Buchgeplauder 17
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Wer erzählt?
Einer der bestverkäuflichen, aber auch kontrovers diskutierten literarischen Trends unserer Zeit sind die sogenannten autofiktiven Romane, Autoren, besonders jedoch Autorinnen, schreiben vorwiegend über ihr tatsächliches Leben und persönliche Befindlichkeiten. Der Auslöser für diesen Trend sind meiner Meinung nach die heute omnipräsenten Social Media, alles wird von allen mit allen geteilt und so wird jeder Autor, jede Autorin bei einem neuen Roman sofort gefragt, wie viel Wahres, Autobiografisches, denn in diesem Text stecke.
Dabei wird übersehen, dass Schriftsteller in ihren Romanen Geschichten erzählen, in die zwar natürlich eigene Beobachtungen, Erinnerungen und Erfahrungen fließen, die aber ebenso erfunden sind, wie die Figuren. Ich lese ein Buch mit besonderem Vergnügen, wenn mit den Erzählperspektiven gespielt wird, wenn ich mit neuen, ungewöhnlichen Varianten überrascht werde.
Die Anregung, mir wieder einmal Zeit zu nehmen, über die Vielfalt des Erzählens nachzudenken, kam beim Lesen von
„Tod der Autorin: Ein Leben in elf Romanen“ von Birgit Rabisch, Verlag duotincta GbR, 16. Dezember 2024, ISBN-13: 978-3946086772
denn dieser originelle Roman ist für mich auch einer der unterhaltsamsten Rundgänge durch wichtige Grundlagen der Erzähltheorien, Wissen für literaturinteressierte Laien, knapp, interessant und angenehm lesbar präsentiert.
Kurz zum Inhalt: Zu ihrem siebzigsten Geburtstag hat die Autorin eine Idee, ein neues literarisches Projekt, ein festliches Dinner in einem eleganten, schönen Rahmen. Als Gäste lädt sie Figuren aus ihren elf Romanen ein, sechsundzwanzig Figuren, die sie gerne sehen will, ohne Unterscheidung in Hauptfigur oder Nebenfigur und mit einer bunt gemischten Sitzordnung. Im Laufe des langen Abends diskutiert mit ihren Figuren, erinnert sich gleichzeitig an die Zeit in ihrem Leben, als sie zu der jeweiligen Geschichte inspiriert wurde, die sie in ihren Romanen und durch ihre Romanfiguren erzählen wollte.
Nach dieser Lektüre machten sich meine Gedanken auf die Suche nach weiteren, besonderen Beispielen für Erzählformen und natürlich musste ich da an Christiane Töllner denken, die mit ihrer Familiengeschichte von Rügen in zwei Bänden tatsächlich persönliche Erlebnisse ihrer Familie mit historischen Tatsachen verbindet.
„Die Welt ist voller Sommer, Eine Familiengeschichte von Rügen“ von Christiane Töllner, EDITION POMMERN, 23. März 2020, ISBN-13: 978-3939680574
„Ein Haus und geteilte Leben: Teil zwei der Familiengeschichte von Rügen“ von Christiane Töllner, EDITION POMMERN, 10. August 2022, ISBN-13: 978-3939680710
Das Besondere an dieser Generationengeschichte der Familie Töllner, gleichzeitig auch eine Geschichte des Bädertourismus auf Rügen am Beispiel des Ortes Sellin, ist die Erzählstimme, denn hier erzählt das Haus und das ist brillant gelöst und lesenswert.
„Seit mehr als hundert Jahren bin ich mal Mittelpunkt dieser Geschichte, mal Zuschauer, mal ganz nah, dann abgeschnitten und weit entfernt. Ich habe während dieser Zeit Vieles erlebt, erfahren, gesehen und gelernt. Ich möchte sie jetzt gerne erzählen.“ (Zitat Seite 5, Teil I)
Im Jubiläumsjahr von Thomas Mann, 2025 wird der 150. Geburtstag des berühmten deutschen Schriftstellers gefeiert, denke ich bei besonderen Erzählformen auch an
„Doktor Faustus: Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“ von Thomas Mann, FISCHER Taschenbuch, 5. April 2012, ISBN-13: 978-3596904037
Wie schon aus dem Titel zu ersehen, schreibt hier ein fiktiver Ich-Erzähler die ebenfalls fiktive Romanbiografie eines Freundes.
Darum geht es: Dr. phil. Serenus Zeitblom ist sechzig Jahre alt, als er beginnt, die Lebensgeschichte seines langjährigen Freundes Adrian Leverkühn niederzuschreiben. Der innovative Komponist ist vor drei Jahren verstorben und hat seinem Freund Serenus alle persönlichen Aufzeichnungen und Unterlagen hinterlassen. Auf Grund dieser Aufzeichnungen schildert nun der Ich-Erzähler Serenus Zeitblom die Kindheit, Jugend, gemeinsame Studienzeit, aber auch die weiteren Lebenswege, die unterschiedlich verlaufen, sich jedoch immer wieder kreuzen.
Real ist an diesem Roman der geschichtliche Hintergrund, diese Version des Faust-Stoffes umfasst die Jahre 1884 bis 1945 und setzt sich mit dem Nationalsozialismus in Deutschland auseinander und mit den Konflikten zwischen Künstlerleben und Politik.
Diese Beispiele zeigen, wie vielfältig Schriftsteller ihre Figuren und die damit verbundenen Erzählperspektiven ausformen können, egal, ob nur eine, oder mehrere Figuren, oder ein Objekt die Geschichte erzählt, es ist die Erzählstimme, die wir beim Lesen in unseren Gedanken hören und die uns im besten Fall in ihren Bann und mitten in die Handlung zieht.