählt die Geschichten des einfachen, kargen Lebens der Menschen in einer Kleinstadt. Einfühlsam erzählt er von ihren Problemen. Als Leser fühlt man sich in der poetischen Sprache geborgen und bedauert, am Ende des Buches diese Kleinstadt irgendwo in der weiten amerikanischen Ebene und ihre Bewohner wieder verlassen zu müssen.

Neujahr – Juli Zeh

AutorJuli Zeh
Verlag Luchterhand
Literaturverlag
Erscheinungsdatum 10. September 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten192
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630875729

„Wenn er versucht, falsche Gedanken zu vermeiden, rennt er wie ein gehetztes Reh durch den eigenen Kopf.“ (Originalzitat, Seite 33)

Inhalt

Ohne seine Frau Theresa vorher zu fragen, hat Henning spontan ein kleines Ferienhaus auf Lanzarote gemietet, zwei Wochen über Weihnachten und Neujahr. Das Ehepaar hat zwei Kinder, den vierjährigen Jonas und die zwei Jahre jüngere Bibbi. Eine moderne Familie, beide haben gute Jobs mit Teilzeit-Anwesenheitspflicht, teilen sich Kinderbetreuung und Haushalt. Doch kurz nach Bibbis Geburt begannen bei Henning die heftigen Panikattacken und die Angststörung bestimmt seither sein Leben, das ihn ohnedies oft überfordert. An diesem Neujahrsmorgen in Lanzarote nimmt er sich vor, sich auch wieder Zeit für sich selbst zu nehmen und schwingt sich auf sein Leihrad: sein Ziel ist das hoch über dem Meer gelegene Bergdorf Femés, zu erreichen über eine herausfordernd steile Straße. Erschöpft erreicht er sein Ziel und plötzlich überfällt ihn die Erinnerung an ein schreckliches Ereignis, das er bisher verdrängt hatte, denn vor vielen Jahren hatte er genau hier mit seinen Eltern und seiner Schwester Luna Urlaub gemacht.

Thema und Genre

Dieser Roman handelt von den psychischen Auswirkungen einer gravierenden Erfahrung in der Kindheit und vom Tabuthema Angststörung. Thema sind auch moderne Familienstrukturen zwischen Karriere, Job und Kindererziehung und der Druck, funktionieren zu müssen.

Charaktere

Hauptprotagonist ist Henning, ein Mann, von dem erwartet wird, in vielen Rollen gleichzeitig perfekt zu funktionieren: als liebender Ehemann und Vollzeitvater, erfolgreicher Mitarbeiter eines Sachbuchverlages. Auch seine jüngere Schwester Luna kommt immer wieder Hilfe suchend zu ihm und er fühlt sich für sie verantwortlich, genau wie damals, als seine Eltern von ihm erwarteten, als „großer Junge“ auf seine Schwester aufzupassen, obwohl er damals selbst erst vier Jahre alt gewesen war.r

Handlung und Schreibstil

Juli Zeh ist eine herausragende Schriftstellerin, die mit der Sprache spielt und der es perfekt gelingt, einerseits ruhig schildernd zu erzählen, um dann andererseits wieder sprachgewaltige, beklemmende Bilder vor den Augen der Leser entstehen zu lassen.

Der Weihnachtsurlaub auf Lanzarote und die Gedanken, die sich Henning über seine aktuelle Lebenssituation macht, bilden nur die Rahmenhandlung. Die Haupthandlung findet in der Vergangenheit statt, es sind die dramatischen Ereignisse seiner frühen Kindheit, an die sich Henning plötzlich wieder erinnert, chronologisch, wie in einem Film.

Fazit

Ein beklemmender Roman, sehr packend erzählt. Auf nur 200 Seiten enthüllt sich dem Leser langsam und eindringlich eine spannende Geschichte aus der Vergangenheit, die erklärt, warum die Gegenwart ist, wie sie ist. Ein Buch, das noch lange in den Gedanken des Lesers bleibt.

Wie hoch die Wasser steigen – Anja Kampmann

AutorAnja Kampmann
Verlag Carl Hanser Verlag
Erscheinungsdatum 29. Januar 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3446258150

„Sie trieben auf einem sehr breiten Strom, aber anders als die Helden in den Abenteuerbüchern seiner Kindheit konnten sie fallen, und diejenigen, die fielen, kamen nicht zurück.“ (Zitat Seite 99)

Inhalt

Es ist eine extrem dunkle Nacht und der Sturm tobt um die Ölplattform irgendwo im Atlantik vor Marokko, doch die Bohrungen müssen weitergehen. Als die Arbeiten endlich abgebrochen werden, kommt einer der Männer nicht mehr zurück: Mátyás, der beste Freund von Waclaw. Die Suche wird aus Kostengründen rasch eingestellt. Waclaw erhält Urlaub und reist nach Ungarn, um die Sachen seines toten Freundes an dessen Familie zu übergeben. Will er wirklich wieder zurück, auf die nächste Ölplattform? Er macht sich stattdessen auf die Suche nach seinen Wurzeln, nach dem Rest seines Lebens. 

Thema und Genre

Man könnte diesen Roman als Roadmovie in einzelnen Bildern bezeichnen, Szenen, die durch plötzliche Erinnerungen wie schräg geschachtelt auftauchen und wieder verschwinden. Es geht um das Leben der Menschen in einer globalisierten Welt, wo Entfernungen ein möglicher Weg aus der Armut sind, mehr Geld für sich und die Familie. Natürlich ist auch Fernweh ein Thema, die Sehnsucht, die Enge der Kindheit zu verlassen. Es geht auch um die Frage, was der Verlust der eigenen Wurzeln mit den Menschen macht.

Charaktere

Waclaw, schon über 50 Jahre alt, ist anders, als man sich Männer im harten, gefährlichen Leben mitten auf dem Meer vorstellt. Er ist manchmal verträumt, verloren, er ist auf der Suche nach seinem „anderen“ Leben, nach Milena, die er immer wieder verlassen hat, um das fehlende Geld auf einer Ölbohrinsel zu verdienen. Als er Enzo „Alois“ in Bobbio, Norditalien, besucht, den besten Freund seines verstorbenen Vaters, überzeugt ihn dieser, weiter nach Norden zu fahren, zu Milena. Waclaw trifft auf seiner Reise die unterschiedlichsten Personen, sie alle sind sehr gut beschrieben und überzeugen.

Handlung und Schreibstil

Die Reise von Waclaw ist das chronologische Kernstück der Handlung, immer neue Zwischenhalte machen die Ereignisse interessant und überraschen. Die Frage, ob es eine Zukunft mit Milena geben kann, macht die Geschichte spannend. Die wie auf Stichworte bunt in die Handlung geschriebenen Erinnerungen irritieren teilweise den Ablauf und unterbrechen den Lesefluss. Wirklich großartig und beeindruckend ist die poetische Sprache dieser Autorin. Metapher und Symbolik wie die enge Bohrinsel, der enge Pick-up, Brieftauben als Symbol für Heimkehr, bereichern die Schilderungen und regen zum Nachdenken an.

Fazit

Für mich ist es besonders die intensive Sprache, in der diese innere und äußere Reise von Afrika bis an die polnische Ostseeküste geschildert wird, die diesen Roman prägt. Keine einfach zu lesende Geschichte, teilweise deprimierend, mit einem ernsten, vielschichtigen Thema, das auch in Zukunft gesellschaftlich aktuell sein wird. Für diesen ersten Roman einer jungen Autorin braucht man Zeit, aber die sollte man sich nehmen.

Anna – Niccolò Ammaniti

AutorNiccolò Ammaniti
Verlag Giulio Enaudi editore
Erscheinungsdatum 30. Mai 2017
AusgabeTaschenbuch
Seiten310
SpracheItalienisch
ISBN-13978-8806234485

Deutsche Ausgabe: Eisele Verlag, 10. August 2018, Hardcover 336 Seiten, ISBN 978-3961610099

„Nuvole o pioggia, freddo o caldo il buio, prima o poi, perdeva la sua quotidiana battaglia con la luce.“ Zitat Seite 120 (Wolken oder Regen, Kälte oder Wärme, die Dunkelheit verlor früher oder später ihren täglichen Kampf mit dem Licht)

Inhalt

IIm Jahr 2016 tritt ein Virus auf, das alle Erwachsenen tötet und fûr das es kein Gegenmittel zu geben scheint. Nur Kinder sind immun, bis sie etwa vierzehn Jahre alt sind. So hat 2020 auch in Sizilien die Natur begonnen, die Dörfer und Städte zurück zu gewinnen. Anna war 9 Jahre alt, als ihre Eltern starben, ihr Bruder Astor 4. Jetzt ist sie 13 Jahre alt und weiß, dass sie aufbrechen und ihren Bruder auf das Festland bringen muss, wo vielleicht Erwachsene überlebt und ein Gegenmittel gefunden haben. Doch zuerst muss sie ihren Bruder finden, denn er ist plötzlich verschwunden..

Thema und Genre

In diesem postapokalyptischen Abenteuerroman geht es um das Überleben in einer urzeitlichen Umgebung, wo auch Lebensmittel knapp sind. Kinder, die sich in neuen Strukturen zusammengeschlossen haben, ohne Erwachsene. Der Autor überlegt in seinem Roman das Verhalten seiner Protagonisten, wie es sein könnte. Es geht um Mut, Vertrauen und auch Liebe.

Charaktere

Während der kleine Astor misstrauisch und meistens unvernünftig auf die neue Situation reagiert, ist die Hauptprotagonistin Anna eine Kämpferin, sie ist clever und einfallsreich und gibt nicht auf. Vom „Heft der Wichtigen Dinge“, wo ihre Mutter für sie Anleitungen für alle nur möglichen Situationen aufgeschrieben hat, holt Anna sich die notwendigen Ratschläge, auch wenn sie erkennen muss, dass vieles davon nicht mehr stimmt. Dennoch bleibt Anna ein positiv denkendes Mädchen und als Leser schließt man sie rasch ins Herz. Ein weiterer wichtiger Protagonist ist sicher der Maremmen-Schäferhund Coccolone. Auch er gibt nie auf und hat, wie Anna sagt, sieben Leben wie eine Katze.

Handlung und Schreibstil

Der Autor erzählt die Geschichte chronologisch, mit einigen Rückblenden. Die Handlung gewinnt nach einem ruhigen Einstieg, als er das Leben der beiden Kinder in ihrem Haus, der Maulbeerfarm, schildert, rasch an Spannung und bleibt bis zum Ende packend. Die Sprache ist im Gegensatz zum Thema poetisch, ein Höhepunkt ist für mich die rückblickende Schilderung, wie das Licht langsam ausging. Beeindruckend realistisch auch die Beschreibung der bekannten Orte, wie sie nach vier Jahren ohne Technik und Erhaltung aussehen könnten.

Fazit

Ein bedrückendes Endzeit-Szenario, sehr spannend, sprachlich großartig umgesetzt. Besonders beeindruckt hat mich die positive Grundstimmung, die in dieser postapokalyptischen Geschichte um ein mutiges Mädchen immer mitschwingt. Ein Roman, der noch lange in den Gedanken bleibt.

Sechs Koffer – Maxim Biller

AutorMaxim Biller
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 8. August 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten208
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462050868

„Wäre ich geblieben, wäre ich geflohen, hätte ich selbst meine engsten Freunde und Verwandten verraten, wenn die Kommunisten mich erwischt hätten?“ (Zitat Seite 90)

Inhalt

Der Großvater der Familie wird 1960 auf dem Flughafen von Moskau verhaftet und wegen seiner verbotenen Devisengeschäfte hingerichtet. Kurz danach war einer seiner Söhne, Dima, ebenfalls verhaftet worden, weil er, in Prag lebend, nach Westberlin flüchten wollte. Seither stellt sich in der Familie durch die Jahre und Generationen die Frage, ob es da einen Zusammenhang gibt, war es Dima, der damals den Großvater verraten hatte?

Thema und Genre

Der Autor erzählt einen biografischen Generationenroman, eingebettet in eine Zeit der Geheimdienste, der Vertreibungen – eine Flucht quer durch Europa und darüber hinaus. Kernpunkt ist die Familie und ein Verdacht, der ihre Mitglieder entzweit. Es geht auch um die zeitlose Frage, wie man selbst sich verhalten hätte, unter extremem Druck und Lebensgefahr.

Handlung und Schreibstil

Jemand hat den Großvater verraten, was diesen das Leben gekostet hat und der Verdacht und die Suche nach der Wahrheit zieht sich über die Generationen. Der Zeitablauf ist chronologisch, in Einzelkapitel und Einzelgeschichten gegliedert. Die Personen im Mittelpunkt wechseln, wie auch die Erzählform vom Ich zur personalen Erzählperspektive dort, wo der Ich-Erzähler eine vergangene Geschichte selbst nur kennt, weil sie ihm erzählt wurde. Die Frage nach dem Verräter aus dem Kreis der Familie baut den Spannungsbogen auf und bringt Elemente eines Kriminalromans in dieses Buch.

Fazit

Das Schicksal einer russisch-jüdischen Familie, Verrat, Flucht, Ankommen und die Frage nach einem Verrat. Erzählt auf verhältnismäßig wenigen Seiten, aber so lebendig und packend, dass die Geschichte den Leser sofort in ihren Bann zieht.

Die Gewitterschwimmerin – Franziska Hauser

AutorFranziska Hauser
Verlag Eichborn Verlag
Erscheinungsdatum 23. Februar 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten432
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3847906445

„Die Wellen haben mich zurück zum Ufer getragen, haben mich ausgespuckt, wollen mein Leben nicht haben.“ (Zitat Seite 66)

Inhalt

2011 erhält Tamara Hirsch die Nachricht vom überraschenden Tod ihrer Mutter Adele. Selbst Mutter von zwei Töchtern, Henriette und Maja, und auch schon Oma, blickt sie beim Entrümpeln und Umbau des geerbten Elternhauses auf ihr Leben zurück. Sie war immer das unangepasste Familienmitglied, geprägt durch die Mutter Adele, die am liebsten reiste, den Tod der jüngeren Schwester Dascha, die Erzählungen von Großvater Friedrich und Vater Alfred.Inh

Thema und Genre

Dieser autobiografische Generationen- und Familienroman ist gleichzeitig ein politisches Bild Deutschlands zwischen Nationalsozialismus und DDR. Die Themen sind vielschichtig, es geht um politische Überzeugungen, Enttäuschungen und eine Männerwelt, in der Frauen manchmal gehorsame Kulisse zu sein hatten. Dazu kommen noch problematische Mutter-Tochter-Beziehungen. Die eigenwillige Tamara, geprägt durch ihre Erziehung, durch das Verhalten von Vater und Onkel, durch die ständigen Abwesenheiten ihrer Mutter, kann sich in die Grenzen des Alltags der DDR schwer einfügen.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman ist in viele Kapitel unterteilt, die eher willkürlich aneinander gereiht scheinen. Jede Kapitelüberschrift trägt eine Jahreszahl und der erste Satz beginnt oft mit dem Namen des Familienmitgliedes, das dann im Mittelpunkt steht. Dies ist eine gewisse Orientierung für den Leser. Die Geschichte der Familie wird von Tamara in der Ich-Form erzählt, soweit es die eigenen Erinnerungen und Rückblicke auf ihr Leben betrifft. Die Ereignisse im Leben der anderen Charaktere, die Tamara nicht wissen kann, werden von einem Erzähler in der dritten Person geschildert, sodass sich ein umfassendes Bild über drei Generationen ergibt. Die Sprache ist kraftvoll, lebhaft erzählend und beschreibend.

Fazit

Mein erstes Buch vom Stapel einer persönlichen Auswahl aus den Titeln der Longlist, hat mich dieser Roman gefesselt, aber auf Grund der vielen Zeitsprünge nicht vollkommen überzeugen können. Der Leser erhält einen tiefen Einblick in die Interna der Familie Hauser, im Roman die Familie Hirsch und einen realen Eindruck vom Alltag in der DDR. Für dieses Buch sollten man sich Zeit nehmen und diese möglichst ohne allzu große Pausen, denn die sich gleichsam im Rösselsprung und vor und zurück durch die Generationen und Personen bewegende Geschichte wird sonst wirklich unübersichtlich und zeigt dadurch Längen.

Kruso – Lutz Seiler

AutorLutz Seiler
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 6. September 2015
FormatTaschenbuch
Seiten480
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518466308

„Er gehorchte jetzt anderen Regeln, jener ersten, im Grunde kindlichen Überzeugung von Freundschaft und dem, was sie beinhaltete, wenn sie echt und einzig war.“ (Zitat Seite 299)

Inhalt – Buchrücken

Als seine Freundin verunglückt und er in ein tiefes Loch zu stürzen droht, beschließt Edgar Bendler, nach Hiddensee zu fliehen – auf jene legendenumwobene Insel, die schon vielen Gestrandeten als Zuflucht diente. Er wird Abwäscher im Klausner, einer Kneipe hoch über dem Meer, und lernt Alexander Krusowitsch kennen – Kruso. Eine schwierige, zärtliche Freundschaft beginnt. Von Kruso, dem Meister und Inselpaten, wird Ed eingeweiht in die Rituale der Saisonarbeiter und die Gesetze ihrer Nächte. Nach und nach erschließen sich ihm die Geheimnisse der Insel und des Klausners. Als Ed schon glaubt, wieder einen Platz im Leben gefunden zu haben, erschüttert der Herbst 89 das fragile Gefüge der Inselbewohner. Am Ende steht ein Kampf auf Leben und Tod – und ein Versprechen.

Thema und Genre

Ist man schon frei, wenn man sich frei fühlt?

Ein sprachgewaltiges Buch über den „Sehnsuchtsort der Freiheit“, die Insel Hiddensee im Jahr 1989 und über die Freundschaft zwischen dem Germanistikstudenten Edgar Bendler und Alexander Krusowitsch, genannt Kruso. Vom Aufbau her geht dieser anspruchsvolle Roman was den Protagonisten Edgar betrifft, teilweise in Richtung Entwicklungsroman.

Handlung und Schreibstil

Für dieses Buch sollte man sich Zeit nehmen, denn die realistisch-poetische Sprache fordert den Leser spätestens auf Seite 65 mit einem Satz, der über neun Zeilen geht, aber dennoch Anfang, Ende und Inhalt hat. Auch die manchmal surreale Handlung, gefüllt mit intertextuellen Bezügen und Verweisen, macht das Buch zu keinem einfachen Lesestoff, von anderen Lesern durchaus unterschiedlich aufgenommen.

Fazit

Mich hat der Autor sprachlich in seinen Bann gezogen, ein Stern Abzug für die teilweise überbordernde Metaphorik, die es manchmal schwer macht, in der Handlung zu bleiben. Ein Buch, das in jedem Satz die volle Konzentration des Lesers verlangt.

bleiben – Judith W. Taschler

AutorJudith W. Taschler
Verlag Droemer Taschenbuch
Erscheinungsdatum 2. November 2017
FormatTaschenbuch
Seiten252
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3-426-30479-2

„Der Sinn des Lebens besteht darin, dass man erkennt, wie schön es ist. Aber darauf kommt niemand.“ Zitat Seite 173

Inhalt

1994 steigt Juliane mit ihrem Chello in den Nachtzug nach Rom. In einem Abteil trifft sie durch Zufall auf Max, den angehenden Koch, den Student Felix und den Anwalt Paul. Bevor sie sich auf dem Bahnsteig in Rom trennen, spielt sie auf ihrem Chello und Max zeichnet sie. Auf ihrer Wanderung nach Spoleto sieht sie Paul wieder, sie heiraten. Zwanzig Jahre später besucht ihre Tochter Emilia mit der Schule eine Ausstellung. Auf einem Gemälde ist eine Chellospielerin zu sehen – Juliane. Der Maler ist Max, der ehemalige Koch aus dem Zug. Die Fotografien neben den Gemälden sind von Felix – so treffen sie einander wieder und für eine kurze Zeit verknüpfen Zufälle und Entscheidungen das Leben dieser vier Personen zu einem dichten Ganzen.

Thema und Genre

In diesem Beziehungsroman geht es um die Zufälle, die durch eine einzige Entscheidung ein Leben prägen können, um Freundschaft und Vertrauen.

Charaktere

Die vier ursprünglich zufällig im selben Abteil sitzenden Personen werden zwanzig Jahre später zu den Hauptprotagonisten der Geschichte, deren Mittelpunkt Sie sind glaubwürdig, die Handlungen und Entscheidungen nachvollziehbar.

Handlung und Schreibstil

Die vier Hauptpersonen Juliane, Paul, Max, Felix erzählen ihre Geschichte abwechselnd jeweils einer Person, wobei der Leser weiß, wer diese jeweiligen Gesprächspartner sind, aber diese bleiben im Hintergrund. Teilweise sind es Erinnerungen aus Kindheit und Jugend, aber haupsächlich geht es um die Zeit seit dem Wiedersehen, Ereignisse aus der unterschiedlichen Sichtweise der einzelnen Personen. Dies erzeugt eine eindrückliche Spannung.

Fazit

Eine dichte Beziehungsgeschichte, erzählt von vier Hauptpersonen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Immer wieder bringt die Autorin eine neue, unvorhersehbare Verknüpfung ins Geschehen, bis sich ein Gesamtbild ergibt. Sprachlich !eise und doch einprägsam erzählt, sollte man freie Zeit zum Lesen haben, denn dieses Buch legt man nicht aus der Hand.

El Greco und ich – Mark Thompson

AutorMark Thompson
Verlag Mare Verlag
Erscheinungsdatum 14. August 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten224
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3866482791

„Ich hätte ewig dort auf diesem umgedrehten Boot sitzen bleiben und die Sonne, den Wind und den Geruch von Jod und Salz aufsaugen können, fest in dem Glauben, dass Glück von Dauer sein kann.“ (Zitat Seite 156)

Inhalt

Sommer 1968 in Cranford County, New Jersey. J. J. (John Joseph) Walsh und El Greco (Tony) Papadakis sind zehn Jahre alt. Da gehören Zigaretten zum Alltagsleben, heimlich geraucht im verlassenen Gelände am Hafen, ihre intensive Freundschaft, ihr gegenseitiges Verstehen, ihre kreativen Ideen, ihre Träume. Von den Eltern noch für Kinder gehalten, wissen die beiden Jungen wesentlich mehr vom Leben, als man in ihrem Alter erwartet, denn sie leben in für ganz Amerika und die Welt prägenden Zeiten des Aufbruchs, Musik, Hippies, Mondlandung, aber auch Protestkundgebungen, Vietnam und soziale Unruhen. Beide träumen davon, den Pazifik zu sehen und endlich erwachsen zu sein. Doch manchmal hat das Leben andere Pläne. Eine Reise entlang der Ostküste, auf die der Vater von J. J. die beiden mitnimmt, bringt neue Erfahrungen und prägende Eindrücke.

Thema und Genre

In diesem literarischen Coming-of-Age Roman geht es um eine Kindheit und Jugend Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in einer fiktiven Kleinstadt in Crandorf County, New Jersey. In der kritischen Aufbruchsstimmung dieser Zeit beobachten die zwei Jungen das Leben neugierig, aber auch realistisch und machen sich so ihre Gedanken darüber. Es geht aber auch um Verluste, Schicksale und vor allem um eine tiefe Freundschaft, die sich bewähren muss.

Charaktere

Der Autor beschreibt die einzelnen Protagonisten mit Humor und einer sehr guten Beobachtungsgabe. In den Seiten dieses Romans erwachen sie sofort zum Leben, der etwas vorsichtige, aber sehr kreative J. J. und El Greco, der sich über viel Dinge Gedanken macht und präzise seine Schlüsse zieht. Das macht ihn zum großen Vorbild für J. J. Dann ist da noch Old Man Taylor, der die Jungen ernst nimmt und mit ihnen ehrlich und wie mit Erwachsenen redet. Damit gibt er vor allem J. J. Halt, als dieser mit nicht vorhersehbaren Ereignissen konfrontiert wird.har

Handlung und Schreibstil

J. J. erzählt sein Leben, die Ereignisse seines Alltags, die Gespräche mit seinem besten Freund El Greco in der Ich-Form, ergänzt durch Gedanken und Rückblicke. Dies macht die Handlung fließend, hier geht es nicht um Spannung, sondern um die täglichen Abenteuer des Lebens. Sprachlich großartig sind die Beschreibungen, Gedankenbilder und Metapher, die in die Erzählung einfließen und die dazu führen, dass man dieses Buch öfter als ein Mal lesen wird.

Fazit

Der Roman erzählt vom Leben und den Träumen von zwei Freunden auf dem Schritt von der Kind zum Jugendlichen, im aufregenden, aber auch problematischen Amerika der späten 60er Jahre. Die Sprache ist pures Lesevergnügen, klug, in Bildern erzählend und einprägsam. Definitiv ein Höhepunkt meines Lesejahres 2018.

Ein unvergänglicher Sommer – Isabel Allende

AutorIsabel Allende
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 13. August 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten350
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518428306

„Nicht die Schwerkraft hält unser Universum im Gleichgewicht, sondern die Liebe.“ (Zitat Seite 319)

Inhalt

Richard Bowmaster, 60, ist Professor an der Universität New York und holt eine Kollegin, Lucía Maraz aus Chile, 62, als Gastdozentin für sechs Monate an seine Fakultät. Sie wohnt als Untermieterin mit ihrem alten Chihuahua in Richards Haus, doch sie haben persönlich weniger Kontakt, als sie gehofft hatte. Es ist später Abend an einem Samstag Ende Januar 2016, als gerade ein eisiger Schneesturm über Brooklyn tobt, als Richard sie dringend um Hilfe bittet. In seinem Wohnzimmer sitzt Evelyn Ortega, eine junge Frau aus Guatemala. Auf dem Weg zum Tierarzt war Richard einige Stunden zuvor auf ihr Auto aufgefahren. Was wie ein Bagatellfall aussah, hat ungeahnte Folgen für alle. Denn Evelyn hatte für einen dringenden Weg in die Apotheke das Auto ihrer Arbeitgeber genommen, ohne zu fragen und im Kofferraum eine Leiche entdeckt. Zur Polizei können sie nicht gehen, da Evelyn sich illegal in den USA aufhält. Für Lucía gibt es nur eine Lösung – sie müssen das Auto und die Leiche loswerden und das möglichst rasch.

Thema und Genre

In ihrem neuesten Roman rund um einen Mordfall im eisigen Winter 2016 erzählt die Autorin von Schicksalsschlägen, Flucht und Hoffnungen. Es geht um die Lebensumstände der ungemeldet und illegal in den USA arbeitenden Menschen aus Mittelamerika, sowie um die aktuelle politische Lage. In den Geschichten von Lucía und Evelyn erhält der Leser einen Einblick in die Situation in Chile, Guatemala und Mexiko. Vor allem jedoch handelt dieses Buch vom Leben, von starken, mutigen Frauen und von der Chance auf einen Neubeginn.

Charaktere

Die Autorin stellt drei Personen in den Mittelpunkt der Handlung: Richard, den etwas schroffen, durch das Schicksal gezeichneten Einzelgänger. Die patente Lucía, deren Leben nie einfach war, die dennoch fröhlich und positiv geblieben ist. Evelyn, die nach einer abenteuerlichen Flucht durch Mexiko bei ihrer Mutter in den USA gelandet ist, jedoch abgeschoben werden soll, kümmert sich seit 2011 in New York rund um die Uhr um ihren Schützling Frankie und oft auch um seine Mutter. Sie alle sind speziell, etwas schrullig und gerade deswegen einfach liebenswert.

Handlung und Schreibstil

Die spannende Handlung spielt im Januar 2016, dazwischen immer wieder Kapitel mit Rückblenden, in denen die einzelnen Protagonisten sich in Gedanken an wichtige Ereignisse in der Vergangenheit erinnern, oder den anderen auch Geschichten aus ihrem Leben erzählen. Manche Rückblenden, wie zum Beispiel der abenteuerliche Weg Evelyns durch Mexiko, sind packend beschrieben und sehr spannend. Jedes Kapitel trägt als Überschrift die Namen der betreffenden Personen und auch eine Ortsangabe. Dies macht die Handlung für den Leser sehr übersichtlich und nachvollziehbar.

Isabel Allende erzählt diese besondere, sehr originelle Geschichte mit sprachlich beeindruckenden Schilderungen und vor allem wieder mit viel Wärme für alle menschlichen Facetten, Klugheit und Humor.

Etwas verwundet bin ich über den deutschen Titel, denn übersetzt würde der Originaltitel „Jenseits des Winters“ lauten, was wesentlich mehr Bezug zur Handlung hat.

Fazit

Eine spannende Geschichte mit politischen und sozialen Hintergründen, humorvoll und großartig erzählt. Die Charaktere sind originell und prägend für die Handlung, in der auch Freundschaft, Verständnis und Liebe nicht zu kurz kommen.

David – Judith W. Taschler

AutorJudith W. Taschler
Verlag Droemer HC
Erscheinungsdatum 2. Oktober 2017
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3426281338

„Alles, was auf diesen heißen Augusttag folgte, waren in den ersten Jahren tägliche kleine Katastrophen, sie mündeten in einer einzigen großen Katastrophe und die Folgen davon ließen aus ihrem Leben ein Desaster werden.“ (Zitat Seite 23)

Inhalt

Magdalena Millet kehrt nach 28 Jahren zurück ins Haus ihrer Kindheit, wo sie bei ihrer Oma Clara gelebt hat, bis diese überraschend verstorben ist und Magdalena in ein Heim kam. Sie renoviert das Haus, um darin zu leben.

Jan ist 18 Jahre alt, als seine Adoptivmutter bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Er findet sie, ihr Auto ist an einen Baum geprallt. Es ist ein großer, alter Davidsahorn, der auf Magdalenas Grundstück steht. Dieser Baum ist der Schlüssel zu einem alten Familiengeheimnis.

Thema und Genre

In diesem Familien- und Generationenroman geht es um jene Momente, in denen eine Entscheidung getroffen wird, die unvorhersehbare Folgen für alle Beteiligten und auch das Umfeld hat. Es geht auch um Vorurteile, das Leben in kleinen Dorfgemeinschaften und um die Liebe.

Charaktere

Die Autorin entwickelt unglaublich lebensnahe Charaktere mit allen menschlichen Schwächen, die den Leser mit ihren Schicksalen sofort in den Bann ziehen und uns mitfühlen lassen. Hier geht es nicht so sehr um die Frage, ob man einzelne Entscheidungen vielleicht anders getroffen hätte, sondern vor allem darum, was dann die Zeit, man kann es auch Ironie des Schicksals nennen, daraus macht.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung beginnt mit einem Ereignis in der Vergangenheit als Prolog und entwickelt sich in einzelnen Kapiteln zwischen Gegenwart und erklärender Vergangenheit weiter, bis sich der Bogen schließt. Die Geschichte ist in ihrer Komplexität spannend und schlüssig erzählt und bleibt auch nach der letzten Seite in den Gedanken des Lesers. Die poetische Sprache macht diesen Roman zu einem insgesamt beeindruckenden, großartigen Leseerlebnis.

Fazit

Eine facettenreiche Generationengeschichte in einer dichten, poetischen Sprache. Trotz der schwierigen Einzelschicksale ist es wunderbar positive Geschichte, die hier erzählt wird. Für mich persönlich eines meiner Lieblingsbücher 2018.

Der restliche Sommer – Max Scharnigg

AutorMax Scharnigg
Verlag Hoffmann und Campe
Erscheinungsdatum 14. März 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten240
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3455404944

„Der Fingerabdruck eines Paares liegt in einer Sprache, die nur ein anderer Mensch auf der Welt wirklich vollkommen richtig entschlüsseln konnte.“ (Zitat Seite 196)

Inhalt

Paul Neulich schreibt seit zwölf Jahren als August Sternberg eine konservative Ratgeber Kolumne über gutes Benehmen. Als ihm die Redaktion mitteilt, dass er nicht mehr in die zukünftige, moderne Blattlinie passt, verbringt er gerade mit der Performance Künstlerin Sara Almeida eine Auszeit in Portugal. Zwölf Jahre lang war Paul mit der Paartherapeutin Dr. Sonja Wilms verheiratet, bevor er sie verlassen hat. Sara wiederum war zuvor mit dem mit introvertierten Informatiker Tin Hasenglock zusammen, der gemeinsam mit zwei Freunden eine sehr erfolgreiche Social-Media-Community entwickelt hatte, Harpf.com. Persönliche Erlebnisse am Beginn dieses Sommers leiten Veränderungen ein …

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine Momentaufnahme im Leben der Protagonisten, gesellschaftskritisch und mit ironischer Betrachtung der Entwicklungen im Social Media Bereich und Journalismus. Er handelt aber auch von der Frage „wer war ich früher, wer will ich heute sein“, die sich wohl jeder irgendwann im Laufe des Lebens stellt.

Charaktere

Die Protagonisten haben eines gemeinsam, sie träumen sich die eigene Situation schön, spielen ihre Rollen, reagieren, statt zu agieren. Erst als der Autor sie mehr oder weniger wichtige Situationen erleben lässt, setzen Veränderungen ein. Doch selbst manche dieser Ereignisse sind im Grunde banal, nur in ihrem persönlichen Empfinden bedeutend. Dadurch bleibt man auch als Leser ein unbeteiligter Beobachter.

Handlung und Schreibstil

Der Zeitrahmen der Handlung beschränkt sich auf die ersten Sommerwochen, alle weiteren Details aus dem Leben der jeweiligen Person erfährt der Leser, indem der Autor ihn durch die personale Erzählform an den Gedanken und Erinnerungen seiner Figuren teilhaben lässt. Die einzelnen Kapitel betreffen abwechselnd Paul, Sara, Sonja, Tin; der jeweilige Name ist die Überschrift.  Ein einziges Kapitel ist aus Sicht des Nachrichtenchefs des Magazins, für das Paul schreibt, erzählt.

Die fließende, leicht zu lesende Sprache zeigt einige interessante Metapher, zum Beispiel beobachtet Paul ein Moskito in einem Spinnennetz. Interessant ist es auch, die Gedanken und Überlegungen der Protagonisten zu lesen, die oft im Gegensatz zum sichtbaren Verhalten und Handeln stehen.

Fazit

In der Realität sind die Dinge, die den vier Personen passieren, zwar wichtig, aber nicht so außergewöhnlich, wie sie es für sich selbst empfinden. Der Autor macht sich nicht die Mühe, auf die Auswirkungen der Ereignisse einzugehen, er bleibt vage, bei einem „vielleicht, vielleicht auch nicht“. Der ironisch gemeinten Gesellschaftskritik fehlen leider Humor und Ironie, dadurch versickert alles in 240 schnell zu lesenden Seiten von enttäuschender Mittelmäßigkeit.

Die Ermordung des Commendatore Band 2: Eine Metapher wandelt sich – Haruki Murakami

AutorHaruki Murakami
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 11. Mai 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten496
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832198923

„Eine Idee kann ohne die Anerkennung durch andere nicht existieren, speist aber diese Anerkennung zugleich durch ihre Existenz.“ (Zitat Seite 105)

Inhalt

Der Maler arbeitet weiterhin am Porträt von Marie und  gleichzeitig malt er ein Landschaftsbild, eine realistisch-fotografische Darstellung der Grube im Wald. Seine kreative, künstlerische Phase dauert an, er spürt, dass beide Gemälde von beeindruckender Qualität sind. Gleichzeitig beschäftigt ihn weiterhin das Bild „Die Ermordung des Commendatore“ und das Leben von Tomohiko Amada. Als er den alten Maler eines Nachts in seinem Atelier zu sehen glaubt, beschließt er, ihn zu besuchen. Da verschwindet Marie und für den Maler beginnt ein mystisches Abenteuer, das ihn in physisch und psychisch an seine Grenzen bringt …

Thema und Genre

Da es sich um einen Roman in zwei Teilen handelt, ohne zeitliche Abgrenzung, ändert sich die Thematik nicht. Ein Schwerpunkt sind weiterhin die Ereignisse in Kriegszeiten und ihre Auswirkung auf den einzelnen Menschen, der sie überlebt. Es geht um Verluste von nahestehende Menschen und die unterschiedlichen Arten, damit umzugehen.

Die mystische Komponente verstärkt sich im weiteren Verlauf der Handlung, einzelne Szenen erinnern an das griechische Orpheus-Mythos, welches sich jedoch auch in der japanischen Mythologie findet.

Charaktere

Der Hauptprotagonist erzählt seine Geschichte weiter. Die Gespräche mit Marie, vor allem aber sein gefährliches Abenteuer nach Maries Verschwinden verändern ihn. Er beginnt, sich von der Trauer um seine Schwester zu lösen und sieht auch seine Ehe realistischer. Seine künstlerische Kreativphase, die sich beim Malen des Porträts von Marie fortsetzt, gibt ihm ein neues Selbstbewusstsein, er kann Entscheidungen treffen.

Die 13-jährige Marie Akikawa besucht den Maler öfter heimlich, mit ihm spricht sie über ihre Probleme und ihr Leben, da sie ihm vertraut und er andererseits ihre Beobachtungsgabe und kluge Sicht der Dinge erkennt.

Wataru Menshiki freundet sich mit Maries Tante an, bleibt jedoch bei seinem präzisen, ordentlichen Tagesablauf. Er unterstützt den Maler weiterhin und man könnte durchaus von einer Art Freundschaft zwischen diesen beiden unterschiedlichen Männern sprechen. Anders als der Hauptprotagonist will er jedoch keine Antworten wissen, sondern ihm genügt die Möglichkeit.

Handlung und Schreibstil

Der Spannungsbogen des ersten Teiles steigt weiter an, um dann erzählend auszuklingen. Wobei der Autor nicht für alle Themen und Erzählstränge Lösungen anbietet, manche erklärt er, dann wieder überlässt er es dem Leser, sich mögliche Entwicklungen vorzustellen.

Gerade dies macht den Roman so ungewöhnlich, aber auch packend. Für viele Ereignisse im Leben der Hauptfiguren bieten sich mehrere Erklärungen an, alle sind möglich, aber der Autor legt sich auf keine fest.

Dieser zweite Band führt die Geschichte aus dem ersten Buch mit Kapitel 33 nahtlos fort und endet mit dem Kapitel 64. Auch die Erzählperspektive wechselt nicht.

Die Sprache ist weiterhin großartig zu lesen, der Autor spielt mit Worten, Metaphern und Symbolik, teilweise werden Metapher sogar zu Protagonisten.

Fazit

Es handelt sich hier nicht zum zwei in sich geschlossene Teile, sondern um einen Roman, der in zwei Bänden erschienen ist. Daher sollte man auch mit Band 1 zu lesen beginnen. Der zweite Teil führt die surrealen Ereignisse fort und das mystische Element steigert sich. Der Autor bietet nicht für alles Erklärungen und eindeutige Antwort an, damit muss man als Leser umgehen können. Dann wird man dieses neueste Werk von Haruki Murakami mit Begeisterung lesen und vielleicht, so wie ich, eines der Lieblingsbücher des Lesejahres 2018 gefunden haben.

Die Ermordung des Commendatore Band 1: Eine Idee erscheint – Haruki Murakami

AutorHaruki Murakami
Verlag DuMont Buchverlag
Erscheinungsdatum 25. Januar 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten480
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3832198916

„Die Zivilisation schreitet voran, während du wie Urashima im Drachenpalast auf dem Meeresgrund mit den Seebrassen dein Mittagsschläfchen hältst.“ (Zitat Seite 132)

Inhalt

Ein Künstler dessen Namen wir nicht kennen erzählt seine Geschichte, die inzwischen einige Jahre zurück liegt. Der erfolgreiche Porträtmaler ist 36 Jahre alt, als sich seine Frau scheiden lassen will. Einge Monate lang reist er durch Japan, bevor ihm ein Studienfreund das einsam auf einem Berg gelegene Haus seines Vaters, des berühmten Malers Tomohiko Amadas,  zur alleinigen Nutzung überlässt. Eines Tages findet er auf dem Dachboden des Hauses ein Gemälde von beeindruckender Intensität: ›Die Ermordung des Commendatore‹, das ihn an eine Szene aus „Don Giovanni“ erinnert. Gleichzeitig kontaktiert ihn Wataru Menshiki, sein charismatischer Nachbar – er soll ihn porträtieren, wobei ihm künstlerisch keine Grenzen gesetzt sind. Der Erzähler will auf Grund seiner Schaffenskrise ablehnen, doch plötzlich kehrt die Inspiration zurück. Gleichzeitig ereignen sich einige erstaunliche Vorfälle …

Thema und Genre

Haruki Murakami hat hier wieder einen außergewöhnlichen Roman geschaffen. Angesiedelt in der Welt der Künstler, reicht der Inhalt jedoch weit darüber hinaus. Ein Erzählstrang, verbunden mit der Geschichte des Gemäldes, führt nach Wien, wo der alte Maler von 1933 bis 1939 studiert hatte. Auch zwischenmenschliche Beziehungen sind ein Thema. Eine mystische Spur von geheimnisvollen Ereignissen zieht sich durch die gesamte Handlung.

Charaktere

Der Hauptprotagonist, ein Portraitmaler, erzählt uns eine erstaunliche, teilweise unheimliche Geschichte, die er vor einigen Jahren erlebt hat. Damals befand er sich in einer Phase der künstlerischen Stagnation, da ihn mit seiner Frau auch die Inspiration verlassen hatte. Die Trennung von seiner Frau hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen, bis er sich überreden ließ, doch wieder ein Portrait zu malen.

Sein Auftraggeber und Mentor Wataru Menshiki ist ein älterer Herr, sehr begütert, eine imposante Erscheinung, charismatisch, aber nicht zu durchschauen. Er ist gewohnt, Menschen manipulieren zu können. Zur Zeit dieser Geschichte lebt er in einer großen Villa im Sichtfeld des Erzählers auf der anderen Seite des Tales.

Handlung und Schreibstil

Das Buch beginnt mit einem scheinbar zusammenhanglosen Prolog in der Jetztzeit, geht dann zurück in die Geschichte, die der namenlose Ich-Erzähler erzählen will und die inzwischen einige Jahre zurückliegt. Erklärungen und Hintergrundinformationen erhält der Leser vom Erzähler in Form von Gedanken, Überlegungen, Erinnerungen. So kommt es manchmal zu Überschneidungen, durch neue Details ergänzte Wiederholungen, wenn sich der Hauptprotagonist in seinen Gedanken nochmals mit denselben Vorgängen befasst. Insgesamt verschwimmen auch in diesem Roman Murakamis die Grenzen zwischen Realität und möglicher Einbildung, mystischen, kaum erklärbaren Vorgängen.

Die Geschichte umfasst einen Prolog und 32 Kapitel, wobei die Überschrift jeweils einen Gedanken des jeweiligen Kapitels aufnimmt. Kapitel 31 endet mit einem Cliffhanger, ein  aufregender nächster Sonntag wird erwähnt, während das kurze Kapitel 32 einen Verweis in die Vergangenheit enthält, der für den Leser noch nicht zuordenbar ist. Der zweite Band ist bereits erschienen.

Die Sprache ist pures Lesevergnügen, der Autor spielt mit Worten und Beschreibungen, geht ins Detail, wo es ihm wichtig erscheint. Als Leser taucht man sofort tief in die Geschichte ein.

Fazit

Die spannende, teilweise auch magische Handlung und die Personen begeistern von der ersten Seite an. Wenn man bereit ist, sich auf den Autor einzulassen und auch seine surrealen Einfälle auf sich einwirken lässt, ohne alles hinterfragen zu wollen, wird man das Buch kaum aus der Hand legen können.

Herr Kato spielt Familie – Milena Michiko Flasar

AutorMilena Michiko Flasar
Verlag Klaus Wagenbach
Erscheinungsdatum 2. Februar 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten176
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3803132925

„Mit großen Schritten geht er los, als ob dort, wohin er geht, jemand warten würde und es von höchster Dringlichkeit wäre, rechtzeitig hinzugelangen.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Seit Herr Kato im Ruhestand ist, hat er plötzlich viel Zeit. Wie schon die Jahre zuvor, kontrolliert er penibel, wie seine Frau die anfallenden Arbeiten im Haushalt erledigt und er merkt genau, wie wenig sie sich im Grunde zu sagen haben. Da trifft er Mie, eine junge Frau, deren Agentur „Happy Family“ Personen als perfektes Double für fehlende Familienmitglieder vermittelt. Die Einsätze sind kurz, für die Dauer eines Besuches oder einer Feier, professionell, aber unverbindlich. In seinem ersten Auftrag spielt er Herrn Kato, den Großvater eines Jungen. Es folgen weitere Einsätze, die ihn langsam verändern.

Thema und Genre

Dieser Roman skizziert einen kurzen Zeitraum im Leben des Protagonisten, ergänzt durch Rückblenden in Form seiner Gedankengänge. Es ist ein kritisches Gesellschaftsbild, das uns die Autorin hier schildert, als unpassend empfundene oder abwesende Familienmitglieder werden durch perfekt agierende Doubles ersetzt. Kernthema ist der Ruhestand und die Auswirkungen auf das Umfeld am Beispiel eines langjährigen Ehepaares in Japan. Im traditionellen Rollenbild war der Mann der in seinem Beruf aufgehende Erwerbstätige, während die Aufgabe der Frau daraus bestand, den Mann zu Hause perfekt zu umsorgen. Plötzlich war der Ehemann im Ruhestand rund um die Uhr zu Hause, eine neue Situation, die zu Problemen führen konnte.

Charaktere

Herr Kato – seinen richtigen Namen erfährt der Leser nicht – war gewohnt, dass sich die Familie immer nach seinen Wünschen richtete. Diese Haltung verstärkt sich im Ruhestand, seine Gedanken drehen sich hauptsächlich um die eigenen Befindlichkeiten und kritisch kontrolliert er jeden Handgriff seiner Frau im Haushalt. Erst als er durch seine Stand-In-Auftritte gezwungen ist, sich mit Problemen fremder Menschen zu beschäftigen, beginnt er, auch sein eigenes Leben zu überdenken. Dennoch kein besonders sympathischer Charakter. Die anderen Personen kommen ins Bild, wenn sie für eine Episode und als Vergleich dienen, um dann die Handlung wieder zu verlassen. Interessant ist es, wie die Ehefrau zeitgleich mit dem Ruhestand des Ehemannes langsam beginnt, eigene Wege zu gehen.

Handlung und Schreibstil

Die personale Erzählperspektive schildert dem Leser die Ereignisse aus Sicht von Herrn Kato. Auf insgesamt 164 Seiten fügt die Autorin kurze Episoden und bruchstückhafte Einblicke in Ereignisse im Leben von Herrn Kato aneinander, ergänzt durch zahlreiche Rückblenden in Form von langen gedanklichen Selbstgesprächen des Hauptprotagonisten. Auch viele der Dialoge finden nur im Kopf von Herrn Kato statt, während in der Realität geschwiegen wird.

Herausragend ist die Sprache dieses Romans, intensive Schilderungen der einzelnen Stimmungen und Gedanken des Herrn Kato wechseln zu beinahe stichwortartigen Halbsätzen, sobald es um wirkliche Gespräche geht.  Der Aufbau der Handlung entspricht der in kleinen Schritten wahrnehmbaren positiven Veränderung des Hauptprotagonisten, er muss „lernen mit dem ganzen Körper zu lächeln“.

Fazit

Sprachlich ein Lesevergnügen, ist dieser Roman auch thematisch interessant. Allerdings wirkt die hier beschriebene Problematik des Eintritts in den Ruhestand in der heutigen Zeit der ebenfalls berufstätigen Frauen auf mich etwas veraltet. Dies mag daran liegen, dass der Roman in Japan spielt, wo das Arbeitsleben tatsächlich einen sehr hohen Stellenwert einnimmt. Trotz einiger skurriler Szenen überwiegt für mich der negative Grundtenor und die Handlung und ihre Personen konnten mich nicht vollkommen überzeugen. Ein Buch für Leser mit Interesse an neuer deutscher Literatur.

Nach dem Winter – Guadalupe Nettel

AutorGuadalupe Nettel
Verlag Karl Blessing Verlag
Erscheinungsdatum 5. März 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-133896676139

„Jede neue Freundschaft, vor allem wenn eine gewissen Anziehungskraft besteht, bedeutet eine Reise in eine unbekannte Dimension oder zumindest in Parzellen der Wirklichkeit, mit denen wir nicht vertraut sind.“ (Zitat Seite 139)

Inhalt

Aufgewachsen in Kuba, lebt Claudio nun in New York. Er arbeitet als Lektor und Übersetzer in einem Verlag und auch als Lektor. Er ist mit der Designerin Ruth befreundet, lebt jedoch allein. Sein Tagesablauf folgt einem festen Ritual, was ihm Sicherheit gibt.

Cecilia hat Mexiko verlassen, um in Paris Literaturwissenschaften zu studieren und schreibt an ihrer Magisterarbeit. Sie lebt sehr zurückgezogen in einer Wohnung mit Blick auf einen Friedhof. Nur zwei Menschen können sie immer wieder aus ihrer Isolation holen, ihre Freundin Haydée und ihr Wohnungsnachbar Tom.

Claudio kennt Haydée schon seit der gemeinsamen Jugend in Kuba und als er für einige Tage nach Paris kommt, trifft er sie. Haydée bringt Cecilia zu diesem Treffen mit und Claudio und Cecilia verlieben sich auf den ersten Blick. Weihnachten verbringen die beiden in Paris, dann fliegt Cecilia zu Claudio nach New York. Doch es gibt immer noch Ruth und Tom …

Thema und Genre

Dieser Roman handelt von Problemen, die nicht aufgearbeitet wurden und daher das Verhalten der Protagonisten auch Jahre später noch beeinflussen. Ein weiteres Thema sind Depressionen und die Art der Menschen, damit umzugehen. Es geht aber auch um Migration und die damit verbundene Einsamkeit in einer Großstadt, was sowohl bei Claudio in New York, als auch bei Cecilia in Paris zu einer Isolation führt, die jedoch in beiden Fällen gewollt ist. Gerade dieses bewusste Leben als zurückgezogene Einzelgänger stellt beide vor völlig neue emotionelle Herausforderungen, als sie im anderen eine verwandte Seele finden und sich verlieben.

Charaktere

Claudio verlässt Kuba nach einem traumatischen Erlebnis, das er mit den Jahren verdrängen kann, das aber dennoch seine Persönlichkeit prägt. Daher verlaufen seine Beziehungen zu Frauen, bevor er Cecilia trifft, auf Distanz. Mit Ruth, die fünfzehn Jahre älter ist, trifft er sich daher niemals in seiner eigenen Wohnung, schafft es aber auch nicht, sich definitiv von ihr zu trennen. Er ist kein Protagonist, den man als Leser ins Herz schließen möchte, obwohl man sein Verhalten im Kontext nachvollziehen kann.

Cecilias Mutter verlässt die Familie, als Cecilia ein kleines Kind ist. Dieses Erlebnis prägt sie und sie beginnt früh, sich für Friedhöfe zu begeistern. Mit fünfzehn gehört sie zur Literatur- und Gothic-Szene und auch als erwachsene Frau in Paris hält sie sich gerne auf Friedhöfen auf. Sie hat Phasen in ihrem Leben, in denen sie sich völlig von der Außenwelt abschottet. Sie braucht eine wichtige Aufgabe, um aus ihrer Isolation aufzutauchen.

Handlung und Schreibstil

Die Autorin erzählt die Geschichte in der Ich-Form, wobei es zwei Ich-Erzähler gibt, Claudio und Cecilia. Als zusätzliches Stilmittel lässt sie jene Passagen des Romans, welche die Beziehung zwischen Claudio und Cecilia betreffen, doppelt erzählen, dieselbe Situation jeweils aus der Sicht von Claudio, dann, wie Cecilia es sieht. Durch dieses betonte Schildern erhält der Leser einen tieferen Einblick in die unterschiedlichen Denkweisen der beiden, wodurch sich das jeweilige Verhalten nachvollziehen lässt.

Rückblenden in Form von Kindheits- und Jugenderinnerungen erklären Probleme, die in der Vergangenheit liegen, aber auch in der Gegenwart Auswirklungen auf die Persönlichkeit der Charaktere haben.

Die Spannung ergibt sich nicht so sehr aus den Geschehnissen, sondern aus den unterschiedlichen, möglichen Entscheidungen der Hauptprotagonisten, als Leser überlegt man zuvor, wie es weitergehen wird und danach, wie man selbst vielleicht entschieden hätte. In erster Linie ist es jedoch eine Erzählung, die uns über eine bestimmte Zeitspanne am Leben von Claudio und Cecilia teilhaben lässt.

Die anspruchsvolle Sprache liest sich flüssig, sie beschreibt, verdichtet dort, wo es um die jeweiligen Gedankengänge geht, verzichtet jedoch auf Metapher.

Fazit

Trotz des Textes auf der Buchrückseite „ … ein berührender Roman über die heilende Kraft der Liebe“ sollt man bei dem vorliegenden Buch keinen romantischen Wohlfühlroman erwarten, denn dann wird man enttäuscht. Es ist eine sehr realistische Schilderung von Menschen, die in der Anonymität der Großstadt untertauchen, geprägt von Kindheits- und Jugenderlebnissen und wie sie mit den Herausforderungen einer Beziehung umgehen. Interessant ist dabei, dass die wichtigsten Entscheidungen nicht von ihnen selbst getroffen werden, sondern sie durch nahestehende Dritte gleichsam in die Entscheidung gedrängt werden. Die Autorin überlässt es dem Leser, über andere Varianten, das bekannte „was wäre, wenn“ nachzudenken.

Ein Roman, auf den man sich einlassen muss, doch wenn man dies tut, legt man ihn erst aus der Hand, wenn die letzte Seite umgeblättert ist. 

So enden wir – Daniel Galera

AutorDaniel Galera
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 11. März 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten231
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518428016

„Ich glaubte an die Zukunft, an die Kreativwirtschaft und an die Kraft des Kapitalismus, mit den eigenen Widersprüchen klarzukommen, einschließlich der Apokalypsen.“ (Zitat Seite 106)

Inhalt

Ende der 90er Jahre in Brasilien eroberten sie die digitale Welt mit ihrem kontroversiellen Online-Magazin „Orangotango“. Vier Freunde – Aurora, Emiliano, Antero und Andrei Dukelsky, genannt „Duke“. Ihr Leben war wild, immer bereit, die bekannten Strukturen aufzubrechen, kulturelles Neuland zu betreten. Ihre Wege trennten sich. Emiliano war weiterhin als Journalist tätig, während Antero eine sehr erfolgreiche Werbefirma aufgebaut hat. Aurora hat sich für ein Biologiestudium entschieden und arbeitet an ihrer Dissertation über den Biorhythmus von Zuckerrohr. Duke wurde ein erfolgreicher Schriftsteller mit einer großen Fangemeinde – doch 2014 wird er bei einem Raubüberfall ermordet. Bei seinem Begräbnis beginnen sich die drei Freunde zu fragen, was aus ihnen und ihren Träumen geworden ist und vor allem, wer war Duke wirklich und was bedeutet sein Vermächtnis?

Thema und Genre

Der Autor legt uns hier einen Generationenroman vor, das Dilemma einer mit allen Möglichkeiten der neuen digitalen Welt aufgewachsenen, intellektuellen Jugend, die sich selbst jedoch mit den Jahren irgendwie verloren hat, in der Realität verunsichert, vereinsamt, aber sich gleichzeitig den intensiven Lebenshunger erhalten hat. Er siedelt seine Geschichte mitten in den chaotischen Zuständen der Proteste und Streiks 2014 an, in den Städten Porto Alegre und Sao Paulo. Thema dieses Romans ist natürlich auch die wirtschaftliche Situation in Brasilien, die Demonstrationen der unzufriedenen Bevölkerung, doch das Kernthema sind die vernetzte Konsumwelt und die schillernde Welt der sozialen Medien, der sich niemand entziehen kann. Selbst die sexuellen schnellen Bedürfnisse lassen sich einfacher in der virtuellen Welt ausleben, als in persönlichen Begegnungen.

Handlung, Charaktere und Schreibstil

Der sprachgewaltige Roman ist in der Ich-Form geschrieben, jedoch mehrmals zwischen den Personen Aurora, Emiliano, Antero wechselnd. Duke als Hauptprotagonist tritt, da der Roman mit der Nachricht von seinem Tod beginnt, nur in den Rückblicken und Erinnerungen seiner Freunde und Partnerin gleichsam aus dem Schatten in den Vordergrund. Ein nach wie vor kreativer, erfolgreicher Schriftsteller, gibt er in seinen Büchern und in den sozialen Medien immer ein perfektes Bild ab, wer er wirklich ist, weiß niemand. Er bringt das Dilemma der Generation Internet am besten auf den Punkt, indem er sich selbst plötzlich vollkommen zurückzieht und schon in jungen Jahren Vorkehrungen für sein virtuelles Erbe trifft.

Antero dagegen, das erwachsen gewordene Enfant terrible, nützt sein Können und Wissen von der Wirkung der global vernetzten Marketingstrategien gekonnt aus, obwohl er genau diese Mechanismen im Grunde verachtet.

Aurora dagegen hat sich für die Wissenschaft entschieden, sich macht sich Sorgen um die ökologische Zukunft der Menschen und der Erde, forscht akribisch, um sich in einer Männer dominierten Welt der Wissenschaft durchzusetzen. Natürlich will sie in ihrem Fachgebiet auch erfolgreich sein.

Nur Emiliano ist Journalist geblieben, er schreibt unabhängig und kritisch und als er mit der Biografie von Duke beauftragt wird, weigert er sich zunächst, sagt aber dann doch zu und beginnt zu recherchieren. Er will vor allem den Menschen Duke zeigen.

In diesem modernen Roman zeigt Daniel Galera Probleme auf, die im Grunde zeitlos sind. Wie viele ehemals stürmische, unangepasste 68er sehen sich irgendwann um und müssen feststellen, dass sie bequem und zutiefst bürgerlich geworden sind, in genau jenem Establishment, gegen das sie in ihrer Jugend demonstriert haben. So ähnlich geht es nun der ebenfalls rebellierenden Jugend der späten 90er, die sich der vielfältigen Möglichkeiten moderner Informationstechnologien für eine völlig neue Art der Kultur einer globalen Vernetzung ihrer gesellschaftskritischen Anliegen bediente und nun, erwachsen im Alltag einer Karriere-orientierten Gesellschaft angekommen, resignierend fragt, ob es das ist, wofür man mit jugendlichem Idealismus gekämpft hat. Es sind Themen, über die wohl jeder Leser schon nachgedacht hat, die durch diesen Roman vielleicht neue Sichtweisen bekommen und die sich sicher nicht mit der letzten Seite dieses Buches abschließen lassen.

Fazit

Wer sich auf diesen Autor, seine Themen und seine Sprache einlässt, muss sich Zeit nehmen. Ein erster Test ist der allererste Satz dieses Romans, der über dreizehn gedruckte Zeilen geht und den man in einer Buchhandlung oder in einer Leseprobe lesen sollte. Man sollte auch bereit sein für eine manchmal harte, beinahe brutale Ausdruckweise und entsprechende Gedankenbilder. Dennoch ist der Autor nie wirklich destruktiv und er entlässt seine Protagonisten und Leser mit einem Ausblick in eine positive Zukunft, ein leises Bild, neue Erkenntnisse, neue Energien.

Leinsee – Anne Reinecke

AutorAnne Reinecke
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 28. Februar 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257070149

„Vielleicht bin ich ja nur der erfundene Freund eines verrückten Kindes, dachte er.“ (Zitat Seite 74)

Inhalt

Der junge, aufstrebende Vakuumkünstler Karl Sund, eigentlich Stiegenhauer, ist der Sohn des berühmten Künstlerpaares August und Ada Stiegenhauer. Zusammen mit seiner Freundin Mara lebt er in Berlin. Als bei Karls Mutter ein Gehirntumor festgestellt wird, nimmt sich sein Vater das Leben. Nach sieben Jahren Abwesenheit muss Karl daher nach Leinsee fahren, in die Villa seiner Kindheit. Die Situation, zusammen mit seinen Erinnerungen an Eltern, in deren Leben er nie wirklich gepasst hat, überfordert ihn. Eines Tages sitzt ein Mädchen auf dem Kirschbaum in seinem Garten und dieses Kind, Tanja, lehrt ihn die Freude und Spaß an den kleinen Dingen des Alltags. In Berlin findet seine bisher größte Ausstellung ohne ihn statt und Mara stellt ihm ein Ultimatum. Doch ist Karl bereit, wieder in sein altes Leben zurück zu kehren? …

Thema und Genre

Leinsee ist ein überaus vielschichtiger Roman, der eine Reihe von Themen und Problematiken verknüpft. Es ist einerseits eine Familiengeschichte, Eltern, in deren Zweisamkeit und Künstlerleben ein Kind wenig Platz hat, die Karl viel zu früh in die Selbstständigkeit entlassen. Daraus ergibt sich Karls im Grunde nie erfüllte Sehnsucht nach Mutterliebe. Andererseits ist diese Geschichte auch ein Ausflug in die Kunstszene zwischen Kreativität und Kommerz. Es fnden sich aber durchaus auch Anklänge an den traditionellen Entwicklungsroman, da Karl erst durch seine Beziehung zu der phantasievollen, direkten und ehrlichen Tanja langsam zu sich selbst und in sein eigenen Leben findet.

Charaktere

Der Hauptprotagonist Karl hat sich schon mit 26 Jahren einen Namen als Künstler gemacht, doch in seinem Leben fehlt noch immer etwas, er ist ein Suchender mit einigen Rückschlägen. Als in der Kunstszene durch die Ereignisse seine wahre Identität bekannt wird, macht ihn dies zwar noch erfolgreicher, aber er steht plötzlich wieder im Schatten seiner berühmten Eltern, genau das wollte er nicht. Er muss lernen, sich selbst und seinen eigenen Weg zu definieren. Mara ist eine erfolgreiche Regisseurin, die gewohnt ist, zielorientiert zu denken und zu agieren und erwartet von Karl, dass er ebenso handelt. Zwei weitere Protagonisten kommen aus der Kunstszene. Torben Behning, ebenfalls 26 Jahre alt, war zuletzt der Sekretär seiner Eltern und möchte unbedingt die Kunstsammlung auch weiterhin verwalten. Max Raiken, Galeriebesitzer ist Karls Manager und ehrlicher Freund. Mit diesen beiden Charakteren skizziert die Autorin völlig unterschiedliche Akteure in der Kunstszene, denen wir im realen Leben immer wieder begegnen. Die zweite Hauptprotagonistin Tanja – ist einfach Tanja und zieht den Leser sofort in ihren Bann.

Handlung und Schreibstil

Der Roman ist in einzelne Kapitel gegliedert, deren Überschrift jeweils eine genau definierte Farbe ist, nicht Blau, sondern Kornblumenblau, nicht Violett, sondern Kirschviolett, wobei jede Farbe auf den Inhalt des Kapitels Bezug nimmt. Die Erzählform stellt Karl in den Mittelpunkt, mit Ausnahme von einigen Rückblenden, seine Eltern betreffend.

Die Sprache spielt mit Beschreibungen, Metaphern und kommt dann wieder mit ein-Wort-Sätzen aus.  Sie führt den Leser mit Leichtigkeit und Zartheit durch die Geschichte, trotz der durchaus ernsten Themen und Ereignisse. Trauer ist tief und ehrlich, aber nie larmoyant. Auch der Humor kommt nicht zu kurz, manche Szenen sind so skurril und genial geschildert, dass man als Leser laut auflacht. Die Liebesgeschichte entwickelt sich sanft und leise, kommt manchmal mit nur wenigen Worten aus.

Fazit

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass uns Anne Reinecke und der Diogenes Verlag hier ein Romandebüt vorlegen, welches wir in absehbarer Zeit auf den Shortlists für diverse Literaturpreise finden werden. Ein auch sprachlich beeindruckendes Buch, das man lesen und genießen sollte.

Leere Herzen – Juli Zeh

AutorJuli Zeh
Verlag Luchterhand
Literaturverlag
Erscheinungsdatum 13. November 2017
FormatGebundene Ausgabe
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630875231

„Jetzt weiß ich, dass richtig und falsch erst existieren, nachdem man sich entschieden hat.“ (Zitat Seite 324)

Inhalt

Richard und Britta sind mit Knut und Janina seit Jahren eng befreundet, trotz der unterschiedlichen Lebensperspektiven. Während Janina sich auf das alte Haus im Grünen freut, das sie kaufen wollen, hat Britta sich bewusst für ein modernes Haus in Braunschweig entschieden. Britta Söldner ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Zusammen mit dem IT Spezialisten Babak Hamwi führt sie die „Brücke“, eine Heilpraxis im Bereich Psychotherapie und Tiefenpsychologie. Kern ihres Unternehmens ist der von Babak entwickelte Algorithmus, „Lassie“. Sie selbst sehen sich als Dienstleister, spezialisiert auf Menschen mit Selbstmordabsichten.

Plötzlich taucht gefährliche Konkurrenz auf, die nicht nur ihr Geschäftsmodell stehlen will und dadurch ihre Existenz bedroht, sondern auch ihr Leben und das ihrer neuesten Kundin Julietta …

Thema und Genre

Them

Charaktere

Mein Lieblingscharakter in diesem Roman ist Juliette, eine junge Frau, die genau weiß, was sie will und was sie nicht will. Verletzlich und dennoch selbstbewusst. Durch sie beginnt Britta, ihr Leben und ihre Handlungen zu hinterfragen.

Handlung und Schreibstil

Der Roman spielt in der nahen Zukunft, die BBB „Besorgte Bürger Bewegung“ hat die Regierung Merkel abgelöst. Den Menschen sind die Ideale abhanden gekommen, sie nehmen die Situation als gegeben und versuchen, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen. Wichtige Themen sind Demokratie und Demokratieverständnis und die Frage, ob und wie lange man ein Leben im „Wegschauen“ führen kann. Speziell ist natürlich auch die Geschäftsidee der „Brücke“, definiert als Terrordienstleister.

Beispielhaft für den Zeitgeist, rund um den die Autorin ihre Geschichte entwickelt, steht die Lebenssituation der beiden Ehepaare Knut-Janina mit Tochter Cora, 7 Jahre alt, und Richard-Britta mit Tochter Vera, 7 Jahre alt. Erstere wollen ein altes, weit abgelegenes Haus auf dem Land kaufen, während Britta bewusst eine gute Lage in einer mittelgroßen Stadt gesucht hat und so auf Braunschweig gekommen ist. Britta verdient mit ihrer Firma viel Geld, dies und der Erfolg sind für sie das Wichtigste im Leben – ihre Ziele verfolgt sie skrupellos. Für ihre Familie bleibt da wenig Zeit. Von ihrem Geschäftspartner Babak erwartet sie, dass er ihre Ideen ausführt und sich ihren Zielen unterordnet.

Man könnte den Roman, geschrieben in der neutralen Erzählform, als gesellschaftskritisches Zeitbild beschreiben, eingepackt in einen fesselnden Thriller. Die Handlung ist spannend und enthält zahlreiche Andeutungen und Wendungen, die den Leser lange über die wahren Gegner und Hintergründe im Unklaren lassen.

Fazit

Die Autorin zeigt in ihrem Roman eine mögliche Zukunft Deutschlands mit Menschen, denen Träume und Wertvorstellungen weitgehend abhanden gekommen sind. Sie zeichnet ein ziemlich düsteres, aber nicht hoffnungsloses Bild.

Mich erinnert dieses Buch an die früheren psychologisch-spannenden Romane von Juli Zeh und hat mich, im Gegensatz zu Unterleuten, wieder völlig überzeugt. Ein Thema mit Tiefgang, großartig umgesetzt.

Die Hauptstadt – Robert Menasse

AutorRobert Menasse
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 11. September 2017
FormatGebundene Ausgabe
Seiten459
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518427583

„Wir haben Experten für alles, sagte Hidekuti. Wir können Regen machen, und wir können das so machen, dass die Kommission im Regen steht.“ (Zitat Seite 330)

Inhalt

Fenia „Xeno“ Xenopoulou hat Wirtschaft studiert, doch der erhoffte Aufstieg innerhalb der Europäischen Kommission beförderte sie ausgerechnet ins Kultur Ressort, als Leiterin der Direktion C, Kommunikation. Dies möchte sie rasch ändern und zumindest wieder ins Ressort Handel zurück. Gleichzeitig sucht Grace Atkinson, die neue Generaldirektorin des Kommunikationsdienstes nach einer zündenden Idee, das Image der Europäischen Kommission bei den EU Bürgern zu verbessern, das 50 Jahre-Jubiläum in zwei Jahren scheint ihr der perfekte Anlass. Fenia Xenopoulou wiederum sieht eine Chance, sich zu profilieren und erklärt das Big Jubilee Project zu einer Sache des Ressorts Kultur. Ihr Mitarbeiter Dr. Martin Susman kommt von einem Besuch in Auschwitz zurück und mit der hat eine Idee für das Jubiläumsprojekt. Die Überlebenden von Auschwitz, die der Wunsch nach einem Leben in Würde und Freiheit einte. Doch wo findet man diese Überlebenden?

Neue Visionen zur Zukunft der EU „New Pact for Europe“ sind auch das Thema eines Think-Tank aus internationalen Fachleuten, dem auch der österreichische Professor DDr. Alois Erhart. Er schlägt dem Gremium die Errichtung einer neuen Hauptstadt vor …

Für weitere Verwirrung sorgt ein Schwein, das durch Brüssel irrt und ein Mord im Hotel Atlas, den Kommissar Brunfaut untersuchen will, aber nicht darf.

Thema und Genre

Robert Menasse beschreibt in diesem Roman das Gefüge der Europäischen Union, Abläufe in der Bürokratie von Brüssel, und dies alles so realistisch, dass es genau so passiert sein könnte, teilweise auch ist. Ähnliche Personen wie die Hauptakteure seiner Geschichte kennen wir alle. Kritisch werden Verträge hinterfragt, die internen Querelen nachvollzogen, aber Kernstück ist die Frage nach der Eigenständigkeit der Nationen unter der Idee einer supranationalen Zukunft – und der nach wie vor aktuelle Umgang mit der Vergangenheit.

Charaktere

In seinem Europa-Roman stellt der Autor die Hauptpersonen, um die er seine Geschichte entwickelt, dem Leser vor, indem er sie durch eine Gemeinsamkeit eint: alle sehen ein Schwein, dass durch Brüssel läuft und einen keineswegs friedlichen Eindruck macht.

Dies sind die ehrgeizige Fenia „Xeno“ Xenopoulou, gegen ihre Wünsche ins Kultur Ressort befördert und Kai-Uwe Frigge, Kabinettchef Generaldirektion Handel, mit dem sie eine lockere Beziehung hat;

Dr. Martin Susman, Mitarbeiter in ihrem Team, Kind österreichischer Bauern, dessen Bruder Florian den elterlichen Schweinemastbetrieb erfolgreich weiterführt;

Ryszard „Mateusz“ Oswiecki, der einen Auftrag ausgeführt hat und untertaucht;

David de Vriend, der in Brüssel lebt, Auschwitz überlebt hat und gerade in ein Altersheim übersiedelt ist;

Prof. DDr. Alois Erhart, auch im Alter noch damit beschäftigt ist, seine Kindheit zu verarbeiten und endlich seine eigenen Visionen findet;

Kommissar Emile Brunfaut der einen Mordfall vergessen soll, statt ihn aufzuklären.

Jede dieser Hauptpersonen hat ihre eigene Geschichte, die Menasse erzählt, teilweise durch Rückblenden, vor allem aber, indem er uns an ihren Gedanken teilhaben lässt. Dadurch erklären sich Verhaltensweisen und Handlungen. Manche der Personen kennen einander, andere begegnen sich, verharren jedoch in der Anonymität der Großstadt  und als Leser möchte ihnen zurufen, doch miteinander zu reden, weil es wichtig wäre. Die Sprachenvielfalt in Brüssel macht die Kommunikation nicht einfacher.

Handlung und Schreibstil

Die parallel laufenden Einzelschicksale machen die Geschichte spannend, dazu kommt die gekonnte sprachliche Qualität, die Lesevergnügen garantiert. Besonders die genialen philosophischen Betrachtungen über Dinge wie Senf und Insekten, die der Autor Dr. Martin Susman anstellen lässt, sind skurril, geistreich und witzig.

Leider lässt die Spannung in der zweiten Hälfte des Buches etwas nach, der Autor will uns hier meiner Meinung nach einfach zu viel über Abläufe in der EU und in den Kommissionen mitteilen und auch die langatmigen inneren Selbstdialoge von Prof. Erhart haben dazu geführt, dass mich der Autor kurzzeitig verloren hat, die Geschichte schien mir irgendwie in Nebensächlichkeiten auszufransen. Dann jedoch führt der Autor die Personen im Finale nochmals zusammen und lässt das Schicksal einen gewaltigen Schlusspunkt setzen.

Fazit

Beim Erscheinen dieses Romans war ich natürlich gespannt, aber die Leseprobe hat mich eher ratlos gemacht. Als Österreicherin kannte ich Menasse bisher nur als Essayist und dieser Roman schien für mich in Richtung Essay, zum Ganzen zusammengefügt, zu gehen. Doch trotz kleiner Einschränkungen hat mich dieser Roman überzeugt und ich habe ihn mit Vergnügen gelesen. Ich empfehle ihn für Leser, die am Thema Europa uinteressiert sind und mögliche Lösungswege für eine gemeinsame Zukunft, und an mit ihren Eigenheiten nur allzu menschlichen Personen. Wenn sie zu wissen glauben, dass EPP für European People’s Party, Europäische Volkspartei, steht, dann sollten sie lesen, was Menasse dazu eingefallen ist.

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