Jenny Erpenbeck über Christine Lavant – Jenny Erpenbeck

AutorJenny Erpenbeck
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Herausgegeben vonVolker Weidermann
Erscheinungsdatum 17. August 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3462004687

„Das eigene Leben bewahren, ohne den eigenen Willen aufzugeben, Kompromisse eingehen, die einen nicht die Seele kosten – wie das gelingen kann, und auch, wie manche ihrer Figuren tragisch daran scheitern, hat Christine Lavant in ihren Texten beschrieben.“ (Zitat Pos. 817)

Thema und Inhalt

Dieses Buch ist der fünfte Band der Serie „Bücher des Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann. Es geht um Bücher, welche die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck besonders beeindruckt und geprägt haben. Erpenbeck ist dreißig Jahre alt, als sie zum ersten Mal ein Gedicht von Christine Lavant liest. „Dreißig Jahre alt musste ich werden, bevor ich zum ersten Mal ein Gedicht von Christine Lavant gelesen habe. Bevor sich mir diese fremde Welt aufgetan hat, die ich nicht kannte und dich im ersten Moment wiedererkannt habe.“ (Zitat Pos. 284) Seither folgt sie den Spuren und dem Leben dieser ungewöhnlichen Frau, der einfachen Strickerin und Schriftstellerin und vertieft die biografischen Geschichten mit den Themen Bücher, Lyrik, das Leben als Schriftstellerin.

Umsetzung

Nach einem kurzen Vorwort von Volker Weidermann beginnt Jenny Erpenbeck ihr Essay mit der Frage, wann der richtige Moment sei, um ein Gedicht zu lesen, gibt sich selbst in Gedanken verschiedene Antworten, die ebenfalls Fragen bleiben. Im zweiten Kapitel schreibt sie, was Christine Lavant in ihren biografischen Notizen über das Lesen von Gedichten geschrieben hat und tritt so mit dieser österreichischen Lyrikerin aus Kärnten in einen inneren Dialog. Diesen führt sie in allen weiteren Kapiteln abwechselnd fort, Jenny Erpenbeck berichtet über ihre Erlebnisse während der fünf Jahre, die sie in Graz gelebt hat und beginnt danach mit der Kindheit von Christine Lavant, mit bürgerlichem Namen Christine Habernig, geb. Thonhauser. Erpenbeck folgt einerseits dem von Selbstzweifeln geprägten Leben von Christine Lavant, sucht in den vielen vorhandenen Aufzeichnungen, besonders Briefen, in den Archiven und Museen nach dem Menschen und der Künstlerin. Besondere Aussagen ergänzt Erpenbeck mit entsprechenden Gedichten von Christine Lavant.

Im Anhang finden sich die Lebensdaten von Christine Lavant und die Erklärungen zu den durchnummerierten Fußnoten.

Fazit

Dieses Buch berichtet über das Leben der österreichischen Schriftstellerin Christine Lavant, deren literarisches Werk in der breiten Öffentlichkeit nicht allzu bekannt ist, und in deren Würdigung seit 2016 ein eigener Literaturpreis, der Christine Lavant Preis, verliehen wird.

Bin das noch ich – Stefan Moster

AutorStefan Moster
VerlagMareverlag
Datum8. August 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3866487123

„Wenn die Noten verstummen und nicht einmal mehr Bachs notierte Freiheit der Artikulation hilft, den Ton zu treffen, weil es keinen Ton mehr gibt. Was, wenn man keinen Bach mehr spielen kann? Und auch nichts sonst.“ (Zitat Seite 31)

Inhalt

Simon Abrameit ist Geiger, Musik ist sein Leben. Er vermutet schon länger, dass etwas mit zwei Fingern seiner linken Hand nicht stimmt. Im Rahmen eines Sommerfestivals spielt er ein Solokonzert, Bach und Bartók, und genau hier passiert es endgültig, er muss den Auftritt abbrechen. Er braucht Zeit zum Nachdenken, wie es weitergehen soll. Das einfache Ferienhaus seiner Musikerkollegin Mai auf einer kleinen, abgelegenen Insel wird sein Rückzugsort. Nur er, die Natur der endlos hellen Mittsommertage, die Seevögel und hier besonders ein brütendes Möwenpaar in Hausnähe, und dazu die notwendigen Tätigkeiten des Alltags. Zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbruch schwebend, macht er sich Gedanken über die vielen Facetten der Musik, über sein Leben als Musiker, beobachtet täglich gespannt den Ablauf der Natur und versucht dabei, sich selbst nicht zu verlieren.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um die Musik und die damit eng verbundenen Themen, um die Vielseitigkeit der Natur auf einer einsamen Insel im finnischen Mittsommer und um die Suche nach einem Neubeginn, wenn plötzlich nichts mehr so ist, wie es war.

Charactere

Simons Leben ist die Musik und seine Geige, die ihn viele Jahre lang durch sein Musikerleben geführt hat, obwohl er nie der herausragende, international berühmte Konzertsolist war. Er ignoriert die Probleme mit seinen Fingern, bis es nicht mehr möglich ist und er gezwungen ist, sich mit der Situation auseinanderzusetzen.

Erzählform und Sprache

Im Mittelpunkt dieses Romans steht Simon, der sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen kann und durch äußere Umstände gezwungen ist, genau darüber nachzudenken. Er steht im Mittelpunkt einer personalen Erzählform, die ihm in die Einsamkeit der kleinen Schäreninsel folgt, auf der es nur das Ferienhäuschen gibt und die Natur – das Meer, die Bäume, die vielen Vogelarten, das Rauschen der Wellen an sonnigen Tagen und bei stürmischem, wildem Seegang, die ungewohnte Helligkeit der Mittsommernächte. Es sind diese Schilderungen, poetisch, leise und doch bildintensiv, die zusammen mit der Hauptfigur und ihren Konflikten den beeindruckenden Sog dieses Romans ausmachen. Die Spannung der Sprache entsteht aus dem Wechsel in der Erzählformen, personal, doch unterbrochen durch Simon im gedanklichen Gespräch mit Darja, einer berühmten Geigerin, deren Karriere er von Jugend an mitverfolgen konnte, und Simon als Ich-Erzähler, der seine Sicht einer entscheidenden Situation der personalen Schilderung des Erzählers gegenüberstellt. Spannung erhält die Handlung selbst besonders durch die Frage, wie Simon mit seiner Situation umgehen wird.

Fazit

Es gibt Bücher, in denen man sich von der ersten Seite an „zu Hause“ fühlt, so ging es mir mit diesem Roman. Mein Interesse an Simon mit seinen einfühlsam und präzise dargestellten Problemen und Fragen war sofort geweckt, die Naturschilderungen in ihrer Vielfalt sind beeindruckend und packend, dazu noch interessantes, für mich neues, Musikwissen, besonders über Bela Bartók, auch Bach hatte ich bisher nicht mit Violinkonzerten verbunden. Ein leiser und gleichzeitig starker Roman, ein in allen Bereichen positives, überzeugendes Leseerlebnis.

Wasserläufer – Michael Kröchert

AutorMichael Kröchert
VerlagTropen
Datum15. Juli 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten368
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608500165

„An diesem allerersten Abend meiner Reise in den Floß-Sommer spürte ich die unermessliche Tiefe dieses Raumes. Aber noch deutlicher als das fühlte ich mich.“ (Zitat Pos. 126)

Inhalt

Als Alissa, mit der er seit vier Jahren in Berlin in einer festen Beziehung lebt, für ein Semester nach Frankfurt geht, um dort ihre Dissertation in Kunstgeschichte fertig zu schreiben,  nimmt Rio, vierzig Jahre alt, Fotograf und Dokumentarfilmer, eine fünfwöchige Auszeit von seinem aktuellen Job in einer Redaktion. Er hat ein Floß gebaut und will diese Wochen auf dem Soliner See nahe Berlin verbringen, alleine in der Natur, um über sein Leben und seine weiteren Pläne nachzudenken. Doch während er in den Telefonaten mit Alissa weiterhin betont, die Einsamkeit zu suchen, lernt er immer mehr Menschen kennen, Birk und die Ökologiestudentin Johanna, deren Vater eine ökologische Landwirtschaft mit Hofladen betreibt, sowie Jost und seine Frau, die Künstlerin Magda, die auf einer mit allem Komfort und Luxus umgebauten großen holländische Tjalk ebenfalls den Sommer auf dem See verbringen wollen. Als ihm der Trubel auf dem See zu groß wird, flüchtet er in eine versteckte Bucht auf dem kleineren Fernower See. Dort denkt er weiter über seine Pläne nach, denn sein Erfolg als Dokumentarfilmer ist acht Jahre her, er will mit Alissa zusammen sein, wünscht sich ein Kind von ihr, doch die Realität erzählt eine völlig andere Geschichte, er weiß nur noch nicht, welche.

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine Art Road-Trip, doch statt auf Highways in der Ferne spielt er auf dem Wasser, im Seengebiet rund um Berlin. Im Zentrum steht ein Mann in der Mitte seines Lebens, der in der Einsamkeit der Natur herausfinden will, wer er ist und was er noch von seinem Leben erwartet. Es geht um Pläne, die ohne Entscheidungen Pläne und Träume bleiben, und es geht um Beziehungen. Auch sozialkritische Themen kurz nach Corona spielen eine Rolle, sowie Politik und Umwelt.

Charactere

Rio ist mit seinem aktuellen Bildschirmjob nicht glücklich, seine Erfolge liegen lange Zeit zurück. Er sucht die Einsamkeit, doch bald braucht er den Alkohol, um diese Einsamkeit zu ertragen, in der ihm die Realität immer öfter zu entgleiten droht. Es sind die männlichen Protagonisten, die diese Handlung dominieren, in der Frauen zwar für manche Ereignisse wichtige, aber doch nur Nebenrollen einnehmen.

Erzählform und Sprache

Rio selbst schildert als personaler Ich-Erzähler seine Geschichte, meistens chronologisch, ergänzt durch Erinnerungen, manchmal aber wechselt er spontan die Zeitabläufe zwischen Ereignissen und Situationen. Seine Gedanken schreibt er als Haikus nieder. „Haikus waren ein wenig wie Wasserläufer – sie waren unwahrscheinlich und autonom.“ (Zitat Pos. 1971) Dominiert wird die Handlung von seinen inneren Monologen, welche die Realität teilweise ins Surreale kippen lassen. Sprachlich beeindruckend sind die Schilderungen der Natur, die jedoch in einem gekonnt gewählten Verhältnis zum Text eingesetzt werden: „Ein Rest grelles, sattes Gold-Orange wurde von einem leuchtenden Blau zugleich sanft und unerbittlich hinter den Horizont gedrückt, bevor das Schwarz kam, um alles zu dominieren. Mit diesem Verlust der Farben kam eine geradezu unbegreifliche Stille.“ (Zitat Pos. 646).

Fazit

In einer Genre-Zuordnung ist von Urlaubs- und Wohlfühlroman die Rede, doch beides ist diese Geschichte meiner Meinung nach nicht, denn was als interessante,  positive Sinnsuche in der Natur beginnt, wird rasch zu einem negativen Sog für die Hauptfigur Rio, auf Grund seiner Unentschlossenheit und seiner inneren Weigerung, endlich Entscheidungen zu treffen. Die zusätzliche Spannung im Handlungsbogen, die durch einen Anschlag in der Nähe aufgebaut werden soll, wirkt auf mich wie ein Fremdkörper in der Handlung, zu konstruiert und somit entbehrlich. Die vielseitigen menschlichen Themen und Aspekte dieser Geschichte waren für mich das wirklich Spannende.

Der letzte Granatapfel – Bachtyar Ali

AutorBachtyar Ali
VerlagUnionsverlag
Datum3. April 2017
AusgabeTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinUte Cantera-Lang
ÜbersetzerRawezh Salim
ISBN-13978-3293207691

„In jener Nacht, als ich nun wider Erwarten zurückkehrte, wusste ich nicht, wo mein Saryasi sich befand. Ich wusste noch nicht, dass wir zwei uns in einer anderen Art von Wüste verlieren würden. In einer Wüste, die weder meine war noch seine.“ (Zitat Seite 15)

Inhalt

„Was immer bleiben wird: Ein Mann kommt aus der Wüste und verirrt sich auf einem Schiff voll mit Flüchtlingen auf dem Meer.“ (Zitat Seite 342) Dieser Mann heißt Muzafari Subdham und war ein bekanntes Mitglied der Peschmerga, als er in Gefangenschaft geriet. Einundzwanzig Jahre lang lebte er in einem einsamen Gefängnis mitten in der Wüste und mit den Jahren wurden alle seine Erinnerungen zu Sand, nur eine blieb, die Erinnerung an seinen Sohn Saryasi Subdhan, der damals erst einige Tage alt war. Als Muzafari freigelassen wird, macht er sich auf die Suche nach seinem verschollenen Sohn. Von Geheimnis zu Geheimnis, von Geschichte zu Geschichte führt ihn seine Reise durch ein Land, das sich in diesen langen Jahren völlig verändert hat und ihm fremd geworden ist.

Thema und Genre

Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen zwei Granatapfelbäume, die alle Figuren der Geschichte miteinander verbinden, und drei Granatäpfel aus Glas. Ein Thema ist die Suche in vielen Facetten, die Suche nach Liebe, Freiheit, Freundschaft, nach den eigenen Zielen und Träumen, und die Suche eines Vaters nach seinem Sohn. Es geht um das Schicksal der Menschen in einem von Bruderkriegen, Aufständen und Gewalt beherrschten Land. Es sind vor allem die Kinder und die jungen Menschen, denen Kriege die Träume und die Zukunft nehmen. „Ich war aus der Vergangenheit gekommen und nun verbunden mit allen, die keine Zukunft hatten.“ (Zitat Seite 177)

Charactere

Muzafari Subdham könnte nach seiner Gefangenschaft ein freies, zurückgezogenes Leben führen, doch die Frage, was in jener Nacht vor einundzwanzig Jahren wirklich geschehen ist, treibt ihn an, er muss seinen Sohn finden. Immer wieder trifft er auf seiner Suche Menschen, die ihm Schritt für Schritt weiterhelfen, die ihm jenen Teil der Ereignisse schildern, den sie kennen. Der Autor entwickelt seine Figuren einfühlsam, mit viel Empathie begründet er ihre Stärken und Schwächen, die Motive für ihr Verhalten.

Erzählform und Sprache

Muzafari Subdham erzählt diese Geschichte während der Tage und Nächte, die er mit Flüchtlingen in einem Boot auf dem Mittelmeer verbringt. Es sind viele verschiedene Geschichten und Einzelschicksale, die zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten stattfinden, die schließlich doch alle eine miteinander verschlungene Einheit bilden. „Ist nicht jede Geschichte ein kleiner Bach, der in einen See fließt und am Ende als Fluss mit Tausenden anderer Geschichten in den Ozean mündet.“ (Zitat Seite 277) Die Erzählsprache des Autors ist tief beeindruckend, ausdrucksstark und bildintensiv.

Fazit

Es ist eine Geschichte voll Poesie, Symbolen, Mythenmotiven und der Magie orientalischer Märchen. Doch so wie der magische Granatapfelbaum gleichzeitig auf dem Boden des Reiches der Realität und des Reiches der Träume steht, so erzählt auch hier dieselbe Geschichte von der grausamen Realität der Kriege und der Schicksale der davon betroffenen Menschen. Das macht diesen eindringlichen Roman zeitlos aktuell in einer Zeit, wo die Politik und die Medien begonnen haben, Kriege gegeneinander abzuwägen, und die Nähe zu Europa die Wichtigkeit bestimmt. Eine Geschichte gegen das Vergessen, gegen das Wegschauen, die Geschichte einer Suche, ergreifend schön und unendlich traurig zugleich.

Perwanas Abend – Bachtyar Ali

AutorBachtyar Ali
Verlag Unionsverlag
Erscheinungsdatum 14. Februar 2022
FormatTaschenbuch
Seiten288
SpracheDeutsch
ÜbersetzungUte Cantera-Lang
Rawezh Salim
ISBN-13978-3293209312

„Ich wollte zu einer Realität vordringen, in der Gott und die Schmetterlinge sich versöhnlich und friedfertig begegnen. In der sie sich verstehen und achten.“ (Zitat Seite 266)

Inhalt

Klein-Khandan wächst in einer Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen und der religiösen Fanatiker auf, die streng über die genaue Befolgung der Sitten und Vorschriften wachen. Immer mehr Frauen und Männer verlassen die Heimat und vor allem junge Menschen gehen fort, auf der Suche nach einem Leben in Freiheit und Liebe. Klein-Khandans Kindheit ist abrupt zu Ende, als auch ihre Schwester Perwana verschwindet. Klein-Khandan wird in eine strenge Religionsschule, das Haus der Reue, gebracht, um hinter hohen Mauern und verschlossenen Toren für das Vergehen ihrer Schwester Buße zu tun. Noch ist sie zu jung, um alle Zusammenhänge zu verstehen, aber einige Jahre später will sie die Geschichte ihrer Schwester Perwana erzählen, damit diese nicht vergessen wird. Zuerst jedoch muss sie die Wahrheit finden, um die Ereignisse niederschreiben zu können.

Thema und Genre

In diesem kurdisch-irakischen Roman geht es um religiösen Fanatismus, Politik und die Suche von jungen Menschen nach einem freien Leben nach ihren eigenen Wünschen.

Charaktere

Klein-Khandan will die Geschichte aufschreiben, weil ein Buch etwas für die Ewigkeit schafft, während ihre Freundin Fatana eine begeisterte Geschichtenerzählerin ist. „Wenn du ein Ereignis spontan erzählst, kannst du es nach deinem Geschmack gestalten, ohne Spuren zu hinterlassen.“ (Zitat Seite 265) Die Mädchen lernen einander im Haus der Reue kennen, unterstützen einander und beide geben niemals auf.

Erzählform und Sprache

Die Ich-Erzählerinnen der Geschichte sind Klein-Khandan, die jüngere Schwester von Perwana, und Midiya, die Schwester von Fatana, die viele Eindrücke und Erlebnisse in ihren Heften festhält. So entsteht aus anfangs unterschiedlichen Erzählsträngen mit unterschiedlichen Figuren, Episoden, Ereignissen, langsam eine dicht gewebte Geschichte, deren Teile sich schließlich zu einem Ganzen vereinen. Kann man menschliche Grausamkeit und tiefes Unrecht in einer poetischen und manchmal magischen Sprache erzählen? Bachtyar Ali kann das, in einer eindrücklichen Mischung zwischen der bildintensiven Farbigkeit von orientalischen Märchen und den beklemmend realistischen Schilderungen der allgegenwärtigen Unterdrückung und Verfolgung von Menschen, besonders von Mädchen und Frauen, die einfach nur ein freies Leben führen wollen. Schmetterlinge als Symbol für Liebe, Freiheit, Hoffnung, aber auch gefährdete Zartheit, wirbeln durch die gesamte Geschichte.

Fazit

Diese Geschichte von Perwana, drei Freunden, Klein-Khandan und ihre Freundinnen wird in einer poetischen Sprache geschrieben, die reich an Bildern und Symbolik ist, und gleichzeitig von brisanter, realistischer Dringlichkeit. Den Übersetzenden ist es gelungen, den Zauber dieser Erzähl- und Ausdrucksform auch in die deutsche Sprache zu übertragen.

Wüste Welt – Wolfgang Popp

AutorWolfgang Popp
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 12. Januar 2016
FormatGebundene Ausgabe
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3903005143

„Es ist mindestens zwei Jahre her, dass ich irgendwie von meinem Bruder gehört habe, und dann plötzlich vor einer Woche dieses geheimnisvolle SMS.“ (Zitat Seite 5)

Inhalt

Seit mehr als zwei Jahren hat der Ich-Erzähler nichts mehr von seinem jüngeren Bruder gehört. Dann plötzlich bekommt er ein SMS von ihm, er will, dass er zu ihm kommt. Die Zahlen im Text des SMS erweisen sich als Flugnummer und kurz darauf sitzt er im Flugzeug nach Agadir. So beginnt eine Reise, die ihn in den Süden von Marokko führt. Immer wieder findet er einen neuen Hinweis und folgt so den Spuren seines Bruders, und immer wieder verpasst er ihn nur knapp. „Wer sich auf meinen Bruder einlässt, weiß nie, woran er ist. Etwas mit ihm zu unternehmen, hat schon immer geheißen, keine Ahnung zu haben, was als nächstes passiert.“ (Zitat Seite 18)

Thema und Genre

Eine Roadnovel nennt Wolfgang Popp seine Geschichte, ein Tagebuch einer Reise durch die Wüste von Marokko. Gleichzeitig finden sich in diesem Roman alle Elemente und die Symbolik einer klassischen Suche.

Charaktere

Der Ich-Erzähler ist Sänger, Bariton in einem kleinen klassischen Ensemble. Sein Bruder ist eineinhalb Jahre jünger, doch übertrifft den älteren in der Schul- und Studienzeit in allen Wissensbereichen, bis der Ich-Erzähler den Kontakt abbricht, weil er kein Leben im Schatten seines genialen Bruders führen will.

Handlung und Schreibstil

Diese Geschichte ist eine ungewöhnliche, überraschende Mischung, ein moderner Roadtrip und eine epische Suche. Er findet Begleiter, die ihn unterstützen, trifft die unterschiedlichsten Menschen, die ihm den jeweils nächsten Hinweis geben. Manchmal fragt er sich, was Realität ist und was Einbildung, und wir fragen uns das ebenfalls. Die Sprache beschreibt bildintensiv und poetisch die typischen kleinen Dörfer und die vielfältigen Eindrücke in der Einsamkeit der Wüste. „Oben setze ich mich auf einen Felsen und sehe der Sonne beim Sinken zu. Sie sieht aus wie ein glutroter Orden, verliehen an die Erde, dafür, dass sie diesen Tag überstanden hat.“ (Zitat Seite 100)

Fazit

Eine beeindruckend dichte Erzählvielfalt auf relativ wenigen Seiten. Eine spannend zu lesende Mischung aus Reisetagebuch, Landschaftsbeschreibung, interessanten Figuren, Symbolen, mystischen Orten und Begegnungen, dazu immer wieder Überraschungen. Ein facettenreiches Lesevergnügen!

Das Café ohne Namen – Robert Seethaler

AutorRobert Seethaler
Verlag Claassen
Erscheinungsdatum 26. April 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten288
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3546100328

„Die Donau hat es schließlich auch schon gegeben, bevor jemand sie Donau genannt hat. Dann bleibt dein Café eben ohne Namen und das ist richtig so.“ (Zitat Seite 25)

Inhalt

Robert Simon ist einunddreißig Jahre alt und arbeitet seit sechs Jahren als Gelegenheitsarbeiter auf dem Wiener Karmelitermarkt. Doch heute ist sein letzter Tag. Immer wieder war er an dem alten Marktcafé vorbeigegangen, das schon länger leer stand, jetzt ist er der neue Pächter. Schon am Tag der Eröffnung füllt sich das Café rasch mit Gästen. Es sind Leute aus dem Viertel, Schichtarbeiter, Angestellte in Hemdsärmeln, die Mädchen aus der Schottenauer Garnfabrik und die Händler vom Markt. Eines Tages bringt der Fleischermeister Berg die arbeitslose Hilfsnäherin Mila in das Café. Mila braucht dringend Arbeit und Simon kann Hilfe brauchen, das Café läuft gut. Es ist ein Treffpunkt der Menschen aus dem Viertel, mit ihren Sorgen, Geschichten aus einem gelebten Leben und mit ihren Träumen. „Simon musste lächeln, wenn er an all die verlorenen Seelen, dachte, die sich jeden Tag in seinem Café zusammenfanden.“ (Zitat Seite 71) So vergehen die Jahre, die Zukunft kommt mit neuen Bauten und einer U-Bahn in Wien an, und irgendwann, nach zehn Jahren, auch im Karmeliterviertel.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben der Menschen in einem typischen Wiener Grätzel. Es ist nicht die große Bühne, auf die wir in diesem Café blicken, und doch nehmen wir Lesenden durch die Gespräche, wenn die Politik und die Neuigkeiten im Café diskutiert werden, auch an der Entwicklung Wiens als aufstrebende, moderne Großstadt teil. Themen sind Einsamkeit, Alter, Verlust, aber auch Freundschaft, Liebe und die Suche nach Geborgenheit und dem kleinen Glück.

Charaktere

Robert Seethaler nimmt seine Figuren direkt aus dem Leben und berichtet einfühlsam über ihre unterschiedlichen Geschichten.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird fortlaufend in einzelnen Episoden erzählt, Kapitel, in denen wechselweise eine oder mehrere der Figuren im Mittelpunkt stehen. Wir nehmen Teil an den Veränderungen in ihrem Leben, denn sie alle verändern sich in diesen zehn Jahren, bemerkt, oder beinahe unbemerkt. Der Schriftsteller ist ein leiser, poetischer Erzähler, sein Blick auf die Dinge des Lebens ist genau beobachtend, er achtet auf die Nuancen des menschlichen Verhaltens und der Gefühle. Mit derselben Genauigkeit schildert er auch eindrücklich das Viertel um den Karmelitermarkt, die Tagesabläufe im Café im Wechsel der Jahreszeiten.

Fazit

Eine wunderbar leise und eindrückliche Geschichte, in deren Mittelpunkt ein Café in einem typischen Wiener Viertel in der Leopoldstadt steht, und die Menschen, für die es Zuflucht und Heimat ist.

Die Glasschwestern – Franziska Hauser

AutorFranziska Hauser
Verlag Eichborn Verlag
Erscheinungsdatum 28. Februar 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten432
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3847900450

„Das Schicksal hat ihnen gleichzeitig denselben Schlag erteilt und gesagt: Seht zu, wie ihr klarkommt, wenn ihr einander nicht helfen könnt.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Dunja und Saphie, neununddreißig Jahre alt, sind Zwillingsschwestern, doch ihr Leben verläuft in unterschiedlichen Bahnen. Dunja war früh Mutter geworden und lebt in der Großstadt, der Sohn studiert bereits, die Tochter bereitet sich auf das Abitur vor, vom Vater ihrer Kinder hat sie sich vor kurzer Zeit endgültig getrennt. Ursprünglich war es Saphie, die möglichst schnell aus dem kleinen Dorf, ehemals DDR, in die Stadt ziehen wollte, doch sie bleibt und leitet gemeinsam mit ihrem Mann ein Hotel. Dann kommt dieser Wintermorgen, Dunjas Ex-Mann stürzt vom Dach und ist tot. Am selben Morgen kippt Saphies Mann tot vom Hometrainer. Nach der Beerdigung bleibt Dunja in Saphies Hotel, entdeckt das Dorf ihrer Kindheit neu. Die Schwestern kommen einander wieder näher, beide sind auf der Suche nach Antworten, wie es nun weitergehen soll. Durch Reporter stoßen sie auf ein Familiengeheimnis, das alle im Dorf schon längst zu kennen schienen, nur Dunja und Saphie nicht. Kann diese Aufarbeitung der Vergangenheit den beiden Frauen helfen, die jeweils für sie selbst passende Zukunft zu finden?

Thema und Genre

In diesem Generationen- und Familienroman geht es um Familienstrukturen und Familienbeziehungen, um ein Familiengeheimnis, Dorfleben, Verlust, Trauer und Neubeginn.

Charaktere

Nach zwanzig Jahren steht Dunja wieder am Beginn eines Lebens, in dem sie im Mittelpunkt steht, das ihr allein gehören wird, denn ihre Kinder wollen eigene Wege gehen, ihr eigenes Leben führen. Sie will nicht mehr Deutsch als Fremdsprache unterrichten, doch was will sie stattdessen? Bisher war es Saphie, die immer die Kontrolle hatte, nach vorne geschaut hat, den Blick auf die Zukunft gerichtet. Doch plötzlich fühlt sie sich in ihrem Dorf fremd.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch erzählt, wie auch der Übergang der Natur vom Winter in den Frühling und weiter im Jahreslauf. Die kurzen Kapitel tragen jeweils einen Kalenderspruch als Überschrift und berichten abwechselnd, oder auch gleichzeitig, über die das Leben der Hauptfiguren. Handlungsbogen und Spannung ergeben sich nicht aus den Ereignissen, sondern vor allem aus den persönlichen Konflikten und Problemen der einzelnen Figuren, ihren Gedanken, ihrem Verhalten und ihren Entscheidungen. Wiederkehrende Symbole oder auch Metapher, deren Deutung uns Lesenden überlassen bleibt, verdichten die Schilderung der Gefühlswelten, in denen sich die Figuren bewegen. Die Erzählsprache ist angenehm und einfach zu lesen.

Fazit

Dieser Roman lässt mich etwas ratlos zurück. Bis etwa zur Hälfte war es für mich eine überraschende, witzige, ungewöhnliche Geschichte mit vielen aus dem Leben gegriffenen Themen wie Alltagsprobleme von Ehefrauen, Müttern mit Kindern auf dem Weg in die Selbstständigkeit, Spannungen und Geheimnisse innerhalb von Familiengefügen, alle diese Komponenten gekonnt verknüpft. Doch dann flacht die Handlung ab, die Befindlichkeiten der beiden so unterschiedlichen Frauen stehen im Mittelpunkt und damit Selbstzweifel und sich wiederholende Fragen, wobei die Sichtweisen zwischen Dunja und Saphie auch öfter die Seiten wechseln, einander widerspiegeln. Eine komplexe, spannende Grundidee, mit Längen in der Umsetzung.

How to Read Literature Like a Professor – Thomas C Foster

AutorThomas C Foster
Verlag Harper Perennial
Erscheinungsdatum 25. Februar 2014
FormatTaschenbuch
Seiten368
SpracheEnglisch
ISBN-13978-0062301673

“What I’ve learned from all these modern and postmodern works has led me to conclude that it is true of others as well: every work teaches us how to read it as we go along.” (Originalzitat Seite 248)

Thema und Inhalt

Thomas C Foster ist Professor für englische Literatur. Dieses Buch ist eine Art Wegweiser durch die Welt der Literatur und des Lesens. Auf unterhaltsame Art führt er die vielen unterschiedlichen Geschichten, die jemals geschrieben wurden, auf eine ursprüngliche Geschichte zurück, zitiert alte griechische Klassiker, Geschichten aus Religionen und Mythen. Es gibt nur eine einzige Geschichte, erklärt er, die Unterschiede entstehen durch die Art der Schriftsteller und Schriftstellerinnen, sie zu erzählen, und durch uns Lesende, mit welchen Erfahrungswerten wir die Geschichte lesen und für uns selbst auslegen. Diese Ausgabe aus dem Jahr 2014 ist eine überarbeitete Version des 2003 erschienenen Textes, mit neu hinzugefügten Kapiteln und Themen, die sich für Professor Foster aus seinem laufenden Unterricht und den dort gestellten Fragen ergeben haben, sowie zusätzlichen Beispielen aus der aktuellen Gegenwartsliteratur.

Umsetzung

In sechsundzwanzig Kapiteln geht Thomas C. Foster auf die wichtigsten Komponenten einer Geschichte ein, Kapitel siebenundzwanzig ist ein Text, die Kurzgeschichte „The Garden Party“ von Katherine Mansfield, um das nun erworbene Wissen am eigenen Leseverhalten zu testen. Das Buch schließt mit einer Leseliste und einem ausührlichen Index.

In jedem Kapitel geht es um ein bestimmtes Thema, zum Beispiel die Anordnung der einzelnen Figuren, wobei wir hier erkennen, dass es meistens nicht gut ist, direkt neben der Hauptfigur, dem Helden der Geschichte, zu stehen. So lernen wir, zwischen den Zeilen zu lesen, über die Bedeutung nicht nur der einzelnen Figuren nachzudenken und ihren Platz in der Handlung, über die Konflikte und Themen, sondern auch über die Landschaften, das Umfeld, das Wetter, die Jahreszeiten, alle möglichen Formen von Fortbewegung und Reisen und hier sogar auf die jeweilige Richtung zu achten. Dazu kann es sich lohnen, auch Zeichen und Metapher zu hinterfragen. Ungeschulte Hobby-Lesende wie ich denken, zu wenig Erfahrung mit Literatur zu haben, doch Forster bestärkt uns in diesem Buch darin, uns auf all das zu besinnen, was wir aus vergangenen Lektüren wissen, und nicht darauf, was wir nicht wissen. Wichtig ist es, jedes Buch, bildlich gesprochen, zu besitzen, es zu Unserem zu machen, denn jede einzelne Figur, die der Schriftsteller erfindet, wird von uns Lesenden neu erfunden, da wir unsere eigenen Erinnerungen, Erfahrungen und Beobachtungen mit einbringen. „Characters are products of writers‘ imaginations – and readers imaginations.“ (Originalzitat Seite 81)

Fazit

„There comes a point in anyone’s reading where watching for pattern and symbol becomes almost second nature, where words and images start calling out for attention.“ (Originalzitat Seite 304). Dieses vielseitige, interessante, erhellende und unterhaltsame Buch gibt es nur in der englischen Originalsprache, doch es ist sehr angenehm zu lesen und es lohnt sich.

Die Abtrünnigen – Abdulrazak Gurnah

AutorAbdulrazak Gurnah
Verlag Pengiun Verlag
Erscheinungsdatum 26. April 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ÜbersetzungStefanie Schaffer-de Vries
ISBN-13978-3328602613

„Es ist eine Geschichte darüber, dass eine Geschichte viele Geschichten enthält und dass sie nicht nur uns gehören, sondern Teil der zufälligen Strömungen unserer Zeit sind. Und es ist eine Geschichte darüber, wie wir uns in Geschichten hineinverstricken und für alle Zeit darin gefangen bleiben.“ (Zitat Seite 182)

Inhalt

Ende des 19. Jahrhunderts findet in einer kleinen ostafrikanischen Stadt der Krämer Hassanali eines Tages im Morgengrauen einen stark geschwächten Mann. Martin Pearce ist Engländer und als er später zurückkommt, um sich für seine Rettung zu bedanken, verliebt er sich in Rehana, Hassanalis Schwester. Eine Liebe, die nicht nur ein Skandal, sondern auch streng verboten ist. Mitte des 20. Jahrhunderts verliebt sich der junge Amin in Jamila, einige Jahre älter als er, eine geschiedene Frau, die auf Grund ihrer Unabhängigkeit und ihrer angeblich zweifelhaften Herkunft im Mittelpunkt von Gerüchten steht.  Auch diese Liebe wäre ein Skandal, käme sie an die Öffentlichkeit. Amins Eltern bedrängen ihn wegen der drohenden Schande und der gesellschaftliche Ächtung, die er über die Familie bringen würde. Rashid, Amins jüngerer Bruder, will der Enge der Heimat entfliehen und plant zu dieser Zeit bereits seine Reise nach London, wo er bereits an einer Universität aufgenommen wurde. Trotz der Ablehung und Ausgrenzung, mit der man ihm begegnet, bleibt er nach dem Abschluss seines Studiums in England. Doch die Geschichte von Amin und Jamila beschäftigt ihn auch noch viele Jahre später, und er beginnt mit Nachforschungen.

Thema und Genre

Dieser außergewöhnlich facettenreiche Roman spielt in Ostafrika und England, und ist sowohl ein Familienroman, als auch ein Generationenroman. Themen sind Kolonialismus, Unterdrückung, Ausgrenzung, gesellschaftliche Traditionen, Politik, Heimat und Fremde, Liebe und Trennung.

Charaktere

Es sind unterschiedliche Charaktere und ebenso unterschiedlich ist ihre Art, mit äußeren Zwängen und dem Druck gesellschaftlicher Regeln und Wertvorstellungen umzugehen, und trotz aller Widerstände ihren Platz im Leben zu suchen.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung wird in neun Abschnitten erzählt, wobei jeweils eine Person im Mittelpunkt steht, die dem jeweiligen Abschnitt den Titel gibt und wo es vor allem um die jeweilige persönliche Lebenssituation, die Vergangenheit, Erfahrungen und Konflikte geht. Der Autor nimmt sich Zeit und schildert nicht nur die Ereignisse und das Leben der einzelnen Protagonisten, sondern auch das Umfeld, das Alltagsleben der Menschen, die politische Situation dieses Teiles von Ostafrika unter den Engländern, und später während der Umstürze, nachdem Sansabar Ende 1963 unabhängig geworden war. Es ist Rashid, der die Geschichte erzählt, doch er präzisiert: „Es gibt, wie Sie sehen, ein Ich in dieser Geschichte, aber es ist keine Geschichte über mich. Es ist eine Geschichte über uns alle, über Farida und Amin, über unsere Eltern und über Jamila.“ (Zitat Seite 182). So folgen wir fasziniert und gespannt einem Zeitrahmen  etwa einhundert Jahren, pendeln zwischen Afrika und England und sind keine einzige Minute gelangweilt.

Fazit

Abdulrazak Gurnah ist ein leiser, aber eindrücklicher Erzähler, er klagt nicht an, sondern beleuchtet alle Graubereiche der Geschichte und der Menschen, und dies alles in einer wunderbar zu lesenden Erzählsprache.

Die Mutter – Grazia Deledda

AutorGrazie Deledda
Verlag Input Verlag
Erscheinungsdatum 1. Juni 2022
FormatGebundene Ausgabe
IllustratorRalf Plenz
Seiten192
SpracheDeutsch
Übersetzung, VorwortUlrike Lemke
ISBN-13978-3941905535

„Alles sprach zu ihm: der Wind draußen, der ihn an die lange Einsamkeit seiner Jugend erinnerte, und drinnen die traurige Gestalt der Mutter, das Knarren seiner Schritte, sein eigener Schatten.“ (Zitat Seite 49)

Inhalt

Viele Jahre lang hat sie als Dienstmagd gearbeitet, sich nie etwas gegönnt, nur für ihren Sohn Paulo und dessen Ausbildung zum Priester gelebt. Vor sieben Jahren war Paulo dann als neuer Pfarrer in die kleine Gemeinde Aar auf Sardinien gekommen und seine Mutter mit ihm. Seit sieben Jahren lebt sie hier nun glücklich und zufrieden mit Paulo, sorgt für ihn. Doch nun könnten alle ihre Opfer umsonst gewesen sein, denn Paulo hat sich in die junge Witwe Agnes verliebt, ist dabei, sein Gelübde als katholischer Priester zu brechen und sich auch dem Einfluss seiner Mutter zu entziehen. Agnes ist allein, reich und unabhängig und will Paulo überreden, mit ihr zusammen heimlich das Dorf zu verlassen und irgendwo als Mann und Frau zu leben. Noch kam nur seine Mutter hinter sein Geheimnis, doch es ist eine sehr kleine Dorfgemeinschaft und so muss Paulo sich rasch entscheiden.

Thema und Genre

La Madre wurde 1920 veröffentlicht und handelt von dem Leben in einem abgeschiedenen, kleinen Dorf auf Sardinien, von den Menschen und ihren Problemen. Im Mittelpunkt jedoch steht der schwere Gewissenskonflikt eines jungen Priesters zwischen Liebe und Zölibat.

Charaktere

Die beiden Hauptfiguren sind die Mutter, die für ihren Sohn lebt, fürsorglich bis zur emotionalen Umklammerung, durch ihn wird sie als Mutter des Pfarrers endlich in diesem Dorf anerkannt. Paulo will aus genau dieser Enge des Dorflebens fliehen, fühlt sich jedoch seiner Mutter gegenüber wegen ihrer Opfer zur Dankbarkeit verpflichtet. Vor allem jedoch steht er vor einem möglichen Wendepunkt in seinem Leben, er muss sich zwischen der Frau, die er liebt, und seinem Priesteramt mit dem damit untrennbar verbundenen Zölibat entscheiden.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird auf nur 174 Seiten erzählt, doch es ist gerade diese Dichte, die diese Ereignisse von nur wenigen Tagen mit Intensität füllt. Die Schriftstellerin beschreibt lebhaft das Dorfleben der damaligen Zeit. Es sind die Menschen, über die sie schreibt, ihre Gedanken, Gefühlte, ihren tiefen Glauben, aber auch den ebenso präsenten Aberglauben. Daraus ergibt sich der tiefe Konflikt, den ihre Hauptfigur, der junge Priester Paulo, durchlebt. „Er litt, weil der natürliche Zweck des Lebens darin besteht, das Leben fortzusetzen, und er daran gehindert wurde; und diese Verhinderung verstärkte noch den Drang seines Bedürfnisses.“ (Zitat Seite 67)

Am Beginn des Buches steht ein Vorwort der Übersetzerin, am Buchende ein bibliophiler Rückblick mit Fotos auf die Ausgabe aus dem Jahr 1928, auf welcher diese Neuübersetzung basiert.

Fazit

Ralf Plenz hat in seinem Input-Verlag diese Neuübersetzung des alten Textes als Band 19 der „Perlen der Literatur“ des 19. und 20. Jahrhunderts wiederveröffentlicht. Eine sehr schön gestaltete und gebundene Neuausgabe, deren optisches und haptisches Vergnügen das Lesevergnügen der Sprache und der eindrücklichen Geschichte perfekt ergänzt.

In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. – Gabriele Riedle

AutorGabriele Riedle
Verlag Aufbau Verlage –
Die andere Bibliothek
Erscheinungsdatum 15. September 2022
Format Gebundene Ausgabe
Seiten259
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3847720508

„Die liebe Leserin und der liebe Leser, der Kunde, der Endverbraucher, der Markt brauchte Zuversicht in diesen schwierigen Zeiten, er brauchte helle Bilder statt dunkle und leuchtende Farben selbst aus den finstersten Gebieten, wobei das nicht nur für Fotos galt, sondern auch für das, was wir schrieben.“ (Zitat Seite 213)

Inhalt

Die Ich-Erzählerin ist als Berichterstatterin und Fotografin in allen Krisengebieten der Welt unterwegs und darüber berichtet sie in diesem Roman. Immer, wenn der Chefredakteur sie wieder losschickt, schaut sie zuerst in ihren Diercke-Weltatlas aus dem Jahr 1973, bevor sie dann von Berlin aus aufbricht, wo sie in der Goethestraße in Berlin-Charlottenburg wohnt. Sie erzählt von ihren Reisen nach Afghanistan, Papua-Heuguinea, nach Inguschetien, Libyen, Liberia, von den Menschen, dir ihr auf diesen Reisen begegnen, und sie nimmt uns mit in die großen Medienzentralen in Hamburg und Manhattan. Durch alle Schilderungen begleiten sie auch die Erinnerungen an den britischen Kriegsfotografen Tim H., der bei einem Feuergefecht zwischen Gaddafi-Anhängern und Rebellen in Misrata ums Leben gekommen war.  

Thema und Genre

Die Autorin selbst nennt ihr Buch einen modernen Abenteuerroman, doch es geht weit um mehr als die Erfahrungen einer Reporterin In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg, Es ist eine kritische Auseinandersetzung mit der journalistischen Berichterstattung, die in vielen realen Facetten schildern will, was Krieg und kriegerische Auseinandersetzungen für die betroffenen Menschen bedeuten, während die Redaktionen der Auftrag gebenden Medienkonzerne sich von der Berichterstatterin berührende Erzählungen mit ebenso berührenden Kinderfotografien wünschen, um die Leserschaft nicht zu verschrecken und damit auch die großen Anzeigenkunden.

Charaktere

Die Autorin betont, dass es sich bei diesem Roman tatsächlich um literarische Prosa handelt und nicht um eine Autobiografie. Natürlich fließen ihre persönlichen Erfahrungen und die Erfahrungen von anderen Menschen mit ein und verbinden sich mit dem fiktiven Text.

Handlung und Schreibstil

Die Ich-Erzählerin schildert nicht nur ihre abenteuerlichen Reisen durch die Krisengebiete, darunter eine Reise mit Tim H. nach Liberia, sie verbindet diese auch mit einem weiten Bogen an persönlichen Eindrücken, Erfahrungen, Erinnerungen, findet neue literarische Gedankenverbindungen, nicht nur durch ihre Wohnadresse Goethestraße. Begegnungen mit bekannten Persönlichkeiten, bekannten Kriegsreportern, füllen ihre Schilderungen mit vielen unterschiedlichen Personen. Es ist jedoch die besondere Sprachintensität der Autorin, die sofort begeistert. In langen Sätzen reiht sie Ereignis um Ereignis, Gedanken und Gedanken aneinander, rasant, wie atemlos, verknüpft alle mit völlig anderen Themen, zu manchmal skurrilen Situationen und Überlegungen und dies alles nicht ohne satirischen Humor, so böse, dass sie uns damit zum Lachen bringt, trotz der ernsten Themen. „Hallo, ja, stehe im Stau auf der Third Mainland Bridge in Lagos, jemand will mir durch‘s Autofenster ein Bügelbrett verkaufen, und vermutlich stürzen wir alle gleich samt Brücke ins Wasser, aber falls in der Brühe da unten Empfang ist, rufe ich später zurück, woraufhin der Chefredakteur offenbar irgendjemandem im Raum zurief: unter unserer Frau Soundso stürzt in Lagos gerade irgendeine Brücke ein, aber vielleicht kauft Frau Soundso dort auch nur ein Bügelbrett, ich habe es nicht richtig verstanden, und sicher hatte der Chefredakteur dann noch hinzugefügt, dass Lagos jetzt the place to be sei, auch wenn er selbst dort niemals auch nur eine Sekunde hätte verweilen wollen.“ (Zitat Seite 154, 155)

Fazit

Komplex und gleichzeitig vielseitig, eine kritische Auseinandersetzung mit dem modernen Journalismus, großartig erzählt in einer beeindruckenden sprachlichen Vielfalt, einer der Titel der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2022.

Das Gewicht des Schattens – Stanislav Struhar

AutorStanislav Struhar
NachwortKristina Kallert
Verlag Wieser Verlag
Erscheinungsdatum 27. Februar 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten200
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3990295731

„Er trat an die Kommode und es war das erste Mal, dass er seine Großeltern sah. Auf einer Fotografie waren sie jung, auf der anderen alt, und auf beiden lächelten sie, Wange an Wange, zärtlich einander berührend.“ (Zitat Seite 5, 6)

Inhalt

Elias, dreißig Jahre alt, hat nach seinem Publizistik-Studium in einem Fachbuchverlag gearbeitet. Da der Verlag in finanzielle Schwierigkeiten geriet, ist Elias jetzt arbeitslos. Er reist aus seiner Heimatstadt Wien nach Lissabon. Es sind warme Tage im Juni, und Lissabon ist noch viel schöner, als auf den Fotografien, die Elias kannte, die Stadt strahlt in diesem besonderen Licht, das man so nur in Lissabon findet. Es ist das erste Mal, dass er seine Großeltern sieht, aber nur auf den Fotografien in der Wohnung, die er von ihnen geerbt hat. Seine ebenfalls schon verstorbene Mutter hat es ihrer Mutter nie verziehen, dass sie in zweiter Ehe einen Portugiesen geheiratet hat und nach Lissabon gezogen ist, hat alle Einladungen abgelehnt, den Kontakt völlig abgebrochen. Schon am Tag seiner Ankunft lernt Elias Diego kennen, den besten Freund seiner Großeltern, dessen Tochter Beatriz, deren Freundin Raquel, die Buchhändlerin und durch sie die Schriftstellerin Leonor. Sie alle zeigen ihm ihr besonderes Lissabon, dennoch kann sich Elias nicht vorstellen, hier zu leben. „Ob er wirklich nicht darüber nachgedacht habe, hierzubleiben, fragte Diego ihn plötzlich auf der Terrasse, als sie am Geländer standen, beide in die Ferne sahen.“ (Zitat Seite 101)

Thema und Genre

In diesem poetischen Roman geht es um Familie, Verlust, neue Chancen, Freundschaft und Liebe, das gelungene Zusammenleben vieler unterschiedlicher Menschen, wenn sie miteinander reden. Es geht um das Schreiben, Literatur, Bücher und um die bunte, lebendige, strahlende Vielfalt der Stadt Lissabon, die alle diese Themen vereint.

Charaktere

Drei unterschiedliche Frauen begleiten Elias durch die Parkanlagen und Gassen Lissabons, durch das bunte Nachtleben, an den Strand. Beatriz arbeitet als Tuk-Tuk-Fahrerin, nimmt ihn mit ans Meer, nach Costa da Caparica. Leonor ist eine junge Schriftstellerin aus Porto, stellt in Raquels Buchhandlung ihren Gedichtband vor und schreibt gerade Erzählungen. Raquel will die Menschen für das Lesen begeistern, sie liebt Bücher und den Fado. Jede der Figuren ist durch frühere Erfahrungen geprägt.

Handlung und Schreibstil

Stanislav Struhar schreibt diese Geschichte aus der personalen Sichtweise von Elias. Es ist Elias, der an diesen warmen, sonnigen Tagen durch die Parks, Gassen und Lokale Lissabons streift und alles beobachtet, die Menschen, die lebhafte, bunte Vielfalt an alltäglichen Situationen, die sich ergeben. Er lässt uns daran teilhaben, wir erleben alles unmittelbar mit und haben sofort die Bilder, Eindrücke, Gerüche und Gefühle in unseren Gedanken. Der Autor hat den Mut, Lücken im detaillierten Tagesablauf zu lassen. Er reiht die einzelnen Episoden chronologisch aneinander, verzichtet aber auf verbindende Übergänge, dennoch bleibt die Handlung strukturiert und nachvollziehbar. Auch die Sprache erzählt klar und schnörkellos, schildert Alltagssituationen und spontane Eindrücke, in Verbindung mit Gesprächen über Erinnerungen, welche die Gegenwart ergänzen.

Fazit

Im Mittelpunkt dieses Romans stehen neben den Hauptfiguren eine Buchhandlung, Literatur, Bücher und viele unterschiedliche Menschen. Wir beobachten ihr Leben, ihren Alltag, und streifen dabei durch die einzigartige Stadt Lissabon. Wer, wie ich, die Stadt und das besondere Licht dort kennt, wird sofort in Erinnerungen schwelgen, wer noch nicht in Lissabon war, wird vielleicht nach dieser Lektüre eine Reise planen. Ein eindrückliches, poetisches Leseerlebnis.

Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit – Karl Ove Knausgård

Autor Karl Ove Knausgård
Verlag Luchterhand Literaturverlag
Erscheinungsdatum 15. Februar 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten1056
SpracheDeutsch
ÜbersetzungPaul Berf
ISBN-13978-3630876351

„Denn es fällt leicht zu glauben, Sehnsucht wäre, was nicht ist, wäre was fehlt, aber das stimmt nicht, die Sehnsucht ist etwas in sich, und auch das ist wertvoll.“ (Zitat Seite 964)

Inhalt

Syvert Løyning, neunzehn Jahre alt, hat gerade seinen Militärdienst beendet und fühlt sich irgendwie antriebslos, unschlüssig, wie sein Leben nun weitergehen soll, ein Studium wäre eine Möglichkeit. Obwohl es schon neun Jahre her ist, dass Syverts Vater bei einem Autounfall gestorben ist, sucht Syvert innerlich immer noch nach ihm, er weiß viel zu wenig über seinen Vater, und seine Mutter weicht allen Fragen aus. Die erste Antwort erhält er daher nicht von seiner Mutter, doch damit beginnt seine Suche. „Er hatte mir seine Version von Vaters Leben präsentiert. Ich selbst hatte eine andere Version.“ (Zitat Seite 192) Er findet in den Sachen seines Vaters Briefe in russischer Sprache, geschrieben von einer Frau namens Asja. Er lässt die Briefe übersetzen, liest sie und schreibt schließlich selbst einen Brief, der eines Tages bei der Wissenschaftlerin Alevtina in Moskau landet und auch für sie einige Überraschungen bereithält.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Familie, zwischenmenschliche Beziehungen, Konflikte, Schicksal, um die Themen Endlichkeit und Unendlichkeit, die Frage nach Vergangenheit, und Zukunft, vor allem jedoch um die philosophischen Fragen nach der Bedeutung und dem Sinn des Lebens in allen Facetten.

Charaktere

Der unsichere, junge Syvert mit seinen vielen Gedanken und Fragen über die Zusammenhänge des Lebens verändert sich, als er beginnt, Antworten zu suchen. Lisa und sein etwas ungewöhnlicher Sommerjob tragen zu dieser Entwicklung bei.

Alevtina und Vasilisa studieren Literaturwissenschaft, doch während Alevtina anschließend Biologie studiert, weil sie die grundsätzlichen Zusammenhänge in der Natur faszinieren, wird Vasilisa Schriftstellerin. Sie hätte ein Vorwort schreiben sollen, doch aus dem Text entsteht die Idee für einen Roman. „Der Gedanke ist, dass die Ewigkeit begonnen hat. Das ist es, was sich verändert hat. Die Zukunft ist verschwunden, und die Ewigkeit hat begonnen.“ (Zitat Seite 625)

Handlung und Schreibstil

Es sind Syvert, Vasilisa und Alevtina, die ihre Geschichte erzählen. Sie tun dies in langen Abschnitten, jeder beinahe schon ein Roman. Daraus ergibt sich eine immer fließende, aber niemals hektisch geschilderte Handlung, die uns von der ersten bis zur letzten Seite in ihrem Bann zieht und ohne Längen durch die Geschichte führt. Der Autor ist ein wunderbarer Erzähler, die Gedanken, die sich jede seiner Figuren über das Leben und die Fragen des Lebens macht, fügen sich nahtlos in den Handlungsbogen ein, nehmen uns mit auf weite Gedankenreisen und führen uns doch immer wieder zurück in die Gegenwart der Figuren, zu ihrer Geschichte. Zwei weitere Erzählfiguren fügen sich mit kurzen Abschnitten in die Handlung ein, spontane Entscheidungen, die Leben verändern.

Fazit

Ein vielseitiger, beeindruckender, faszinierender Roman, der mich begeistert hat.

Alles wird gut: Chronik eines vermeidbaren Todes – Matthias Politycki

AutorMatthias Politycki
Verlag HOFFMANN UND CAMPE VERLAG
Erscheinungsdatum 23. April 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3455015843

„Nur die kleinen Geschichten haben ein Ende. Die großen gehen immer weiter. Je öfter sie erzählt werden, desto mehr verzweigen sie sich – wie der Wald, der nach jedem Regen wächst, bis er undurchdringlich scheint.“ (Zitat Pos. 5277)

Inhalt

Josef Trattner, siebenundvierzig Jahre alt, war bis Oktober 2019 in Aksum als Ausgrabungsleiter tätig. Das Rückflugticket für den 7. Februar 2020 hat er bereits in der Tasche, als ihn Weraxa, ein Mitarbeiter, überredet, zum Abschluss das Land zu besichtigen, in dem er drei Jahre lang gearbeitet hat. Mit ihrem Fahrer Mulugata brechen sie am 12. Januar auf. Im kleinen Suri-Dorf Surma Kibish sieht Trattner eine außergewöhnliche Frau, stolz, schön und offensichtlich eine unangepasste Außenseiterin. Ihr Name ist Nasedi, doch alle nennen sie Natu. Als sie am nächsten Tag ihrer Reise an einem der vielen Kontrollpunkte halten müssen, kommt eine Frau zu Trattners Auto und setzt sich wortlos zu ihm auf die Rückbank. Es ist Natu und Trattner weiß nicht, ob sie einfach bis zur nächsten Stadt mitfahren will, oder auf der Flucht ist.

Thema und Genre

Dieser Roman spielt im Südwesten Äthiopiens. Themen sind die alten Traditionen der hier lebenden Völker und Ethnien und das westlich geprägte, europäische Denken. Es sind fundamentale Gegensätze, auch in Bezug auf die Situation der Frauen, die durch die  Unmöglichkeit einer sprachlichen Verständigung zu großen Missverständnissen führen. Kann Liebe stark genug sein, um diese beinahe unüberwindlichen Barrieren zu überwinden?

Charaktere

Der Objektkünstler und Magister der klassischen Archäologie Josef Trattner ist im Grunde eine Art Lebenskünstler, redegewandt, einfallsreich, aber auch unentschlossen und zögerlich. Seine Erfahrungen mit Natu verändern ihn. Nun ist er bereit, Verantwortung zu übernehmen, obwohl Natu für ihn ein Rätsel bleibt. Sie lebt vollkommen in der Gegenwart und jeder Tag mit ihr ist ein neuer Anfang.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung umfasst nur den Zeitraum der Reise Trattners, ergänzt durch Rückblicke in Form von Erinnerungen und Gesprächen. Trattner ist die Hauptfigur und steht im personalen Mittelpunkt dieser Geschichte. So erfahren wir auch seine persönlichen Gedanken und Eindrücke, die sich durchaus von seinem Verhalten unterscheiden können. Er ist eine interessante, facettenreiche Figur, in seiner Widersprüchlichkeit und Zögerlichkeit nahe einem modernen Antihelden. Spannung erhält die Geschichte nicht nur durch die Frage, ob es in dem geschilderten Umfeld eine Zukunft für Trattner und Natu geben könnte, sondern auch durch die abenteuerliche, in diesen Wochen schon sehr gefährliche Reise. Es ist eine beeindruckende Vielfalt an unterschiedlichen Themen und Konflikten, in Verbindung mit authentischen Schilderungen der indigenen Menschen, ihrer Lebensweisen und Traditionen, denen sie sich zu unterwerfen haben. Als Gegensatz zeigt sich immer wieder das von europäischen Traditionen geprägte Verhalten von Trattner. Eindrückliche Landschaftsbeschreibungen ergänzen die Geschichte zu einem facettenreichen Gesamtbild.

Fazit

Dieser Roman brachte mir viel neues Wissen über ein Land und eine Kultur, von denen ich bisher nur wenig wusste. Eine interessante, spannende, in ihrer Vielfältigkeit beeindruckende Geschichte mit überraschenden Wendungen.

Das russische Testament – Shumona Sinha

AutorShumona Sinha
Verlag Edition Nautilus
Erscheinungsdatum 6. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten184
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinLena Müller
ISBN-13978-3960542605

„Sie entdeckte die aufregende Grenze zwischen Wirklichkeit und Erfindung, zwischen dem, was geschrieben steht und dem, was noch geschrieben werden wird, die Lust am Unvollendeten.“ (Zitat Seite 33)

Inhalt

Tanias Vater ist Buchhändler in Kalkutta und verkauft internationale Literatur, die ins Bengali übersetzt worden war. Da ihre Mutter sie ablehnt, zieht sich Tania schon in ihrer Kindheit in die Welt der Bücher zurück. Immer wieder sind es Bücher von russischen Autoren und in jedem der Bücher findet sie die Adresse der Verlage Raduga und Progress, Subowski Bulvar, Moskau. Als Studentin beginnt Tania mit genauen Recherchen auf den Spuren des Raduga Verlages und des Verlegers und Schriftstellers Lew Kljatschko. Am Institut für russische Sprache und Literatur lernt sie Russisch und schreibt einen Brief an die Adresse des Verlages. Doch der Verlag musste schon 1930 unter Stalin schließen, Lew Kljatschko starb nur wenige Jahre später. Der Brief jedoch gelangt nach Boston, zur Enkelin des Verlegers. Diese schickt den Brief weiter an ihre Großmutter Adel, die in einem Altersheim in St. Petersburg lebt. „Ich weiß nicht, wie mich diese junge Frau ausfindig gemacht hat. Ich bin erstaunt über die Entschlossenheit, mit der sie über drei Kontinente hinweg die unsichtbaren und meist längst vergessenen Punkte verbunden hat.“ (Zitat Seite 11, 12)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Unterdrückung, Politik und den Wunsch nach Freiheit gegen alle Widerstände. Vor allem jedoch geht es um Bücher und die Kraft der Literatur.

Charaktere

Zwei Frauen und ein Mann: was sie trennt ist mehr als ein halbes Jahrhundert und mehr als sechstausend Kilometer Luftlinie. Auch die unterschiedlichen, persönlichen Erfahrungen mit der Ideologie des Kommunismus trennen die Welten dieser Menschen, denn Adels freidenkender Vater riskierte unter der Zensur und den Bespitzelungen der Stalinzeit sein Leben, Tania dagegen schloss sich als junge Studentin in Kalkutta den Aktivisten der kommunistischen Studentenbewegung an. Was sie eint, sind Bücher, die Liebe zur Literatur, Maxim Gorki und die Suche nach einem freien, selbstbestimmten Leben.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman erzählt zwei voneinander unabhängige Geschichten. Eine Geschichte schildert die Kindheit und Jugend Tanias in den 1980er Jahren in Kalkutta, die personale Erzählform stellt Tania in den Mittelpunkt. In der zweiten Geschichte schildert die Russin Adel Kljatschko als Ich-Erzählerin ihr Leben, vor allem jedoch ihre Erinnerungen, in deren Mittelpunkt die Geschichte ihres Vaters steht. Die Sprache der Autorin ist lebhaft, eindrucksvoll und präzise.

Fazit

Eine ungewöhnliche Geschichte, getrennt durch ein halbes Jahrhundert und mehr als sechstausend Kilometer, verbunden durch die Liebe zur Literatur und den Wunsch nach persönlicher Freiheit.

Melody – Martin Suter

AutorMartin Suter
Verlag Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum 22. März 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten336
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3257072341

„Ich habe mein ganzes Leben versucht, der Welt ein bestimmtes Bild von mir zu vermitteln.  Ihre Aufgabe besteht darin, dieses auch für die Nachwelt zu bewahren.“ (Zitat Seite 26)

Inhalt

Für Tom Elmer, dreißig Jahre alt, zwei Master-of-Law-Abschlüsse, ist dieser Job ein Glücksfall, großzügige Bedingungen, ein Jahresvertrag. Dr. Peter Stotz, geboren 1938, ehemaliger Politiker mit Sitz in den Verwaltungsräten von Banken und Großkonzernen,  einflussreich, erfolgreich, Kunstmäzen, sucht jemanden mit juristischen Kenntnissen und Sichtung des umfangreichen Archivs eines ganzen Lebens und die Ordnung seines Nachlasses. Bald ist Tom klar, dass es Peter Stotz vor allem darum geht zu erzählen und jemanden zu haben, der zuhört, bei den gemeinsamen Mahlzeiten und an den langen Abenden, denn Tom wohnt in der Villa. Alle Erinnerungen von Peter Stotz drehen sich um ein Thema: Melody Alaouni, die Liebe seines Lebens, die drei Tage vor der Trauung spurlos verschwunden ist. Dies ist nun über vierzig Jahre her, doch wie schon auf der Fassade der Villa in vergoldeten Lettern zu lesen ist: Tempus fugit, amor manet.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Sein und Schein, das eigene Leben und die Erinnerungen zwischen Fakten und Fiktion, um den Wunsch, das während langer Jahre der Öffentlichkeit präsentierte Bild auch zu bewahren. Es geht um Liebe, Beziehungen in vielen Facetten und Bedeutungen, um die unterschiedlichen Formen von Wahrheit.

Charaktere

Martin Suter ist ein Meister der leisen Zwischentöne in den Eigenheiten und Befindlichkeiten seiner Figuren. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen drei unterschiedliche Charaktere: Peter Stotz, schwer krank, der auch nach über vierzig Jahren die Erinnerungen an die Liebe seines Lebens pflegt. Tom Elmer ist neugierig, wenn auch mit der Verschwiegenheit eines Anwalts, und das Rätsel um das Verschwinden der jungen Frau wird für ihn zu einer Aufgabe, die er lösen will. Der dritten Hauptfigur, Melody,  begegnen wir nur auf den vielen Porträts, die an den Wänden der Villa hängen, und in Peters Erzählungen. „Das Porträt einer jungen Frau. Sie saß in einem Polstersessel vor einer Bücherwand, hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß und sah fragend auf, als wäre sie vom Betrachter gestört worden.“ (Zitat Seite 17)

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in zwei unterschiedlichen Erzählperspektiven geschildert. In der aktuellen Zeit steht Tom Elmer im personalen Mittelpunkt. Die Vergangenheit, besonders seine Zeit mit Melody und die nachfolgenden Jahre der Suche nach ihr erzählt Peter Stotz als Ich-Erzähler in den vielen langen Gesprächen mit Tom. Dies macht die spannende Geschichte noch abwechslungsreicher und lässt uns Lesenden auch Raum für eigene Überlegungen, denn gerade Geschichten, selbst erzählt von dem, der sie erlebt hat, lassen viel Spielraum für Interpretationen und Varianten. Wer schon Romane von Martin Suter gelesen hat weiß, dass es bei diesem Autor nie nur eine Wahrheit gibt, und auch Offensichtliches plötzlich Überraschungen birgt. Die Sprache erzählt gekonnt und elegant, mit vielen feinen Nuancen.

Fazit

Kurz gesagt, dieser Roman beinhaltet alles, was man sich von einer anregenden, spannenden, unterhaltsamen Lektüre erhofft, eine überzeugende Geschichte, facettenreiche Figuren und interessante Themen zum Nachdenken.  

Lichte Horizonte – Daniela Engist

AutorDaniela Engist
Verlag Alfred Kröner Verlag-Edition Klöpfer
Erscheinungsdatum 23. März 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten 208
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3520750013

„Wenn man nicht gerne fängt und nicht gerne gefangen wird, ist man dann nicht furchtbar allein? Aber wie allein ist man erst, wenn man dasteht und wartet!“ (Zitat Seite 131)

Inhalt

Anne ist als Autorin zu diesem Festival-Wochenende eingeladen, Stéphane als Musiker, sie treffen einander beim gemeinsamen Frühstück der Teilnehmer. Ein Gespräch, gegenseitige Anziehung und in Annes Gedanken bereits ein „was wäre, wenn“. Sie schreiben einander Emails, öffnen sich in dieser Virtualität gegenseitig, schreiben über ihre Gedanken und Wünsche. Doch beide haben Familie und beide sind sich darüber einig, dass sie nicht aus ihrem gewohnten Leben ausbrechen wollen. Dies wird Anne besonders deutlich, als Stéphane ihr schon am Beginn der Weihnachtstage schreibt, er werde ihr während der Feiertage nicht schreiben können. Als tatsächlich keine Emails von Stéphane eintreffen, ist Anne traurig und gereizt. Doch dann, zwei Tage vor Jahresende, beginnt sie zu schreiben, keine Emails, sondern an ihrem neuen Buch. Es würde wieder nicht das Buch zum Thema Geschwister werden, das sie schreiben wollte, sondern ein ganz anderes. Es wird eine Reise in der Vergangenheit, auf der Suche, wer sie damals war, wer sie heute ist.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben einer Frau, irgendwo zwischen Mitte und Ende Vierzig. Zwischen ihren Erinnerungen, ihrer nach mehr als zwanzig Jahren im Alltag festgefahrenen Ehe und der Sehnsucht nach Stéphane will sie schreibend herausfinden, wer sie heute ist und ob sie immer noch die ist, die sie sein will. Gleichzeitig handelt diese Geschichte auch vom Entstehen eines Romans.

Charaktere

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Anne, Ehefrau, Mutter, Schriftstellerin. So wie sie sich beim Schreiben ihres neuen Romans fragt, wie viel sie von sich selbst preisgeben will und wie viel verbergen, fragt sie sich auch, ob der Zauber ihrer Emails mit Stéphane nur in der Phantasie und dem Traum von einer möglichen Realität besteht und ob dies genug sein kann. Stéphane möchte nicht ein einer Geschichte vorkommen, er schreibt, so sagt er, seine Chansons auch nicht nach der Wirklichkeit.

Handlung und Schreibstil

Anne ist die Ich-Erzählerin. Sie erzählt uns die Geschichte dieser Tage im Dezember und Januar, verbindet diese jedoch mit vielen Erinnerungen, weit zurück in ihre Jugend, die erste Liebe, ihre Beziehungen und das Scheitern derselben. Sie schreibt über ihre Wünsche und Träume, über die frühe Zeit ihrer Ehe mit Alexander, mit dem sie inzwischen mehr als zwanzig Jahre verheiratet ist. Gleichzeitig jedoch bindet sie uns in den Schreibprozess ein, eine Geschichte in der Geschichte, denn wir erleben fiktiv, wie das vorliegende Buch geschrieben wird. Die Sprache ist klar, dennoch intensiv, und passt zu dieser Geschichte mit ihren Unterbrüche, im dauernden Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Drei große Abschnitte tragen den Titel Anlaufen – Abspringen – Aufkommen. Am Ende des Buches finden sich einige kurze, ergänzende Texte.

Fazit

Eine facettenreiche Geschichte, die gekonnt auch das Schreiben einer Geschichte selbst in die Handlung einbindet, so mit den Handlungen und Möglichkeiten spielt und uns viel Raum für eigene Gedanken lässt.

Berta Isla – Javier Marías

AutorJavier Marías
Verlag FISCHER Taschenbuch
Erscheinungsdatum 31. August 2022
FormatTaschenbuch
Seiten672
SpracheDeutsch
ÜbersetzerinSusanne Lange
ISBN-13978-3596703418

„Es gab eine Zeit, da war sie sich nicht sicher, ob ihr Mann ihr Mann war, wie man auch im Dämmerschlaf nicht weiß, ob man denkt oder träumt, ob man seinen Geist noch lenkt oder die Erschöpfung ihn in die Irre führt.“ (Zitat Seite 9)

Inhalt

Tomás Nevinson hatte schon bald klare Vorstellungen, wie seine Zukunft aussehen würde: verheiratet mit seiner Jugendliebe Berta Isla in Madrid, ein glückliches Privatleben, auch  beruflich erfolgreich. Auf Grund seiner herausragenden sprachlichen Begabung studiert er  in Oxford. Nach vier Jahren erwartet er ein Abschlussexamen mit Bestnoten und danach wird er, noch nicht einundzwanzig Jahre alt, nach Madrid zurückkehren. Als ihm sein Tutor den Vorschlag macht, für den britischen Geheimdienst zu arbeiten, glaubt Tomás, die freie Wahl zu haben, ablehnen zu können, was er auch sofort tut. Doch knapp danach tritt ein Ereignis ein, das ihm keine Wahl mehr lässt und sein Leben und auch das Leben seiner späteren Ehefrau Berta für immer verändert. Obwohl seine Anstellung bei der britischen Botschaft in Madrid seine Reisen nach London für Berta zunächst logisch erscheinen lässt, beginnt sie, Fragen zu stellen, als seine Abwesenheiten immer länger werden und er in diesen Zeiten nicht erreichbar ist. Doch sie erhält keine Antworten, aber wenigstens die Bestätigung, dass es so ist. Dann verschwindet er im Mai 1982 spurlos, Jahre vergehen und niemand weiß, ob er noch lebt.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es nicht um die aktive Tätigkeit der Geheimdienste, sondern vor allem darum, wie dieses Doppelleben, der Wechsel zwischen unterschiedlichen Identitäten und die damit verbundenen Geheimnisse, die Menschen verändern. Themen sind politische Überzeugungen, Beziehung, Familie, Liebe und Vertrauen.

Charaktere

Tomás ist völlig verändert, als er nach dem Abschluss seines Studiums zu Berta zurückkehrt. Ihr fällt auf, dass er nie mehr über die Zukunft nachzudenken scheint, so, als stünde führ ihn alles schon fest. Seinen neuen Patriotismus kann Berta nicht teilen und sie versteht nicht, warum er sich für dieses Leben entschieden hat. Dennoch trennt sie sich nicht von ihm und als er verschwunden ist, gibt ein Teil von ihr die Hoffnung nicht auf, sie hört nicht auf, auf seine Rückkehr zu warten.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird chronologisch, jedoch aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt. Einerseits schildert der Erzähler personal die Geschichte von Tomás, anderseits erzählt Berta Isla selbst ihre Geschichte in der Ich-Form und diese bildet den Hauptteil des Romans. So erfahren wir Lesenden zeitgleich mit den tatsächlichen Abläufen die Geschichte von Tomás in Oxford, kennen die Hintergründe für seine Entscheidung, die Berta nicht kennt. Wir kennen das Leben von Tomás in diesen Jahren, mehr, als er Berta erzählt, aber auch Bertas Leben während der Abwesenheit von Tomás, Dinge, die er nicht weiß, außer, sie erzählt es ihm. Es ist diese brillant gewählte Art, die Geschichte von Tomás und Berta zu erzählen, die für Spannung sorgt, vor allem aber auch die Problematik und Konflikte aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, uns Lesende zu eigenen Überlegungen anregt und dafür auch Raum lässt. Denn die Sprache nimmt sich viel Zeit für Schilderungen, für die Entwicklung und Charakterisierung besonders der beiden Hauptfiguren.

Fazit

Spannend, mit einer Vielfalt an interessanten Themen, ist dieser Roman vor allem eine einfühlsame, packende Studie der menschlichen Verhaltensweisen.

Ein von Schatten begrenzter Raum – Emine Sevgi Özdamar

AutorEmine Sevgi Özdamar
Verlag Suhrkamp Verlag
Erscheinungsdatum 10. Oktobert 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten763
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518430088

„Der Rest des Raumes ist ohne Schatten. Deswegen sieht es nur dort, wo der Schatten gewachsen ist, wie ein Raum aus, wie ein von Schatten begrenzter Raum“ (Zitat Seite 90) „Der Rest des Raumes war ohne Schatten. Deswegen sah er nur dort, so unsere Schatten gewesen waren, wie ein Raum aus, ein von Schatten begrenzter Raum, der sich mit Leben füllte.“ (Zitat Seite 242)

Inhalt

Die junge Ich-Erzählerin aus Istanbul flüchtet vor der türkischen Militärregierung über das Meer nach Europa. Sie hat in Istanbul die Schauspielschule besucht und hält an ihrem Traum fest, als Schauspielerin zu arbeiten. In Berlin pendelt sie als Assistentin des Regisseurs Benno Besson zwischen West- und Ostberlin. Dann holt Besson sie für sein nächstes Projekt nach Paris, anschließend kehrt sie nach Deutschland zurück, zu Claus Peymann an das Schauspielhaus Bochum. „Die Bühne ist großherzig, dort reden die Toten, und jede Nacht kommen die Zuschauer, um diese Toten zu sehen und ihnen zuzuhören. Und die Toten mischen sich nur am Theater in des Leben der Lebenden.“ (Zitat Seite 506). In Bochum schreibt sie auch ihr erstes Theaterstück.

Thema und Genre

Dieser stark autobiografische Roman handelt von der Suche nach Heimat und eigener Identität in einem fremden kulturellen Umfeld, dem Wunsch, sich selbst auch in neuen, fremden Sprachen zu finden. Auch die politische Vergangenheit und Gegenwart Europas im 20. und aktuellen 21. Jahrhundert sind prägende Themen. Doch vor allem geht es um Kultur, um Literatur und das Leben am Theater.

Charaktere

Dieser Roman schildert das Leben und den Werdegang einer vielseitigen Künstlerin als Schauspielerin, Theaterregisseurin und Schriftstellerin. Damit verbunden sind Erinnerungen an befreundete Künstlerpersönlichkeiten, an Menschen, die sie begleitet und gefördert haben.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte beginnt mit einem Prolog auf einer namentlich nicht genannten Insel ähnlich Alibey Atasi, von der aus man nauf die griechische Insel Lesbos, nach Europa, sehen kann. Dort endet die Geschichte auch mit einem Epilog und dieser Kreis schließt sich wortgenau: „Über uns die Nacht hat aus de dunkelsten Ecken ihrer Erinnerungen etwas herausgeholt und hat dieses Etwas zwischen der Orthodoxkirche, dem Esel, der blinden Frau und mir in der Luft leise verteilt.“ (Zitat Seite 10 und Seite 754). Wortgleiche Wiederholungen wie diese finden sich öfter auf diesen insgesamt 763 Seiten.

Die von vielen Rückblenden unterbrochene Handlung der alltäglichen Ereignisse und Beobachtungen wird in einfachen Sätzen erzählt, ähnlich den Einträgen in einem persönlichen Tagebuch. Doch immer wieder gibt es Überblendungen, plötzlich eingeschobenen Fragmente, die Ort, Zeit und Realität durch- und überschreiten. Dies, und der überbordende Stil der Schilderungen und Beschreibungen fordert sprachlich. Die poetische Sprache, ergänzt durch zweisprachige Gedichte, ist bildintensiv wie ein Film, wie expressionistische Theaterkulissen, aber auch surreal und extrem verstörend und beklemmend, wo es um die Träume der Ich-Erzählerin geht, in denen immer Ängste, Traumata und Tod eine Rolle spielen.

Fazit

Dieser Roman ist eine Herausforderung, eine wilde, anstrengende Reise zwischen dem Wunsch, das Lesen auf Grund der langen, immer wiederkehrenden Gedankenschlingen, der ausufernden Schilderungen und in ihrem Chaos nicht nachvollziehbaren Gedankenbrüche abzubrechen, und der Faszination gerade dieser imposanten sprachlichen Ausdrucksformen der türkisch-deutschen Schriftstellerin.

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