Die Ballade des letzten Gastes – Peter Handke

AutorPeter Handke
VerlagSuhrkamp Verlag
Datum29. Oktober 2023
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten185
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3518431542

„Dabei spürte er keinerlei Verlassenheit, vielmehr wirkte das Staunen weiter nach, ein, ihm nicht ganz unvertraut, nachmitternächtliches, auch über sich selber, wie er war, oder gemacht war, und die Stirn hatte, so zu sein, unverbesserlich.“ (Zitat Seite 36)

Inhalt

Jedes Jahr kehrt Gregor Werfer, der auf einem anderen Kontinent lebt, für eine Urlaubswoche in seine Heimat zurück, um die Eltern und die jüngere Schwester zu besuchen. Vieles ist noch vertraut, aber jedes Jahr beobachtet er die Veränderungen. Die Dörfer seiner Kindheit haben sich längst durch intensive Bebauung zu einem städtischen Gebiet verdichtet, er durchstreift die Straßen, wie auch die Landschaft, auf der Suche nach seinen Erinnerungen. In seinem Elternhaus dagegen ist vieles unverändert, neu ist sein kleiner Neffe, das Kind seiner jüngeren Schwester, dessen Taufpate er vor seiner Abreise werden soll. Noch etwas ist diesmal anders und wird es für immer bleiben – noch auf dem Heimweg, im Überlandbus, hat er die Nachricht vom Tod seines beinahe zwanzig Jahre jüngeren Bruders Hans erhalten, der bei der Fremdenlegion war. So mischen sich in die Beobachtungen auf seinen einsamen Streifzügen auch immer wieder Fragmente, Erinnerungen an den jüngeren Bruder und die gemeinsamen Erlebnisse. Dazu die Frage, wie und wann und ob er es seinen Eltern sagen wird, die sich auf die Rückkehr ihres jüngsten Sohnes freuen, die offizielle Verständigung ist noch nicht eingetroffen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Familie, Vergangenheit und Gegenwart, Kindheitserinnerungen und die Veränderungen vertrauter Orte im Lauf der Zeit.

Erzählform und Sprache

Das Buch umfasst drei Abschnitte, in den beiden ersten steht Gregor im personalen Mittelpunkt. Er streift durch die Nacht, beobachtet die Veränderungen, lässt auch seine Gedanken weit streifen, durchzogen von Erinnerungen und Eindrücken, ein einsamer, nachdenklicher Chronist seiner eigenen Geschichte. Er verbringt Zeit in der Natur, Zeit im Gefüge der neuen Stadt, kehrt an den Abenden in Gaststätten ein, wo es ihm immer wichtiger wird, der letzte Gast zu sein.  Irrwege, real und metaphorisch, gleich Homers Odysee, prägen diese Tage. Er teilt seine Eindrücke, Gedanken und inneren Dialoge, aber auch seine Erlebnisse während dieser Tage mit uns. Während daher der zweite Abschnitt die Überschrift „Die Ballade vom letzten Gast“ trägt, lautet die Überschrift des dritten Abschnitts „Die Ballade des letzten Gastes“ und wechselt in die Ich-Form, wiederholt in kurzen Episoden das Erlebte, intensiviert und verdichtet durch das „ich“. Die eindringliche Sprache entwickelt von der ersten Seite an einen eigenen Sog, drängend, beinahe wie atemlos strömen die Sätze, wenn sie schildern, was gerade gleichzeitig passiert, Beobachtungen, Gedankenflüge, so, als würde man im nächsten Augenblick sonst etwas verpassen. Es ist ein Spielen mit den Bedeutungen der Sprache, und wo diese nicht ausreicht, entstehen neue, bildhafte Wortschöpfungen.

Fazit

Diese nur an Buchseiten knappe Erzählung birgt eine unglaubliche Fülle an Inhalt, Themen, Sprache und Poesie, ein großartiges Leseerlebnis.  

Lichtungen – Iris Wolff

AutorIris Wolff
VerlagKlett-Cotta
Datum13. Januar 2024
AusgabeGebundene Ausgabe
Seiten256
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3608987706

„Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand.“ (Zitat Seite 76)

Inhalt

„Wann kommst du?“ Mehr steht nicht auf dieser Karte, die Lev eines Tages von Kato aus Zürich erhält. Kato, in der Schule die eigenwillige Außenseiterin, auch in seinen Gedanken zunächst nur „das Mädchen“, hat vor vielen Jahren dem elfjährigen Lev, der über viele Wochen krank im Bett lag, die Hausaufgaben gebracht. Rasch wurde sie zu seiner besten Freundin. Dennoch trennen sich ihre Wege, als Kato, sobald es endlich möglich ist, Rumänien zu verlassen und frei zu reisen, sich auf eine Reise durch Europa begibt, während Lev in Rumänien bleibt. Auch er beschließt zu reisen, doch seine Reise führt ihn nur auf den Spuren seiner Familie und Kindheit durch Rumänien. Nach dem Erhalt dieser Karte reist Lev nach Zürich und sie sehen einander nach vielen Jahren wieder. Es ist Sommer und die nächsten sechs Wochen lang reisen sie gemeinsam. „Für ihn war diese Reise ein Aufbruch, für sie in Übergang, vielleicht sogar Abschluss. Und doch hatten sie sich in diesen gegensätzlichen Bewegungen wiedergefunden.“ (Zitat Seite 10)

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um eine tiefe Freundschaft zweier Menschen, die trotz der völlig gegenseitigen Entwicklung bestehen bleibt. Gleichzeitig ist es eine Geschichte über das Leben der Menschen im kommunistischen Rumänien, über die unterschiedlichen Identitäten, Herkunft, Sprache und Familiengefüge. „Seine Herkunft war in seinem Akzent, war ihm eingenäht in Kleidung und Schuhe.“ (Zitat Seite 22, 23) Damit verbunden ist die Frage, was Heimat bedeuten kann und wie das Aufwachsen in Unfreiheit unter einer Diktatur das spätere Leben prägt, ein wichtiges Thema.

Charactere

Die Künstlerin Kato ist gerne unterwegs, aber sie weiß nicht, was sie nach diesem Sommer tun wird, sie sehnt sich nach einer neuen Aufgabe. Levs Lebensmittelpunkt ist statisch und in Rumänien geblieben, in der dörflichen Umgebung seiner Heimat. Noch während des Ceaușescu-Regimes hätte er mit seinem Großvater Ferry nach Wien fliehen können, doch Lev bleibt in Rumänien. Ferry ist neben den beiden Hauptcharakteren eine der vielen weiteren Figuren, die jeweils für ihre unterschiedliche Herkunft, Wurzeln und persönliches Verhalten während und nach der Zeit der kommunistischen Diktatur stehen und so ein facettenreiches, intensives Bild Rumäniens bieten.

Erzählform und Sprache

Iris Wolff hat eine besondere Erzählform für ihren Roman gewählt, sie erzählt die Geschichte zeitlich chronologisch, jedoch rückwärtsgewandt, beginnend mit der Gegenwart und endend in Levs Kindheit. Damit ergeben sich beim Lesen nicht die Fragen, was wird als nächstes passieren, sondern, was ist damals passiert, wie erklären sich die unterschiedlichen Lebenswege und Entscheidungen von Lev und Kato. Neue Figuren tauchen auf und sind uns zunächst fremd, erst mit den nachfolgenden Kapiteln lernen wir sie kennen, ihre Geschichte und damit auch die Zusammenhänge. Eindrückliche Beschreibungen Rumäniens, seiner Dörfer und Städte, der Natur und vor allem auch der vielen unterschiedlichen Volksgruppen und der politischen Verhältnisse ergänzen die Handlung. Die Sprache ist leise, eindrücklich, poetisch und ist wunderbar zu lesen.

Fazit

Ein beeindruckender, lange nachhallender Roman, der durch die Erzählform und die Vielfalt wichtiger Themen überzeugt und dessen wunderbare Sprache das Lesevergnügen vollkommen macht.

Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit – Karl Ove Knausgård

Autor Karl Ove Knausgård
Verlag Luchterhand Literaturverlag
Erscheinungsdatum 15. Februar 2023
FormatGebundene Ausgabe
Seiten1056
SpracheDeutsch
ÜbersetzungPaul Berf
ISBN-13978-3630876351

„Denn es fällt leicht zu glauben, Sehnsucht wäre, was nicht ist, wäre was fehlt, aber das stimmt nicht, die Sehnsucht ist etwas in sich, und auch das ist wertvoll.“ (Zitat Seite 964)

Inhalt

Syvert Løyning, neunzehn Jahre alt, hat gerade seinen Militärdienst beendet und fühlt sich irgendwie antriebslos, unschlüssig, wie sein Leben nun weitergehen soll, ein Studium wäre eine Möglichkeit. Obwohl es schon neun Jahre her ist, dass Syverts Vater bei einem Autounfall gestorben ist, sucht Syvert innerlich immer noch nach ihm, er weiß viel zu wenig über seinen Vater, und seine Mutter weicht allen Fragen aus. Die erste Antwort erhält er daher nicht von seiner Mutter, doch damit beginnt seine Suche. „Er hatte mir seine Version von Vaters Leben präsentiert. Ich selbst hatte eine andere Version.“ (Zitat Seite 192) Er findet in den Sachen seines Vaters Briefe in russischer Sprache, geschrieben von einer Frau namens Asja. Er lässt die Briefe übersetzen, liest sie und schreibt schließlich selbst einen Brief, der eines Tages bei der Wissenschaftlerin Alevtina in Moskau landet und auch für sie einige Überraschungen bereithält.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Familie, zwischenmenschliche Beziehungen, Konflikte, Schicksal, um die Themen Endlichkeit und Unendlichkeit, die Frage nach Vergangenheit, und Zukunft, vor allem jedoch um die philosophischen Fragen nach der Bedeutung und dem Sinn des Lebens in allen Facetten.

Charaktere

Der unsichere, junge Syvert mit seinen vielen Gedanken und Fragen über die Zusammenhänge des Lebens verändert sich, als er beginnt, Antworten zu suchen. Lisa und sein etwas ungewöhnlicher Sommerjob tragen zu dieser Entwicklung bei.

Alevtina und Vasilisa studieren Literaturwissenschaft, doch während Alevtina anschließend Biologie studiert, weil sie die grundsätzlichen Zusammenhänge in der Natur faszinieren, wird Vasilisa Schriftstellerin. Sie hätte ein Vorwort schreiben sollen, doch aus dem Text entsteht die Idee für einen Roman. „Der Gedanke ist, dass die Ewigkeit begonnen hat. Das ist es, was sich verändert hat. Die Zukunft ist verschwunden, und die Ewigkeit hat begonnen.“ (Zitat Seite 625)

Handlung und Schreibstil

Es sind Syvert, Vasilisa und Alevtina, die ihre Geschichte erzählen. Sie tun dies in langen Abschnitten, jeder beinahe schon ein Roman. Daraus ergibt sich eine immer fließende, aber niemals hektisch geschilderte Handlung, die uns von der ersten bis zur letzten Seite in ihrem Bann zieht und ohne Längen durch die Geschichte führt. Der Autor ist ein wunderbarer Erzähler, die Gedanken, die sich jede seiner Figuren über das Leben und die Fragen des Lebens macht, fügen sich nahtlos in den Handlungsbogen ein, nehmen uns mit auf weite Gedankenreisen und führen uns doch immer wieder zurück in die Gegenwart der Figuren, zu ihrer Geschichte. Zwei weitere Erzählfiguren fügen sich mit kurzen Abschnitten in die Handlung ein, spontane Entscheidungen, die Leben verändern.

Fazit

Ein vielseitiger, beeindruckender, faszinierender Roman, der mich begeistert hat.

Venedig: Wintertage in der Serenissima – Wolfgang Salomon

AutorWolfgang Salomon
Verlag Styria Verlag
Erscheinungsdatum 27. September 2021
FormatTaschenbuch
Seiten176
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3222136641

„Im Herbst und im Winter verzaubert Venedig auf ganz besondere Weise und bald lässt sich erahnen, warum diese Stadt Inspiration und Lebensader für Menschen aus aller Welt ist.“ (Zitat Seite 8)

Thema und Inhalt

Dieses Buch des Venedigkenners Wolfgang Salomon führt uns durch die immer noch ruhigen Wintermonate in der großartigen Stadt Venedig. Wir erforschen die Lagunenstadt zur Vorweihnachtszeit, schlendern durch enge Gassen, kleine Plätze abseits der Touristenrouten, erkunden Museen, erleben die Inseln der Lagune und den Lido in den Winterwochen. Ein besonderes Kapitel, „Ein Lagunentrip im Zeichen des Wassers schildert Acqua Bassa, Niedrigwasser, gefrorene Lagunen, vor allem aber auch das stetig wiederkehrende Acqua Alta, das die Plätze und Gassen unter Wasser setzt. Bei den Nachrichten über die Jahrhundertflut im November 2019 hielt es Wolfgang Salomon nicht in Wien, doch ein Schwerpunkt in diesem Buch ist kein Sensationsbericht über die Wassermassen, sondern er schildert eindrücklich den ungebrochenen Mut und Zusammenhalt Menschen, die hier leben „Duri bianchi – Wir geben nicht auf“ (Zitat Seite 145). Gegen Winterende bereitet sich Venedig auf den berühmten, traditionellen Karneval vor, der alle diese Orte wieder mit Menschen füllen wird, wobei sich Einheimische und Touristen mischen.

Gestaltung

In insgesamt sechs Kapiteln, chronologisch wie ein Tagebuch von Oktober bis Februar, beschreibt der Autor Ausflüge zu wenig bekannten Inseln der Lagune, in die Katakomben, Spaziergänge und eine Palazzo-Tour über den Canal Grande mit der Linie 1, vom Lido bis zur Piazzale Roma und daher gegen den Besucherstrom. Alles in dem ihm eigenen Tempo des Genießens, des Erlebens mit allen Sinnen. „Slowtravel“ nennt es der Autor. Die Beiträge sind eine interessante, vielfältige Mischung aus persönlichen Geschichten und Erfahrungen, Alltäglichem, historischen Fakten und Informationen. Viele Fotografien ergänzen die Texte und sie stammen, wie auch das Coverbild, ebenfalls von Wolfgang Salomon.

Als Gastronom weiß der Autor und Fotograf Wolfgang Salomon die Qualität von genussvoll zubereiteten Speisen und lokalen Weine des Veneto zu schätzen und teilt seine kulinarischen Tipps und persönlichen Empfehlungen mit uns, dazu auch seine Playlist, die er eigens für seine Streifzüge während dieser Winterwochen zusammengestellt hat.  

Fazit

Dieses ansprechend gestaltete Buch ist eine wunderbare Schatzkiste voll von Geschichten, Erlebnissen, Informationen, Wissen und Tipps. Ein Kleinod, nicht nur für Menschen, die Venedig noch nicht besucht haben und eine Reise planen, oder sich auf eine Gedankenreise begeben wollen, sondern auch für Venedigkenner, die hier neue Ideen für den nächsten Besuch der Serenissima finden und gleichzeitig auch auf eine Reise der eigenen Erinnerungen geschickt werden. Meine nächste Venedig-Reise – auf jedem Fall im Winter!

Brooklyn soll mein Name sein – Eduardo Lago

AutorEduardo Lago
Verlag Alfred Kröner Verlag
Erscheinungsdatum 1. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten500
SpracheDeutsch
ÜbersetzungGuillermo Aparicio
ISBN-13978-3520624017

„Ich weiß nicht, nach was ich suche, ich weiß nur, dass es sich hinter den Tausenden von Wörtern verbirgt, die ich nicht aufhören kann zu schreiben. Ich weiß nicht, was es ist, was es sein kann, aber ich würde es gerne herausfinden und ihm eine Form verleihen, nur für dich. Für dich werde ich dieses Buch schreiben, Brooklyn.“ (Zitat Seite 266, 267)

Inhalt

Der Journalist Néstor Chapman entdeckt eines Abends bei einem Spaziergang durch Brooklyn Heights zufällig das Lokal „Oakland Bar & Grill“. Neugierig geworden, betritt er einen erstaunlichen Ort und an einem Tisch in einer Ecke sieht er einen Mann, der völlig unbeeindruckt von dem Trubel der anderen Gäste in ein Heft schreibt. So lernt er den Schriftsteller Gal Ackerman kennen und sie treffen einander regelmäßig im Oakland. Eines Tages nimmt Gal ihn in sein Studio mit und zeigt ihm eine Fülle von voll beschriebenen Heften, darunter auch das besondere „Brooklyn-Heft“, die Notizen für den Roman, den er für seine große Liebe Nadja Orlov schreiben wollte. Doch Gal weiß bereits, dass er nicht in der Lage ist, dieses Buch zu beenden. Néstor „Ness“ soll dies für ihn tun. Kurze Zeit später ist Gal tot und Néstor weiß, er hatte im Grunde nie eine Wahl, als das ihm anvertraute Archiv zu übernehmen und Gals Bitte zu erfüllen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben, um Literatur, um Freundschaft und Liebe. Wir treffen unterschiedliche Protagonisten und ihre Geschichten, die diesen Roman tragen. Natürlich geht es auch um New York, vor allem jedoch um Brooklyn und das Oakland, eine Bar in den Docks von Brooklyn, die für viele Menschen eine Art von Heimat geworden ist. „Sieh mal, dieses Licht, Néstor. Es ist das Licht, über das Louise in ihrem Gedicht spricht. Das Licht Brooklyns.“ Zitat Seite 26)

Charaktere

Es sind viele unterschiedlichen Protagonisten, die diese Geschichten beleben, jede Person ist auf ihre Art einzigartig und besonders. Manche tauchen nur kurz auf, stehen im Mittelpunkt einer Episode, eines Ereignisses, andere bleiben und begleiten uns durch das gesamte Buch.  

Handlung und Schreibstil

Der Roman wird nicht chronologisch erzählt, die einzelnen Kapitel reisen kreuz und quer zwischen den Jahren und Personen. Im Anhang findet sich eine genaue Chronologie der Ereignisse und ein ausführliches Personenregister. Die Rahmenhandlung, die alle weiteren Geschichten immer wieder eint und sich zwischen die einzelnen Episoden setzt, trägt Néstor als Ich-Erzähler. Er verbindet die Geschichten der einzelnen Hefte, erinnert sich an die Gespräche mit Gal, an Ereignisse, die Gal ihm aus seinem Leben und seiner Vergangenheit erzählt hat. Vor allem schildert Néstor diese besondere Zeit, die er selbst mit dem Sichten der Unterlagen, weiteren Recherchen und Gesprächen, und dem Schreiben verbracht hat. Diese Art des Erzählens in Verbindung mit den eindrücklichen, bunten, lebhaften Beschreibungen der Menschen und prägenden Orte, macht den besonderen Sog und Charme dieses außergewöhnlichen Romans aus.

Fazit

Es ist schwer, dieses beeindruckende Leseerlebnis zu beschreiben, die Vielfalt der Figuren, Schicksale, Orte, die tiefe Freundschaft, welche die Personen verbindet und sich durch die Geschichten zieht. Ich hatte das Buch gerade erst erhalten, wollte nur kurz die ersten Seiten lesen und geriet sofort in den Bann dieser faszinierenden Erzählform und Sprache. Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen und es reihte sich sofort in die Liste meiner zeitlos gültigen Lieblingsbücher ein.

Die Ahnungslosen – Wolfgang Popp

AutorWolfgang Popp
Verlag Edition Atelier
Erscheinungsdatum 13. September 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten280
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3903005419

„Gewöhnlich trinkst du in so einer Situation den Rest von deinem Bier in einem Zug aus, schüttelst dir den Kopf leer und drehst dich um in Richtung Weiter-Geht´s. In dem Moment schaltete das Schicksal aber auf Weil-ich-schon-dabei-bin-dich-zu-Verunsichern, sagte „hi!“ und borgte sich dafür eine Stimme, die er kannte.“ (Zitat Seite 85)

Inhalt

Raul, vierunddreißig Jahre alt, ist Musiker, singt und spielt Gitarre, seine Songs schreibt er selbst. Nach zehn Jahren Amerika ist er zurück, wählt aus spontaner Neugierde die Telefonnummer seines Geburtsdatums und kurz darauf hat er einen Job im Geschäft von Karoline, Papier und Künstlerbedarf. Auf dem Weg dorthin entdeckt der das Lokal Drei Giraffen und bald darauf hat er dort seinen ersten Auftritt. Mit Karolines Bruder Walt beobachtet er eines Abends einen alten Mann, der mit seiner gelben Gießkanne einen Kastanienbaum gießt und schreibt den Song Trees, mit dem sein Erfolg beginnt, Walt findet seinen Stil als Künstler. Raul macht Christian, den Inhaber der Drei Giraffen, auf Walts Zeichnungen aufmerksam. Christians zweite Frau Lara ist Galeristin. Ebenfalls in den Drei Giraffen wird Kri, Christians erste Frau, Eventmanagerin, die Agentin der aufstrebenden Schauspielerin Zora. Immer wieder sind es die Drei Giraffen, in denen Zufälle neue Verbindungen knüpfen und alte beleben, manchmal auch verändern, neu und anders weiterführen.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben in seiner Vielfalt und die Überraschungen, die es bereithält, sobald man bereit ist, sich auf Neues einzulassen, Veränderungen anzunehmen. „Plötzlich ist sie wieder wo – und nicht irgendwo, und so ungewohnt das nach so langer Zeit ist, so großartig fühlt sich das auch an.“ (Zitat Seite 72)

Charaktere

Einfühlsam und mit Humor schickt der Autor seine unterschiedlichen Figuren im Alter zwischen Mitte dreißig, Teenager und demnächst hundert Jahre alt durch ihr Leben mit Alltag, Krisen, Entscheidungen und vor allem Überraschungen. „Walter ist sich sicher, gerade den besten Moment des Abends zu erleben, aber nur weil er nicht weiß, was in den nächsten Stunden alles passiert.“ (Zitat Seite 225)

Handlung und Schreibstil

Der Autor erzählt die Geschichte in kurzen Episoden, wechselt die Erzählperspektiven und  stellt seine Figuren abwechselnd in den Mittelpunkt der einzelnen Kapitel. Zunächst treffen sie sich zufällig, um sich langsam miteinander zu verbinden. Sie rücken einander geschäftlich und privat näher und damit wird Schritt für Schritt, Entscheidung für Entscheidung, schließlich ein Gesamtbild, eine aus vielen Einzelepisoden in sich stimmige, ganze Geschichte. Diese Art des Erzählens ist interessant, unterhaltsam und sehr spannend.

Fazit

„Kürze ist, wenn es kürzer nicht mehr geht, wenn nur noch die richtigen Worte übrig bleiben, und deshalb schneidet und sticht sie auch, die Kürze.“ (Zitat Seite 223). Besser kann man diesen faszinierenden Roman nicht beschreiben, kein Wort zu viel, aber auch kein Wort zu wenig. Atemloses Lesevergnügen, und man schwankt zwischen dem Weiterlesen in jeder freien Minute und einem Innehalten, Genießen, um die Zeit bis zur letzten Seite noch hinauszuzögern.

Hier geht’s lang!: Mit Büchern von Frauen durchs Leben – Elke Heidenreich

AutorElke Heidenreich
Verlag Eisele Verlag
Erscheinungsdatum 27. September 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten192
SpracheDeutsch
ISBN-13‎978-3961611201

„Ich habe das Rüstzeug gelernt, aber mich interessiert viel mehr, Menschen ans Lesen zu bringen, ihnen von Geschichten und Romanen zu erzählen, die ein Stück Welt begreifbar machen, als diese Texte zu analysieren.“ (Zitat Seite 142)

Thema und Inhalt

In diesem Buch schildert Elke Heidenreich ihren Werdegang als Leserin, beginnend mit den ersten Büchern ihrer Kindheit und Jugend. Es sind vor allem Bücher von Frauen, die sie geprägt und dazu geführt haben, dass sie sich auch beruflich immer mit dem Lesen, mit Büchern befasst hat, als Leserin, Rezensentin, Journalistin, Moderatorin und als Autorin. Als Literaturkritikerin hat sie sich selbst nie gesehen, sie sah sich immer als Bücherempfehlerin. „Ich habe mir nie angemaßt, Literaturkritikerin zu sein. Ich wollte wirklich immer nur sagen: Hier geht’s lang … (Zitat Seite 145)

Gestaltung

Die Autorin beschreibt ihr Leben als Leserin chronologisch in folgenden Abschnitten: Das Kind, Das Mädel, Der Backfisch, Die Studentin, Die junge Frau, Die besten Jahre, Heute, Männer. Wobei sich dieses abschließende Kapitel „Männer“ nicht mit den Männern in ihrem Leben beschäftigt, sondern mit Autoren, denn natürlich liest Elke Heidenreich auch Bücher, die von Männern geschrieben wurden. Doch gerade in den Jahren des Heranwachsens, der Suche nach dem eigenen Weg, der Zweifel, waren Bücher von Frauen für sie einfach hilfreicher.

In jedem dieser Kapitel berichtet sie über ihr Leben, besondere Ereignisse, Menschen, die sie kennengelernt hat und die sie beeindruckt haben. Mehr als 100 farbige Fotos und Abbildungen ergänzen die Texte, in deren Mittelpunkt immer die Freude am Lesen steht, die Bücher, die sie im jeweiligen Lebensabschnitt gelesen hat und die sie beeinflusst und geprägt haben. Es sind dies Bücher, die von Frauen geschrieben wurden und die für sie immer wieder richtungsweisend waren. So erhalten auch wir beim Lesen viele neue Anregungen, Bücher, die wir noch nicht gelesen haben, die uns neugierig machen, und mit jeder Seite dieses Buches füllt sich auch die persönliche Wunschliste für den nächsten Besuch in der Buchhandlung.

Fazit

Dieses Buch ist eine kluge, humorvolle Schilderung eines Lebens, das von Büchern und einer nie versiegenden Freude am Lesen geprägt ist und zugleich auch eine Reise durch die Literaturgeschichte. Ein Buch, das man mit Vergnügen immer wieder zur Hand nimmt, das die eigenen Regale weiter mit neuer Lektüre füllen wird und das man sicher nicht nur ein Mal, für sich selbst, kauft, sondern auch mit Freude verschenken wird.

Die nicht sterben – Dana Grigorcea

AutorDana Grigorcea
Verlag Penguin Verlag
Erscheinungsdatum 1. März 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten272
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3328601531

„Nun aber will mir scheinen, dass gerade das Gegenteil stimmt, dass also jegliche Reihenfolge einen Sinn ergibt, da es nicht um Ursache und Wirkung geht, sondern nur um eines: Schicksal.“ (Zitat Seite 59)

Inhalt

Eine junge Künstlerin aus Bukarest kehrt nach Abschluss ihres Masterstudiums in Paris in ihre Heimat zurück. Sie besucht ihre Großtante Margot, die sie Mamargot nennt, in der Kleinstadt B., wo sie mit ihrer Familie alle Sommerferien ihrer Kindheit verbracht hatte. Damals war die Villa nur gemietet, nach 1989 wurde das Anwesen an ihre Großtante zurückgegeben. Hier erhofft sich die junge Malerin mehr Inspirationen für ihre Bilder, als an allen anderen Orten der Welt. Doch B. hat sich in den Jahren ihrer Abwesenheit verändert, viele Menschen sind weggezogen, die Häuser dem Verfall überlassen. Als in der Gruft ihrer Familie das Grab von  Vlad Țepeș, besser bekannt als Dracula, entdeckt wird, kehrt die Vergangenheit zurück. Die junge Künstlerin beschließt, die Geschichte des nach Gerechtigkeit und absoluter Ehrlichkeit strebenden, aber auch sehr grausamen Fürsten zu erzählen. Doch plötzlich bekommt der alte rumänische Ausspruch in Bezug auf die Korruption und gesellschaftlichen Zustände im Land „Wo bist du, Țepeș Herr?“ eine völlig neue Dimension.

Thema und Genre

Dieser Roman mit Elementen der klassischen Schauerliteratur ist eine sehr moderne, gleichzeitig aber archaische, atmosphärisch dichte Version einer Vampirgeschichte, verbunden mit der Geschichte Rumäniens und der Menschen in ihren teilweise verlassenen Dörfern.  

Charaktere

Die einzelnen Figuren sind sehr genau beobachtet, die Eigenschaften wurden bewusst gewählt. Die Künstlerin, Ich-Erzählerin, kehrt voll Schwung und Vorfreude zurück nach B., fühlt in sich schon die Bilder, die sie malen wird, zu denen sie der B. der Ort ihrer Kindheit, inspiriert. Doch es sind völlig andere Eindrücke, die sie prägen und verändern.

Handlung und Schreibstil

Die junge Malerin schildert die Geschichte als Ich-Erzählerin. Wir erfahren Details über das Leben einer gut situierten Bukarester Familie während der sorglosen Zeit der Sommerfrische in B. im Kreis vieler Freunde. Gleichzeitig schildert sie die aktuellen Ereignisse, unterbrochen durch die Geschichte des berühmten Fürsten Vlad Țepeș, sein Leben, seine politischen und menschlichen Motive in Fakten und Fiktion, verbunden mit den vielen Legenden um Dracula und Vampire. Die facettenreiche Sprache beschreibt einfühlsam und bildhaft die Figuren und die Schönheit der Landschaft, schildert die Geschichte des berühmten Woiwoden packend, realistisch und die Erlebnisse der Ich-Erzählerin intensiv, dicht, beklemmend, mystisch und sehr spannend.

Fazit

Eine großartig zu lesende Mischung aus moderner, zeit- und gesellschaftskritischer  Interpretation der bekannten Legenden und Geschichte von Vlad III. Drăculea und einem klassischen Schauerroman aus der Blütezeit der Schauerliteratur zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Engel im Schatten des Flakturms – Michael Kanofsky

AutorMichael Kanofsky
Verlag duotincta GbR
Erscheinungsdatum 2. Mai 2019
FormatBroschiert
Seiten266
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3946086444

„Der Abschied von Wien und der Plan, das in Wien begonnene Werk nun in Dr. Stidmanns Berliner Wohnung fortzusetzen und, wenn möglich, zu finalisieren, beides gehört untrennbar zusammen.“ (Zitat Seite 29)

Inhalt

Der Ich-Erzähler ist Schriftsteller. Er sitzt an seinem Stammplatz, einem Zweiertisch in einer Nische am Fenster, im Café Prückel in Wien. Das Prückel hat er auch immer mit seinem verstorbenen Freund, dem Berliner Literaturwissenschaftler Franz Stidmann, besucht, wenn dieser in Wien war. Elf Jahre lang waren sie befreundet, nun ist sein Freund tot und der Ich-Erzähler hat dessen Wohnung mit dem großen Schreibtisch und einer umfassenden Bibliothek in Berlin geerbt. In einigen Stunden wird er im Nachtzug nach Berlin sitzen, um dort weiter an seinem Roman zu schreiben. In Stidmanns Aufzeichnungen findet er Einladungen von Kultureinrichtungen in der Schweiz und in Brasilien und er beschließt beide Orte im Andenken an seinen verstorbenen Freund zu besuchen.

Thema und Genre

In dieser Geschichte geht es um das Schreiben und die Entstehung eines Romans. Damit verbunden sind Literatur, Schriftsteller, ihre Werke und ihre Romanfiguren.

Charaktere

Wir kennen den Namen des Ich-Erzählers nicht, aber wir wissen, wie er aussieht, dass er Schriftsteller ist, in Wien lebt und sich immer noch gerne an sein Studiensemester in Cambridge erinnert. Produktivität ist für ihn ein wichtiges Thema, der Schreibprozess, aber damit verbunden auch seine Selbstzweifel. Über seinen Freund Stidmann erzählt er, dass dieser im Aussehen und Verhalten dem Schriftsteller Uwe Johnson gleicht.

Handlung und Schreibstil

Der Ich-Erzähler berichtet über die aktuellen Ereignisse, er beginnt mit seinem Abschied von Wien im Café Prückel und seiner Reise nach Berlin. Die Handlung wird unterbrochen durch Erinnerungen an Cambridge, an seinen Freund Stidmann, Rückblenden, Stidmanns Aufzeichnungen und Berichte über die eigenen Fortschritte beim Schreiben. Bis zur letzten Seite warten Überraschungen, interessante Begegnungen und wirklich unvorhersehbare Wendungen auf uns Lesende.

Der Autor ist ein packender, phantasievoller und auch sprachlich immer wieder überraschender Erzähler. Seine Art, die Reise von Berlin nach Bern zu schildern, ist genial und malt sofort Bilder und das reale Gefühl langer Autofahrten in unsere Gedanken. Meine Wiener Seele hatte er schon vorher überzeugt, so wie er kann nur jemand diese vielschichtige Stadt schildern, der sie wirklich kennt und liebt, nicht nur die Hochglanzseiten, sondern das echte Leben. Auf den Seiten 41 und 42 beschreibt er in einem einzigen Satz das Nachtleben in der Wiener Innenstadt, dreizehn Zeilen, die genügen, um alle Szenen, Begegnungen und Eindrücke zu erfassen. Ähnlich lebendig, anschaulich und treffend sind auch seine Schilderungen des Lebens in Berlin.

Fazit

Dieser außergewöhnliche, mit Vergnügen zu lesende Roman ist die Geschichte des Entstehens einer Geschichte. Abenteuerliche Reisen mit der Bahn nach Berlin, mit dem Auto in die Schweiz, mit der Fähre über die Ostsee und mit dem Flugzeug über den Atlantik ans andere Ende der Welt, Gedankenwelten, Traumwelten, magisch-phantastische Welten, literarische Erlebnisse, Schriftsteller, ihre Werke, ihre Figuren: dies alles vereint sich im Notizbuch des Schriftstellers zum Roman.

Die Erfindung der Welt – Thomas Sautner

AutorThomas Sautner
Verlag Picus Verlag
Erscheinungsdatum 22. Februar 2021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten400
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3711721037

„Für gewöhnlich fügen sich Romanfiguren zumindest im Groben der Idee des Buches, diesmal aber entwickeln sie nicht nur, wie man gerne sagt, ein Eigenleben, diesmal boykottieren sie mich regelrecht. Sie pfeifen auf mich.“ (Zitat Seite 359)

Inhalt

Aliza Berg, eine erfolgreiche Schriftstellerin, erhält von einem unbekannten Auftraggeber das schriftliche Angebot, einen Roman zu schreiben. „G.“, so nennt sich die Person, überweist sofort eine großzügige Anzahlung, die sie auf jeden Fall behalten kann. Eine einzige Bedingung ist an den Auftrag geknüpft, es muss ein Roman über das Leben selbst sein, am Beispiel einer genau vorgegebenen Region und aller Bewohner. Die im Auftrag markierte Gegend liegt außerhalb einer Ortschaft und zeigt hauptsächlich Wald, Wiesen und einige Teiche. Es scheint nur ein Haus und eine Burg oder Schloss zu geben. Dass es sich tatsächlich um beides handelt, ein neues Schloss und eine mittelalterliche Burg, sieht Aliza, als sie nach Litstein reist und sie wohnt sogar in diesem Schloss, als Gast von Gräfin Elli und Graf Leopold Hohensinn. Zu ihrem Ärger war ihr Kommen von G. groß angekündigt worden und sie will sofort umkehren, zurück fahren, aber es kommt anders.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um das Leben und seine besonderen Überraschungen, um den Lauf des Jahres und die vielfältige Schönheit der Natur, auch in den kleinsten Dingen, um Literatur, das Schreiben, Freundschaft und die Liebe.

Charaktere

Es sind schrullige und in ihren manchmal schroffen Eigenheiten liebenswerte Figuren, denen die Schriftstellerin begegnet. Spontan beschließt sie, sich nicht um die Vorgaben von G. zu kümmern, sie allein entscheidet, welche Menschen sie als Figuren in ihren Roman aufnimmt. Aliza lernt alle ihre Figuren erst kennen, ich habe mit großem Vergnügen auch Bekannte aus Großmutters Haus wiedergetroffen.

Handlung und Schreibstil

„An jenem Abend war ich seit etwa zwei Wochen in der Gegend. Seit zwei Wochen auf Recherche für einen Roman, von dem ich noch nicht wusste, ob ich ihn schreiben würde.“ (Zitat Seite 10). Das Gespräch an jenem Abend führt, ebenso wie Elli Hohensinn, mit dazu, dass sie bleibt. Beinahe ein Jahr lang recherchiert Aliza Berg, beobachtet ihre Figuren, lernt ihre Geheimnisse kennen und die ihr bisher unbekannten Seiten der Natur, weil sie sich Zeit nimmt, alles zu beobachten. Es sind lustige Begebenheiten, sehr skurrile Erlebnisse und sehr traurige. Der Autor spielt mit unterschiedlichen Erzählperspektiven, stellt nicht nur abwechselnd eine seiner Figuren in den Mittelpunkt, sondern es kann auch plötzlich ein Teil der Natur sein, oder Aliza als Ich-Erzählerin. Mit einem humorvollen Augenzwinkern beobachtet er seine Schriftstellerin bei ihren Recherchen, führt sie immer wieder in überraschende Situationen. Verbunden mit der poetischen, leichten und gleichzeitig eindrücklichen Sprache, den wunderbar detaillierten Schilderungen der Natur und der Menschen, ergänzt durch eingestreute philosophische Betrachtungen, führt dies zu seinem Roman, in den man versinkt und plötzlich mit Bedauern bemerkt, schon an der letzten Seite angekommen zu sein.

Fazit

Der Autor lässt in diesem Roman die Schriftstellerin llse Hofstätter während einer Vorlesung über Literatur sagen: „Alles, was sie zu wissen glaube, sei, Literatur solle mutig, ja übermutig sein, solle Kopf- und Herztöne zusammenführen, durcheinanderwirbeln und spielerisch wieder auffangen. Dann sei in ihr alles enthalten, selbst das, was ungesagt geblieben ist.“ (Zitat Seite 394) Besser kann man diesen Roman nicht beschreiben.

Über Menschen – Juli Zeh

AutorJuli Zeh
Verlag Luchterhand Literaturverlag
Erscheinungsdatum 22. März 021
FormatGebundene Ausgabe
Seiten416
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3630876672

„Meistens besteht das Leben aus Trial and Error, und der Mensch kann viel weniger begreifen und kontrollieren, als er glaubt. Auf dieses Dilemma kann weder Nichtstun noch Aktionismus die richtige Antwort sein.“ (Zitat Seite 28)

Inhalt

Dora, sechsunddreißig Jahre alt, ist eine erfolgreiche Werbetexterin, als ihr im Home-Office des Corona-Lockdown nicht nur die gemeinsame Wohnung in Berlin, sondern auch das Leben mit Robert endgültig zu eng wird. Bereits im Dezember hatte sie heimlich das renovierungsbedürftige, alte Gutsverwalterhaus auf dem verwilderten Grundstück mit den großen Bäumen gekauft, in Bracken, einem kleinen Straßendorf irgendwo in Brandenburg. Jetzt, drei Monate später, ist sie emdgültig hierher übersiedelt. Mit ihrer Hündin Jochen, ohne Möbel, aber mit einem Nachbarn, der sich ihr als Gote, wie Gottfried, ich bin der Dorf-Nazi vorstellt, was zu seiner sauber geschorenen Glatze passt. Doch plötzlich liegt ihre Matratze auf einem eigens für sie angefertigten Bett und auf ihrem Lieblingsplatz auf dem Treppenabsatz vor dem Haus stehen eines Tages Küchenstühle. Hier, in diesem Dorf mit seinen Menschen verändert sich etwas in Dora, vom Nachdenken zum Umdenken.

Thema und Genre

In diesem Roman geht es um Menschen, ihre Ängste, Sorgen, aber auch den Zusammenhalt in diesen herausfordernden Tagen einer modernen, aber unsicher und brüchig gewordenen Gegenwart.

Charaktere

Dora muss in Bewegung sein, um sich ruhig zu fühlen. Sie hat eine eigene Meinung zu vielen Themen unserer Zeit, doch hier in Bracken erkennt sie rasch, wie sehr sie sich irrte, als sie überzeugt davon war, man könne doch Gut und Böse ganz einfach auseinanderhalten. Denn hier lernt sie alle möglichen Zwischenschattierungen in unterschiedlichster Form kennen.

Handlung und Schreibstil

Dieser Roman spielt in der Gegenwart in einem kleinen Dorf in Brandenburg. Dora zieht sich aus ihrem Leben in Berlin zurück, um mit ihrer Hündin Jochen eine völlig andere Art Leben zu probieren, denn Home-Office geht überall. Einkaufen ohne Auto, mit einer Busverbindung mit hohem Seltenheitswert, Gärtnern mit theoretischen Anleitungen über YouTube. Dazwischen freie Zeit, auch das muss sie lernen, mit dieser freien Zeit umzugehen, die Natur in ihrer wunderbaren Vielfalt hilft ihr dabei. Doch jeder Tag bringt neue Herausforderungen und manchmal wünscht sich Dora weit weg von allem, am besten auf die Raumstation ISS, um Abstand zu gewinnen und Ruhe. Die Autorin erzählt einfühlsam, intensiv, bindet die drängenden Themen der Gegenwart mit ein, schafft unterschiedliche Figuren mit völlig unterschiedlichen Sichtweisen, beleuchtet die Standpunkte, lässt sie ruhen, nimmt sie in einem neuen Zusammenhang wieder auf. Sie lässt ihre Figuren nachdenken, umdenken und uns beim Lesen mit.

Fazit

Dies ist tatsächlich ein Roman über Menschen, ihre Ängste, Probleme, das tägliche Leben mit skurrilen, witzigen Szenen und nachdenklichen, sehr traurigen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie man miteinander umgeht, wenn die Meinungen stark auseinanderdriften. Es sind Figuren auf der Suche und man schließt jede einzelne der Figuren ins Herz, obwohl oder gerade weil jede so ihre Eigenheiten hat, authentisch, Menschen eben, und oft  anders, als die anderen denken.  

Seeland Schneeland – Mirko Bonné

AutorMirko Bonné
Verlag Schöffling & Co.
Erscheinungsdatum 2. Februar 2021
FormatGebundene Ausgabe
UmschlagbildJochen Hein
Seiten448 Seiten
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3895614101

„Je weiter weg man von den wirklich guten Leuten und den wahrhaft schönen Dingen ist, umso mehr soll man glauben, dass es sie gibt.“ (Zitat Seite 128)

Inhalt

Merce Blackboro war siebzehn Jahren alt, als er 1914 mit der bekannten Shackleton-Expedition auf der Endurance in die Antarktis aufbrach. Diese Erfahrungen haben Merce verändert. 1921, vierundzwanzig Jahre alt, fühlt er sich immer noch antriebslos, was fehlt ihm? Er ist unglücklich verliebt, doch kann dies der einzige Grund für seinen Zustand sein? Für ihn ist Ennid Muldoon die Frau seines Lebens. Diese jedoch trauert um ihren im Kampfeinsatz als Pilot gefallenen Verlobten und es hält sie nichts mehr in Newport. Auf dem Dampfer „Orion“ ist Ennid, zusammen mit vielen anderen Passagieren, einige davon sehr reich, die meisten jedoch arme Auswanderer, unterwegs in ein neues Leben in Amerika. Doch noch ist sie nicht in New York angekommen, denn nach heftigen Schneestürmen treibt der Dampfer manövrierunfähig vor der Küste Schottlands. Sofort bricht Merce zu Ennids Rettung auf, doch wird er sie finden?

Thema und Genre

Dieser Roman schreibt das Leben von Merce Blackboro aus „Der eiskalte Himmel“, in den Jahren nach seiner Rückkehr von der Endurance-Expedition weiter. Wieder steht ein Schiff im Mittelpunkt, diesmal ein alter Dampfer, Schnee, Eis und die wilde See, vor allem jedoch geht es um die Sehnsüchte, Träume und Wünsche, der reichsten Passagiere ebenso wie der ärmsten Auswanderer. Ein wichtiges Thema sind Familie, Freundschaft und die Kraft der Liebe in ihren unterschiedlichen Facetten.

Charaktere

Es sind seine Figuren, deren Beweggründe, Träume, Handlungen der Autor präzise beobachtet und uns an ihren Gedanken teilhaben lässt, die uns sofort in ihren Bann ziehen. Vom Beginn der Geschichte an werden sie einfühlsam geschildert und sind uns sofort vertraut. Zunächst noch auf der Suche, verändern die Ereignisse sie alle nachhaltig, Merce Blackboro, Ennid Muldoon, Diver Robey und die zwanzig Jahre jüngere Kristina Merriweather, Divers Assistenten und Vertrauten Bryn Meeks und den leisen, mutigen Steward Jirō Shimimura.

Handlung und Schreibstil

Die Handlung spielt im Jahr 1921 und wird durch einige kurze, erklärende Rückblenden in Form von Erinnerungen ergänzt. Die einzelnen Kapitel wechseln zwischen den Ereignissen an Land und auf See und stellen in ihrer personalen Erzählform abwechselnd jeweils einen der einzelnen Hauptcharaktere in den Mittelpunkt. Geschrieben in einer eindrücklichen, poetischen und lebhaft schildernden Sprache, fasziniert diese Geschichte von der ersten bis zur letzten Seite.

Fazit

Ein poetischer, intensiver Roman über Abenteuer, Träume, Sehnsüchte, die Suche nach dem Platz im eigenen Leben und über die Liebe. Wir bangen und hoffen mit den uns sofort vertrauten Figuren, während die lebhaften, eindrücklichen Schilderungen uns Bilder von Eis, Schnee, der wilden Natur, vom Leben in Newport „wir nennen unsere Stadt Casnewydd“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aber auch von den Tagen und Nächten in den engen Kojen der Auswandererschiffe in die Gedanken malen. Ein großartiges Leseerlebnis!

Das Geburtstagsfest – Judith W. Taschler

AutorJudith W. Taschler
Verlag Droemer TB
Erscheinungsdatum 1. September 2020
FormatTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3426306468

„Als ihm bewusst wurde, dass es Tevi sein musste, da sie den Kopf etwas zur Seite neigte, stand er da wie angewurzelt. Ines sah in den Augen ihres Sohnes Triumph, in den Augen ihres Mannes bestürzte Hilflosigkeit und beides rührte sie so sehr, dass auch ihr die Tränen kamen.“ (Zitat Seite 27)

Inhalt

Kim Mey, Architekt, will seinen fünfzigsten Geburtstag nicht besonders feiern, doch seine Frau Ines sieht das anders. Ende 1978 war Kim vierzehn Jahre alt und Tevi zwölf, als sie auf abenteuerlichen Wegen als Flüchtlinge aus Kambodscha über Thailand nach Österreich kamen, wo sie von Ines‘ Mutter aufgenommen worden waren. Seit dreiundzwanzig Jahren haben sie sich nicht mehr gesehen, doch Jonas, der zwölfjährige Sohn von Kim findet Tevi und lädt sie als besonderen Überraschungsgast zum Geburtstagsfest ein. Seine beiden älteren Geschwister helfen ihm dabei – es ist das Geburtstagsgeschenk der Kinder an ihren Vater und sie sind voll Vorfreude.

Thema und Genre

Kernthema ist die Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha, Schuld und der Preis des Überlebens, Flucht, Kindheitstraumata, Liebe, Familie und ein Familiengeheimnis, das alles verändert.

Charaktere

Kim ist ein erfolgreicher Architekt. Seine Ehe mit Ines wurde mit den Jahren mühsam, da er ihre Erwartungen nicht immer erfüllen kann. Er war zwar noch ein Mal in Kambodscha, 1993, aber er schweigt über die Vergangenheit. Tevi dagegen spricht auf Vortragsreisen über ihre Kindheit in Kambodscha und erzählt auch Kims Kindern von dieser Zeit. Sie verbringt drei bis vier Monate des Jahres dort und ist ehrenamtlich tätig.

Handlung und Schreibstil

Die Geschichte wird in mehreren Handlungssträngen auf unterschiedlichen Zeitebenen erzählt.  Die Jetztzeit in Österreich betrifft die Tage um Kims Geburtstagsfest zwischen 17. und 19. Juni 2016 und wird durch Abschnitte unterbrochen, die in der Vergangenheit spielen, deren zeitliche Abfolge jedoch immer in sich chronologisch bleibt. Die Zeit in Kambodscha, Siebzigerjahre, Familie Mey, wird von einem Ich-Erzähler geschildert, Kambodscha Siebzigerjahre, Familie Chhang dagegen in einer personalen Erzählform, in deren Mittelpunkt Tevi steht. Dazwischen erfahren wir auch  mehr über die Kindheit von Ines, die gemeinsame Zeit von Kim, Tevi und Ines und über die Ehejahre von Kim und Ines.

Judith Taschler ist eine großartige Erzählerin, sicher, einfühlsam und stimmig entwickelt sie ihre Geschichte aus diesen einzelnen Erzählsträngen, bis sich langsam Vergangenheit und Gegenwart zu einem Ganzen verbinden. Doch nicht immer sind die Dinge so, wie sie scheinen.

Fazit

Ein sehr vielschichtiger, spannender Roman um das Schicksal Kambodschas unter der Herrschaft der Roten Khmer. Parallel dazu wird das Leben von zwei inzwischen längst erwachsenen Menschen erzählt, die damals als Kinder alles verloren haben und deren Geheimnisse und Entscheidungen ihr Leben geprägt haben. Eine sehr intensive, packende Geschichte mit überraschenden Wendungen, die lange nachklingt.

Terror – Dan Simmons

AutorDan Simmons
Verlag Heyne Verlag
Erscheinungsdatum 1. Dezember 2008
FormatTaschenbuch
Seiten992
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3453406131

„Wenn wir also die Schiffe aufgeben und aufs Eis wollen in der Hoffnung, noch vor Wintereinbruch entweder den Großen Sklavensee oder die Ostküste der Somerset-Insel zu erreichen, dann müssen wir schon vor dem Juni aufbrechen.“ (Zitat Seite 522)

Inhalt

Ursprünglich hätte der erfahrende Antarktisforscher Sir James Clark Ross diese Expedition leiten sollen, die den Auftrag hat, die legendäre Nordwestpassage zu durchsegeln und zu kartieren. Doch er lehnt aus persönlichen Gründen ab. Kurz bevor die Schiffe am 19. Mai 1845 in See stechen, äußert er gegenüber dem nun ernannten Leiter der Expedition, Sir John Franklin, seine Bedenken, besonders über die Größe der Expedition. Die beiden Schiffe, die  „Terror“ und die „Erebus“, seien zwar modern, aber zu schwer und hätten für das Eis zu viel Tiefgang. Tatsächlich sind sie dann bereits im Spätsommer 1845 im Eis eingeschlossen und verbringen die Wintermonate vor der Beechey-Insel. Erst im Mai 1846 kommen die beiden Schiffe frei und schon Anfang September beginnt das Eis, sich wieder zu schließen. Bei einer Besprechung der Offiziere am 3. September 1846 wird vorgeschlagen, die schwer beschädigte „Erebus“ aufzugeben, denn mit den gesamten Kohlevorräten käme die wendigere „Terror“ wesentlich rascher voran, Platz sei für beide Mannschaften und Vorräte vorhanden. Doch Sir John Franklin ist sechzig Jahre alt und es ist seine letzte Chance auf eine ruhmreiche Entdeckung. Sein Schiff, die „Erebos“, aufzugeben, kommt nicht in Frage und er erteilt den verhängnisvollen Befehl, die Reise mit beiden Schiffen fortzusetzen.  Doch nur zehn Tage später stecken beide Schiffe wieder im Eis fest und nicht nicht nur Kälte und Dunkelheit bedrohen die Menschen.

Thema und Genre

In diesem packenden historischen Roman erzählt Dan Simmons die Geschichte der legendären Franklin-Expedition und der mutigen Männer, die im arktischen Eis um das Überleben kämpften.

Charaktere

Die Personen, ihr Rang und ihre Aufgaben entsprechen den Musterungsrollen aus dem Jahr 1845. Die nach umfangreichen Recherchen in diesen Roman eingeflossenen Fakten betreffend die einzelnen Charaktere, das Leben an Bord und den Weg über das Eis, das Verhalten der Offiziere und die damals gültige strenge Hierarchie und Befehlshoheit, sind sehr realistisch geschildert.

Handlung und Schreibstil

Der Autor schildert die Handlung annähernd chronologisch, abwechselnd aus Sicht bestimmter Personen. Eine Ausnahme machen die Kapitel um Kapitän Crozier, die im Oktober 1847 beginnen, während die Ereignisse aus Sicht von Sir John Franklin und auch im Tagebuch des Schiffsarztes Dr. Goodsir, die bereits im Mai 1845 beginnen, um sich dann 1847 mit dem aktuellen Geschehen zu verknüpfen. Jedes Kapitel trägt den Namen der jeweiligen Person, die im Mittelpunkt steht, Datum und Standort. Diese spezielle Art der personalen Erzählform und der eindringlichen Sprache führen den Leser, die Leserin sofort in die Handlung und in das Eis der Arktis und machen diesen Roman zu einem ungemein lebendigen, spannenden Leseerlebnis.

Fazit

Dieser historische Roman ist eine durch dunkle Mystik ergänzte Schilderung des möglichen Schicksals der Franklin-Expedition zwischen Mai 1845 und Oktober 1848. Packend und eindrücklich erzählte 962 Seiten machen dieses Buch zum unwiderstehlichen Pageturner.

Alles außer Lyrik: Gedichte – Christian Futscher

AutorChristian Futscher
Verlag Czernin
Erscheinungsdatum 29. August 2018
FormatGebundene Ausgabe
Seiten160
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3707606478

„Manchmal gelingt mir / ein Gedicht / nach dem ich denke, / jetzt könnte ich sterben (Gedicht Glücksmomente, Seite 93)

Inhalt

Der Titel dieses neuen Gedichtbandes von Christian Futscher wird gleichsam zur Inhaltsangabe, wenn man die fehlenden zwei Worte dieser Aussage von Andreas Okopenko wenige Seiten später in der Widmung liest. Denn natürlich ist es Lyrik, die 153 Seiten dieses Buches füllt. Es sind Gedichte, über die man beim Lesen laut lacht und mehrmals noch nachkichert, so skurril sind die Schlussfolgerungen, die als letzter Satz die vorhergehenden Zeilen bestätigen, völlig umdrehen oder auf den ersten Blick einen Gedankenfetzen ohne Zusammenhang nachstellen. Dann kommt der zweite Blick und damit die Tiefe und das Nachdenken.

Themen und Sprache

Es gibt nichts im tägliche Leben, zu dem dieser Autor nicht einige Zeilen findet, große Probleme, wie die Lage Europas und kleine, wie eine Packung Tee, die aus dem Küchenkastel fällt, es geht um Liebe, Natur, die Alltagssorgen der Menschen. Zu einigen Themen gibt es mehrere Gedichte, die den vorhergehenden Gedanken aufnehmen, weiterführen, oder plötzlich ein völlig neues Bild schaffen. Manche Gedanken, wie die Liebe zum Bauchnabel und die Zitrone, die zuhört und so den Psychologen ersetzt, tauchen im Laufe des Buches immer wieder auf.

Die Sprache spielt mit uns, malt Bilder, schickt uns nach lachendem Kopfschütteln plötzlich in ernste, nachdenkliche Tiefe, um eine Seite weiter wieder fröhlich zu zwinkern und die nächsten Zeilen wie mit leichter Feder aufs Paper zu werfen.

Über Schwalben / will ich auch einmal / etwas Hübsches schreiben. / Aber nicht jetzt. (Gedicht Schwalben, Seite 112)

Fazit

Lyrik, die mich begeistert und die ich auch Leser*innen empfehle, die bei Lyrik an Schulgedichte, streng gereimt, denken und daher nie wieder welche lesen wollen. Diese hier lohnen sich, zum Reinlesen, nochmals Lesen, immer wieder neu Entdecken, versprochen.

Die Freibeuterin: Das Leben der Natalia Ginzburg – Sandra Petrignani

AutorSandra Petrignani
Verlag btb Verlag
Erscheinungsdatum 16. März 2020
FormatGebundene Ausgabe
Seiten640
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442758630

„Sie will keine Erwachsene werden, die lügt. Sie wird die Wahrheit zu ihrem Lebens- und Schreibstil erheben.“ (Zitat Seite 27)

Thema und Inhalt

Schon die Jugendjahre der 1952 geborenen Autorin und Journalistin Sandra Petrignani wurden vom legendären Einaudi-Verlag nachhaltig geprägt, dem von Giulio Einaudi und Leone Ginzburg am 15. November 1933 gegründeten Verlag, der untrennbar auch mit Natalia Ginzburg verbunden ist. In den 1980er Jahren sendet sie daher das Manuskript ihres Romans „Navigazioni di Circe“ an Natalia Ginzburg mit der Bitte um ihre Meinung. Obwohl Natalia ihr erklärt, das Buch nicht verstanden zu haben und daher auch kein Urteil darüber abgeben zu können, bleiben sie in Kontakt.

Die Tatsache, die legendäre Natalia Ginzburg persönlich gekannt zu haben, gibt der nun vorliegenden Biografie einen schwer in Worte zu fassenden Zauber und Tiefe, man spürt die Begeisterung von Sandra Petrignani für diese einzigartige Schriftstellerin und für die bedeutende Zeit der großen Namen der italienischen Nachkriegsliteratur und Ära eines neuen Verlagswesens, das von intellektuellen Persönlichkeiten geprägt war, die nicht nur Verleger und Lektoren waren, sondern auch Schriftsteller, und so mit Begeisterung und Überzeugung ihrer Tätigkeit nachgingen.

Umsetzung

In einer kurzen Einleitung erzählt die Verfasserin dieses Buches, wie sie Natalia Ginzburg kennengelernt hat. Dann beginnt die Biografie mit der Kindheit von Natalia und schildert ihr Leben und diese trotz schwierigster politischer Bedingungen sehr kreative, intensive und kulturell bedeutende Epoche der italienischen Literaturgeschichte im Zeitablauf chronologisch. Sie endet mit dem Tod von Natalia Ginzburg und einem Auszug besonders prägender Aussagen von Freunden und Weggefährten dieser einmaligen Künstlerpersönlichkeit, die sie in Zuge der Recherchen zu dieser Biografie treffen konnte und über persönliche Erinnerungen befragen. Im Anhang findet sich ein chronologischer Überblick mit allen wichtigen Informationen und Daten, eine umfangreiche Bibliografie, Namensverzeichnis und Glossar.

Sandra Petrignani geht in den Wohnungen, im Leben und in den Werken von Natalia Ginzburg buchstäblich ein und aus. In den Zitaten und Hinweisen, wo sie spätere Zusammenhänge auf reale Ereignisse und Wurzeln der Person Natalia findet, bricht sie mit der Chronologie und bewegt sich kreuz und quer durch das Werk der Schriftstellerin, vergleicht die Figuren, die später in den Erzählungen, Romanen und Theaterstücken auftreten, mit den echten Vorbildern in Natalias Leben. Einer dieser wiederkehrenden Eckpfeiler der Recherchen ist das „Lessico famigliare“ (Familienlexikon), der 1963 erschienene, autobiografische Roman von Natalia Ginzburg.

So öffnet Sandra Petrignani neugierig jeweils eine von vielen Türen, sieht sich genau um und beschreibt dann ihre Beobachtungen. Dazwischen nimmt sie sich Zeit für Episoden aus ihren Recherchen, in denen sie Neues erfährt, das ihre Arbeit unterstützt. Dies alles in einer erzählenden Sprache, wie man Natalias Leben einer aufmerksam zuhörenden Freundin schildern würde, was diese Biografie so gut und spannend zu lesen macht.

Fazit

Eine mitreißende Biografie, die lebt und atmet und die Leserschaft direkt in die Räume des Einaudi Verlages führt, wo man Natalia Ginzburgs literarischen Streitgesprächen folgt.  In den Briefen und Dokumenten findet man beim Lesen die verständnisvolle Warmherzigkeit und Lebenserfahrung einer nach außen hin ernsten Frau, von der man sich wünscht, sie persönlich kennengelernt zu haben. So aber macht man sich zumindest auf die Suche nach einigen der in der Bibliografie aufgelisteten Bücher, um damit den Besuch in der Zeit der italienischen Nachkriegsliteratur ausklingen zu lassen.

Weltengeher: Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens – David Candeago:

AutorDavid Candeago
Verlag GEOVIS Media
Erscheinungsdatum 22. November 2019
FormatTaschenbuch
Seiten720
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3964434029

„Auf ihre Fähigkeit, aus vertrackten Situationen das Beste zu machen, darauf hatte sie sich immer verlassen können. Auf ihrer Tour rund um die Welt hatte sie mehr als genug solcher Situationen gehabt und sich immer retten können.“ (Zitat Pos. 3258)

Inhalt

Sie heißt Caroline, ist Journalistin und hat vor zwei Jahren eine Auszeit für eine Weltreise genommen, auf der Suche nach echten Erfahrungen und Begegnungen. Sie hat großartige und furchtbare Orte gesehen, viele Gefahren gemeistert, doch jetzt ist sie auf der Flucht. An einem kühlen Abend im März landet sie auf dem Mönchsberg in Salzburg, wo sie mit Blick über die Stadt und den Sternenhimmel übernachten will. Plötzlich bemerkt sie, dass sie hier nicht alleine ist. Josh ist Wahlfranzose, auf dem Weg in sein Haus in Frankreich, während sie zurück nach Hamburg will. Ihre Verfolger spüren Caroline immer wieder auf, und immer wieder taucht Josh auf und hilft ihr. Gemeinsam suchen sie einen Ausweg, die Zeit drängt und Josh bereitet sie auf eine mögliche Konfrontation mit ihrer Vergangenheit vor, aber vollkommen anders, als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Doch wer ist dieser geheimnisvolle Josh, kann sie ihm trauen, hat ihre beginnende Liebe eine Chance?

Thema und Genre

Dieser Roman ist eine ungewöhnliche Mischung aus spannendem Wirtschaftsthriller und einer spirituellen Reise in unterschiedliche philosophische Denkschulen, verbunden durch eine Liebesgeschichte. Thema sind international tätige, mächtige Konzernstrukturen, Philosophie, meditative Sinnsuche, Eigenverantwortung, Mystik und Magie.

Handlung und Schreibstil

„Im Osten begannen die ersten Sterne zu funkeln und erklärten still den Abend für angebrochen.“ (Zitat Pos. 80) Mit diesem einfachen Satz hat der Autor schon auf der zweiten Seite seines Romans meine volle Aufmerksamkeit erreicht.

David Candeago nimmt uns mit auf eine gedankliche Weltreise zu besonderen Orten und bei den lebhaften, anschaulichen Beschreibungen der Natur und der damit verbundenen Stimmungen spürt man sofort, dass er selbst dort gewesen ist.

Die Handlung ist in drei übergeordnete Teile und einzelne Kapitel eingeteilt und wird in zwei Parallelsträngen geschildert. Einerseits führt sie durch die Vielfalt der Philosophie bis zu ihren antiken Wurzeln, deren Fragenstellungen auch heute noch zeitlos aktuell sind. Wir finden alchemistische Elemente, Transzendenz, Meditation, Tarot, Mystik, Magie, ungewöhnlich neu verbunden und interpretiert. Das Verhältnis von Josh und Caroline entspricht in manchen Szenen den Grundgedanken der Transaktionsanalyse. Hier lässt die Handlung während des Lesens Zeit, um kurz innezuhalten, nachzudenken. Doch im zweiten Erzählstrang, einem spannenden Wirtschaftsthriller, entwickeln die Ereignisse einen packenden Sog, der die Handlung wieder vorandrängt und von der ersten bis zur letzten Seite anhält. Die Antwort auf die Frage, wie das alles zusammenhängt, hält eine Reihe von Überraschungen bereit.

Fazit

Dieses Buch ist eine auch in der breiten Vielfalt der Literatur ungewöhnliche Mischung, die neugierig macht und Leser*innen, die sich darauf einlassen, werden nicht enttäuscht. Man verbringt die Zeit nicht nur mit einem spannenden Thriller, sondern erhält gleichzeitig Einblick in die vielschichtige Welt der philosophischen Lehren. Dies regt zum Nach- und Weiterdenken an, lädt ein, Ideen davon für die Erweiterung des eigenen Standpunktes aufzugreifen und schon deshalb wird man dieses Buch noch öfter zur Hand nehmen wollen.

Das Bücherhaus: Eine philosophische Liebesgeschichte – John Kaag

AutorJohn Kaag
Verlag btb Verlag
Erscheinungsdatum 14.Oktober 2019
FormatTaschenbuch
Seiten352
SpracheDeutsch
ISBN-13978-3442718894

„Diese frühe amerikanische Philosophie handelte von Inspiration, davon, sich aus den lähmenden und alles tötenden Wegen der Vergangenheit zu befreien.“ (Zitat Seite 72)

Inhalt

„Ist das Leben lesenswert?“ fragte William James, Mitbegründer des neuen Denkschule des philosophischen Pragmatismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Amerika. Diese Frage stellt sich auch der junge Philosophieprofessor John Kaag im Jahr 2008, als sein Leben in einer tiefen Krise steckt. Bis er in einer Bäckerei in Chococua auf Bunn Nickerson trifft. Der Dreiundneunzigjährige ist auf dem nahegelegenen Landsitz „West Wind“ von William Ernest Hocking aufgewachsen und fährt mit Kaag spontan zur Bibliothek Hockings, die sich immer noch in einem der Gebäude befindet. Kaag denkt an William James Aussage „Wer darauf verzichtet, eine sich darbietende einzige Gelegenheit zu ergreifen, verliert den Preis ebenso sicher, als wenn er den Versuch machte und keinen Erfolg hätte.“ Denn der Blick durchs Fenster hat sofort sein Interesse geweckt und die Tür ist nicht verschlossen. Schon bei diesem ersten, kurzen Stöbern in den vielen philosophischen Schätzen, Erstausgaben, Notizen, Briefen, die hier zu finden sind, nimmt diese Bibliothek John Kaag völlig gefangen und lässt ihn nicht mehr los. Es scheint, als hätten sie gegenseitig aufeinander gewartet, die großen amerikanischen Denker und ihre europäischen Vorbilder und der moderne, junge Philosoph. Zuerst schweigt er über seinen Fund, dann erzählt er seiner Kollegin Carol Hay, ebenfalls Professorin für Philosophie an der University of Massachusetts Lowell, von der Bibliothek und von da an arbeiten sie gemeinsam und kommen einander auch persönlich näher.

Thema

Dieses beeindruckende Buch beschreibt die Entdeckung und Aufarbeitung einer in Vergessenheit geratenen Privatbibliothek der bekannten amerikanischen Philosophen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Wir finden kurze Biografien, auch unter Einbeziehung des persönlichen Lebens, Beziehungen und Familie, von berühmten Denkern unterschiedlicher Richtungen und Ideen wie William James, William Ernst Hocking, Agnes Hocking, Ralph W. Emerson, Charles Sanders Peirce, Josiah Royce, Alfred North Whitehead, Friedrich W. J. Schelling, Georg W. F. Hegel und natürlich Immanuel Kant und viele weitere. Der Autor schreibt über die wichtigsten philosophischen Strömungen, Themen sind Transzendentalismus, Amerikanischer und Deutscher Idealismus, Amerikanischer Pragmatismus, das Buch ist eine erzählte Philosophiegeschichte der Vereinigten Staaten. Kernthemen für uns heutige Leser sind Selbstbestimmung, eigenständige Entscheidungen, Freiheit im Denken und Handeln, Spiritualität, Gleichberechtigung, Freundschaft, Partnerschaft und Familie, Liebe, kurz: das Leben.

Handlung und Umsetzung

Mit Bezug auf Dante und Beatrice und auf die eigene Situation in dieser Zeit teilt der Autor das Buch in drei Teile, HÖLLE, FEGEFEUER, ERLÖSUNG. Diese wiederum sind in Kapitel unterteilt.

Als John Kaag die Bibliothek das erste Mal sieht, wirkt alles verlassen, vergessen. Vom ersten Kontakt an unterstützen die Mitglieder der Familie Hocking den Autor in seinem Vorhaben und sind mit der Idee, einen erheblichen Teil der Bücher nach einer Katalogisierung und Schätzung des Bestandes als Schenkung an die O’Leary Library der University of Massachusetts zu stiften.

Kaag gibt uns Lesern hier zwar einen fundierten, sehr komplexen Einblick in das philosophische Denken, doch er erzählt uns darüber, vergleicht einzelne Passagen und wichtige Kernaussagen, bringt sie mit heutigen alltäglichen Situationen und Gedanken in Verbindung, beschreibt, aber wertet nicht, mit Humor gelingt ihm hier eine faszinierende Kombination aus wissenschaftlichem Denken und gelebtem Alltag. Dies erreicht er, indem er über das jeweilige Buch erzählt, über den Verfasser desselben, manchmal eingebettet in Beschreibungen wie: „Ich legte den Cudworth auf den Küchentresen und trollte mich ins Bett mit dem Gedanken, dass amerikanische Philosophie einen Idealismus und eine Sympathie für das menschliche Gefühl übernommen hatte, die das Leben ein wenig erträglicher machte.“ (Zitat Seite 195) Er nimmt uns Leser mit auf eine Reise, die uns rasch in ihren Bann zieht, uns nicht mehr loslässt und auch viele eigene Gedanken anregt.

Fazit

Bis zu diesem Buch wusste ich nicht, das Philosophie so packend, spannend, interessant und vor allem, so lebendig sein kann. Natürlich musste ich viele der Passagen, wenn es um die Kernaussagen geht, mehrmals lesen, überdenken, nochmals lesen, doch ich tat es mit Genuss und Vergnügen. Dieses Buch fasziniert und macht Freude, regt auch an, sich weiter mit dem Thema Philosophie zu beschäftigen. Man sollte sich dafür Zeit und Ruhe nehmen und sich überraschen lassen.

Favoriten – Erich Fried, Liebesgedichte

Dieses Buch steht seit 1995 in meinem Regal und es ist und bleibt eines meiner Lieblingsbücher. Erich Fried malt mit seiner Lyrik Bilder, seine Gedichte sind nicht durch starre Reime und Formen eingeengt, er spielt mit der Sprache, der Sprachmelodie und den Emotionen, die wir beim Lesen empfinden.

Ein Buch, das man immer wieder zur Hand nehmen wird und das ich allen empfehle, auch Menschen, die sich nicht vorstellen können, Gedichte zu lesen.

Lassen wir Erich Fried es selbst formulieren, in der letzten Strophe von „Reine und angewandte Dichtung“

Was immer man also versteht
unter einem reinen Gedicht
ein Liebesgedicht an dich
ist so etwas hoffentlich nicht.

Erich Fried

Liebesgedichte

1 2